2.3.3. Methoden-Pluralismus auf der Basis von Bereichsverschiedenheiten

Inhaltsverzeichnis

2.3.3.1. Epistemologische Voraussetzung: Unterschiedliche Weisen der Existenzerfahrung
2.3.3.2. Voneinander relativ unabhängige Seinsbereiche
2.3.3.3. Statt Letztbegründung: Gegenseitige Stützung relativer Wahrheiten
2.3.3.4. Entsprechungen für Wahrheitssuche in anderen Seinsbereichen?
2.3.3.5. Ziele und Korrektive jenseits der Falsifizierung

2.3.3.1. Epistemologische Voraussetzung: Unterschiedliche Weisen der Existenzerfahrung

Relativ unabhängig von einer ontologischen Unterscheidung verschiedener Bereiche des Seins, die ich später ausführlicher diskutieren werde, gibt es unterschiedliche Weisen, wie Menschen solches und anderes Sein als existent erfahren können. Das merken wir schon, wenn wir fragen, was das eigentlich heißt, wenn wir über etwas sagen: "es existiert". In der deutschen Umgangssprache kennen wir die verbale Fügung "es gibt ..." (engl. "there is ..."), die sich vielleicht gerade wegen ihrer Unbestimmtheit dazu eignet, das Sinnfeld abzustecken, in dem auf unterschiedliche Weise von "Existenz" gesprochen wird. Ich gehe aus von ein paar Beispielen des umgangssprachlichen Gebrauchs der Wendung "es gibt". Unsere Sprache ist dabei sehr großzügig: Wenn beispielsweise jemand sagt, "zum Abendessen gibt es Eintopf", dann kündigt er damit an, dass in wenigen Stunden ein Gericht serviert wird, das ggf. vorher erst noch zubereitet werden muss, das es also bis zur Fertigstellung in solcher Form noch nicht gab. Mit "es gibt" kann man offenbar auch ein nach Möglichkeit einzuhaltendes Existenzversprechen und eine darauf bezogene Existenzerwartung aussagen. Umgekehrt kann einem Sein, das gerade als ganz real erfahren wurde, dennoch die Existenz abgesprochen werden, so mit dem Ausruf: "Das gibt's doch gar nicht!", was eigentlich zum Ausdruck bringt, dass einer völlig davon überrascht worden ist, dass ihm das passieren konnte oder dass er dem begegnen würde. Schließlich erlaubt es unsere Sprache sogar, einem Nichtvorhandenen ein positives Sein zuzusprechen, indem etwa der Lehrer seinen Schülern ankündigt: "Es gibt heute hitzefrei!", wenn nämlich wegen der inzwischen über einen Grenzwert gestiegenen Temperatur der eigentlich vorgesehene Unterricht ausfallen wird. In diesem Falle, wenn es "hitzefrei" gibt, scheint es etwas, was es an diesem Tag zu dieser Stunde ansonsten immer gab, nämlich den Unterricht, erfreulicherweise ausnahmsweise gerade nicht zu geben.

Ich will hier und jetzt nicht noch weitere Beispiele aus dem Alltagsleben durchspielen, sondern zu einer etwas differenzierteren Analyse übergehen, und möchte vorweg nur noch betonen, dass wir offenbar verschiedene Arten vorfinden können, wie es für uns etwas „gibt“, ausgedrückt in den verschiedenen Weisen, von Existenz (oder etwas enger: von „Realität“) zu sprechen. Ich unterscheide dabei - in einer noch etwas unsystematischen Reihenfolge - die folgenden Arten von Existenzaussagen:

  1. Die naive Existenzfeststellung: "Uns Diskussionsteilnehmer hier in diesem Saal gibt es doch - oder etwa nicht?" Und es gibt überhaupt Menschen! Ich denke, dass wir uns darüber einig sind.

  2. Die Existenzbehauptung: Da sagt einer "Doch, wirklich, es gibt Gott! Gott existiert!" So sagen es die Christen den Atheisten.

