2.3.3.2. Voneinander relativ unabhängige Seinsbereiche

Nach diesen Überlegungen über die verschiedenen Weisen, wie wir über das, was es alles gibt, zu sprechen pflegen, wovon also schon die ontologische Problematik berührt wird, komme ich nun, in einer etwas veränderten, aber immer noch ontologischen Problemstellung zu der Frage, ob sich verschiedene Seinsbereiche sinnvoll voneinander abgrenzen lassen. Bei näherer Überlegung erweist sich, dass diese Frage eine etwas andere ist als die nach den Existenzaussagen bzw. Seinsweisen, obwohl es sicher Überschneidungen beider Fragerichtungen gibt. Aber die Seinsweisen, also die Arten, wie es etwas für uns geben kann, können sehr vielfältig sein, erschließbar im immer neuen und anderen Zugang zu all und jedem, was unserer Erfahrung als Gegebenheit erscheint. Dagegen haben die Traditionen der wissenschaftlichen Erforschung und praktischen Nutzung solcher Vielfalt doch zur Konstituierung von einigermaßen geschlossenen Gegenstands- und Methodenbereichen geführt, die sogar in früheren Fakultäten oder heutigen Fachbereichen institutionalisiert worden sind. So ist etwa das Reich des Lebendigen, wissenschaftlich erforscht in der Biologie, ein Bereich innerhalb der auch physikalisch und chemisch erklärbaren materiellen Wirklichkeit. In dieser wiederum sind Schwerewirkungen und Mineralien und Pflanzen und Tiere und auch wir Menschen erkennbar als etwas, das man sinnvoll unterscheiden und mit je angemessenen Methoden untersuchen kann. Trotz solcher Abgrenzungen bestehen zwischen solchen Bereichen natürlich ausgedehnte Berührungsflächen und oder wenigstens Brücken, und in den Zwischenbereichen etablieren sich immer wieder neue Wissenschaften, die Nachkommen sehr unterschiedlicher Eltern sein können und janusköpfig nach beiden oder sogar mehreren Seiten blicken. Wer will schon behaupten, eindeutig zwischen Psychophysiologie und Physiologischer Psychologie unterscheiden zu können!

Hans Albert selbst handelt die Frage nach Seinsbereichen meines Wissens nicht systematisch ab, aber er befasst sich im jeweils gegebenen Kontext mal mit diesem, mal mit jenem Seinsbereich. In der Frage nach der Existenz von relativ unabhängigen Seinsbereichen schließt Albert an Überlegungen von Popper an, der auf der Grundlage des Realismus seine Lehre von den drei Welten entwickelt hat, nämlich 1.) dem Bereich der physikalischen Gegenstände oder Zustände, dann 2.) dem der Bewusstseinszustände und ggf. auch Verhaltensdispositionen, und 3.) dem der "objektiven" Gedankeninhalte. Diese Lehre, meint Albert (Kritischer Rationalismus, S. 3), sei umstritten, und zwar auch bei seinen Anhängern, wahrscheinlich aus recht unterschiedlichen Gründen. Mir selber scheint sie noch etwas zu kurz zu greifen: 3 Welten sind mir einfach noch zu wenig, mit 7 Welten wäre ich eher zufrieden! Etwas anders unterscheidet Max Scheler: er teilt nach Albert (Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft, S. 33) die gesamte Erkenntnis ein in 1.) das "Herrschafts- oder Leistungswissen" der Naturwissenschaft, 2.) das "Bildungswissen" der auf das Wesen der Dinge zielenden Disziplinen und 3.) das "Heils- oder Erlösungswissen" des religiösen Denkens. Da frage ich mich: Ob wohl die Dreizahl dieser Einteilungen noch etwas mit der Heiligen Dreifaltigkeit zu tun hat, vielleicht über die 3er-Systematik der Hegelschen trialektischen Philosophie vermittelt?