  3. Etwas abgemildert ist die Existenzeinräumung. So antwortet ein Vater seinem kleinen Kind: "Ich glaube schon, dass es Osterhasen gibt. Am besten gehen wir gleich in den Garten und suchen die Ostereier!" Er sollte natürlich vorher einige Eier dort versteckt haben, damit wenigstens die Ostereier, wenn auch nicht der Osterhase, "wirklich" existent werden. So kann auch ein Kulturanthropologe seinen Gewährsleuten einer Stammeskultur einräumen: "Oh ja, es gibt solche Geister, erzähl mir noch mehr davon!", und in beiden Fällen kommt die Existenzeinräumung der Existenzerfahrung oder -erwartung anderer Menschen einen Schritt entgegen.

  4. Die hypothetische Existenzannahme. Ein Kernphysiker argumentiert: "Gehen wir mal davon aus, dass es Higgs-Teilchen gibt. Dann müssten" (nach Aufbau einer komplizierten, Milliarden verschlingenden Apparatur) "diese und jene Messergebnisse festzustellen sein".

  5. Die Existenzsetzung (wie z.B. in der Mathematik und auch in den Prämissen der Logik): "Es seien gegeben die definierten Zeichen (oder Variablen) x und y und die durch Operatoren bestimmte Verknüpfung (oder Relation) zwischen ihnen. Und wenn dabei i ungleich j, bei Geltung des N-Satzes und unter Beachtung von Z, dann folgt daraus (was zu beweisen war), nämlich: 2 x 2 = 4! Mathematische Fachleute würden dies vielleicht etwas anders formulieren, aber von ähnlichen Setzungen würden sie wohl doch ausgehen!

  6. Eher zukunftsbezogen ist die Existenzforderung: Unabhängig davon, ob es hier und jetzt schon Recht gibt, soll es Recht geben, insbesondere Menschenrechte, und es sollte Gewaltenteilung auch dort geben, wo bisher ein totalitäres System herrschte. Und sogar Atheisten könnten meinen: selbst wenn es keine Götter gäbe, sollte man vielleicht welche erfinden, manche Menschen brauchen so etwas!

  7. Im Gegensatz zur Existenzsetzung steht die Existenzverwerfung: "Kriege mit ABC-Massenvernichtungswaffen darf es nun wirklich nicht mehr geben!"

  8. Und dem steht wiederum die Existenzverwirklichung gegenüber, die Konstruktion und Herstellung neuen Seins, z.B.: "Wir arbeiten daran, dass es eine bundesweite Biotopvernetzung gibt!"

  9. Und schließlich gibt es, aber das hätte ich schon viel früher erwähnen sollen, die subjektive Existenzerfahrung. Es gibt Wolkenbilder, Nachtträume und Tagesphantasien, es gibt attraktive Ziele und beängstigende Bedrohungen, es gibt Gefühle wie Wut und Angst, Hunger und Durst, sexuelle Sinnlichkeit und liebevolle Zärtlichkeit. Dabei bezweifle ich überhaupt nicht, dass diese Gefühle etwas mit unserer Physiologie zu tun haben, z.B. mit meinem Hormon- oder Adrenalin-Spiegel. Aber wen außer einem Physiologen oder einem Arzt interessiert das eigentlich? Mich selber interessiert meine Physiologie auch im ruhigen Zustand kaum, praktisch gar nicht, und erst recht nicht, wenn ich gerade von einem starken Gefühl bewegt bin. Aber dass es etwa meinen Zorn dann wirklich gibt, das spüre ich selbst, und das kann auch mein Streitpartner zu spüren bekommen.

  10. Zuletzt noch das Deuten und damit Existentmachen von Sinn: Es gibt Sinn, und es soll vernünftigen Sinn geben, an dem wir uns selbst und mit dem wir andere orientieren können!

Die Konsequenz? Ich meine: alles was es auf solch unterschiedliche Weisen gibt - wenn und weil es dies nun mal gibt! - das sollte zunächst einmal als Gegebenheit hingenommen werden. Dann kann man sich damit immer noch kritisch auseinandersetzen, nämlich ob es das geben soll, so wie es ist, oder ob es anders werden soll, oder ob es ganz verworfen werden muss.