Ich habe mich bemüht, in einigen Albertschen Schriften nach Argumentationen zu suchen, die in einer im Ansatz pluralistischen Weise sich mit Bereichen jenseits der Realwissenschaften und der auf diese bezogenen Erkenntnistheorie befassen. Zu dieser Thematik habe ich in den von mir durchgearbeiteten Texten nicht allzu viel gefunden, wohl ganz einfach deshalb, weil Albert sich für diese meine Fragestellung nicht primär, sondern nur am Rande interessiert, sich aber gelegentlich doch auch damit beschäftigt. So befasst er sich in ganz verschiedenen Kontexten mit Seinsbereichen außerhalb der materiell-energetischen Realität und mit methodischen Zugängen außerhalb des zu ihrer Erschließung geeigneten (natur)wissenschaftlichen Erkennens. Er tut dies insbesondere dann, wenn diese Seinsbereiche und Zugänge von den kritisch-rationalen Erkenntnisbemühungen tangiert werden oder umgekehrt diese tangieren könnten. Die Bereiche, die er in solchen Fragestellungen z.T. mehrfach erwähnt hat, sind im Einzelnen:

Solche Seinsbereiche werden von Albert auch einmal zusammenfassend aufgezählt, nämlich in seinem "Traktat über kritische Vernunft", und zwar im Zusammenhang mit dem "Überbrückungsproblem". Hier nennt er als Beispiele für "mehr oder weniger stark voneinander isolierte Sphären mit Autonomieansprüchen und Abschirmungstendenzen" die folgenden 9 Bereiche: "Wissenschaft, Recht, Moral und Religion, Kunst und Literatur, Technik, Wirtschaft und Politik ..." In dieser Aufzählung fehlen die eben genannten Bereiche der Metaphysik und der Hermeneutik, der Logik und der Mathematik, vielleicht weil diese gemeinhin schon selber als philosophisch angesehen oder vereinnahmt werden und noch enger mit den Methoden des Erkennens zu tun haben. Die von Albert kritisierten Autonomieansprüche und Abschirmungstendenzen sehe ich auch, aber ich denke, dass man diese ja nicht zu akzeptieren oder gar zu fördern braucht.

Stattdessen kann man die nur relativ voneinander unabhängigen Bereiche über "Brückenprinzipien" miteinander in Beziehung bringen, und dafür bringt Albert selber ein einleuchtendes Beispiel: In seinem Buch "Kritischer Rationalismus" geht er zunächst vom sog. Humeschen Gesetz aus. Es besagt, dass sich aus Sachaussagen keine Wertaussagen logisch ableiten lassen. Vom Sein könne also nicht auf ein Sollen geschlossen werden (S. 44). Die in dieser Weise strenge, ja absolute Abgrenzung zwischen Seinsfeststellungen und Seinsforderungen, zwischen wertfreier Erkenntnis und sozialer Praxis, kann aber nach Albert relativiert werden durch die Anwendung von Brücken-Prinzipien, wie z.B. das Prinzip "Sollen impliziert Können". Das Akzeptieren dieser Aussage könnte Menschen davor bewahren, mit Forderungen konfrontiert und überfordert zu werden, denen sie auch bei gutem Willen gar nicht nachkommen können. Und mit solcher Überbrückung von Bereichsgrenzen könnte nach Albert die scharfe Trennung von Problembereichen, die Immunisierung bestimmter Problemlösungen und ihre Abschirmung gegen relevante Kritik überwunden werden (Traktat über kritische Vernunft, S. X). Albert spricht sogar von der "Kluft" zwischen Sein und Sollen, die es zu überbrücken gilt. Statt aber "Brücken" über "Klüfte" zu bauen, könnten wir, etwas weniger dramatisch und dafür abstrakter formuliert, nach den Relationen zwischen den voneinander relativ unabhängigen Bereichen eines pluralen Systems fragen. Darauf komme ich noch zurück.

Ich möchte nun darangehen, diesen Albertschen Ansatz aufzugreifen und mit eigenen Überlegungen noch etwas zu erweitern. In eher nachträglicher Anlehnung an seine Argumente gebe ich jetzt einen eigenen Versuch wieder, 7 bis 9 solcher Seinsbereiche hypothetisch zu unterscheiden. Ich werde sie zunächst nur benennen und kurz charakterisieren, bevor ich sie als ontologische Voraussetzung für die pluralistische Klärung erkenntnistheoretischer Probleme nutze. Ich zähle also in einer von mir gewählten, aber prinzipiell veränderbaren Anordnung die folgenden Seinsbereiche auf, wobei ich gleichzeitig jeweils die Aspekte oder Zugänge betone, die bei ihnen eine vergleichsweise herausgehobene Rolle spielen:

  1. Die materiellen Objekte und Kräfte (Energien), die naturwissenschaftlich erforscht werden können und deren Verhalten durch möglichst wahre, aber im Prinzip falsifizierbare Theorien erklärt und in Grenzen vorausgesagt werden kann.

  2. Das je individuelle Selbst-Erleben und das von daher motivierte Handeln eines Menschen, zugänglich über eine offene und redliche Selbstvergewisserung, die auch Selbstdeutungen miteinschließen und durch mehr oder weniger zutreffende Fremddeutungen ergänzt werden kann. Das Selbst-Erleben kann mit Methoden der Introspektion wissenschaftlich analysiert werden.

  3. Die Technik in allen ihren Anwendungsbereichen, deren Ziel vor allem das immer bessere Funktionieren von Geräten und Verfahren ist und damit der maximierte Nutzen bei minimierten Kosten.

  4. Die Kunst in Literatur, Musik, malerischer und plastischer Gestaltung, orientiert am Faszinierenden des Schönen und des Erschreckend-Abstoßenden.

  5. Die menschlichen Gesellungen, ursprünglich konstituiert zur gemeinsamen Bewältigung von Mangellagen, aber schließlich mit einer Eigentendenz zur Kumulation von Macht und machtstützenden Ressourcen in wirtschaftlichen und politischen Monopolen.

  6. Moral und Recht, die z.T. von sozial tradierten Selbstverständlichkeiten bestimmt waren, aber auch durch gesetzte Normen vereindeutigt und rechtlich handhabbar gemacht werden konnten. In diesem Bereich geht es primär um Dürfen und Sollen, um Rechte und Pflichten, und um Verfahrensweisen zur gerechten Güterabwägung.

  7. Die Sprache und die von ihr ableitbare Logik und Mathematik, sowie andere Zeichensysteme, in denen es primär um Verständlichkeit, darauf aufbauend auch um Stringenz, Schlüssigkeit und Richtigkeit von Aussagen geht. Von diesen sieben Bereichen durch einen Totalitätsanspruch oder wenigstens Ganzheitsbezug etwas abgehoben, gibt es:

  8. Die Religionen und ihre Geister, Götter und Propheten, von Menschen in ihren Nöten als hilfreich erhofft und als für ihre Selbstverwirklichung bedrohlich gefürchtet.

  9. Die Philosophien in ihrem Bezug zum Ganzen des Seins in all seinen Bereichen, in ihrer "Liebe zur Wahrheit" in all ihren Facetten, auch in solchen, bei denen keine strenge Falsifizierung als möglich erscheint und diese auch gar nicht gesucht wird.

Ich will diese neun Bereiche (sieben spezifische, zwei umfassende) keineswegs streng voneinander abgrenzen oder gar (zur Selbstimmunisierung!) voneinander isolieren, sondern sehe sie eher als identifizierbare Schwerpunkte, quasi als Punktehäufungen in einem mehrdimensionalen Raum, mit breiten Berührungsflächen zwischen ihnen, ja mit ausgedehnten Überschneidungen und starken Wechselwirkungen. Weit davon entfernt, distinkte Objekte zu sein, sind diese Bereiche eher unterschiedliche Hinsichten auf ein Ganzes, das allerdings nicht mythisch vorauszusetzen ist, sondern sich aus menschlichen Denkanstrengungen ergeben kann. Und die Beziehungen dieser Bereiche untereinander sind nicht relativierend, relativistisch oder reduktionistisch gemeint, sondern sind - etwas tautologisch! - als bloß relational zu verstehen, eben als Beziehungen.

Diese ontologischen Vorüberlegungen, die auf eine Pluralität von Seinsweisen und von Seinsbereichen hinführten, haben nun einen engen Bezug zu einer zwar immer noch kritisch-rationalistischen, aber doch pluralistischen Erkenntnistheorie. Ich gehe nämlich davon aus, dass diese als metaphysischen Hintergrund vielleicht eine pluralistische Ontologie der unterscheidbaren Seinsweisen und Seinsbereiche benötigt, die genügend Raum bietet sowohl für im Albertschen Sinne realwissenschaftlich erfahrbare Wirklichkeit, aber auch für andere Seinsarten, von denen keine allein existierend und alleingültig sein sollte und keine alleinbestimmend das letzte Wort haben dürfte!