2.3.3.3. Statt Letztbegründung: Gegenseitige Stützung relativer Wahrheiten

Wenn demnach in der naturwissenschaftlichen Forschung und in anderen Arten, Erkenntnis zu gewinnen, das erkenntnisfördernde Zusammenwirken mehrerer verschiedener, relativ voneinander unabhängiger Erfahrungsarten, Richtigkeiten, Wahrheiten und Handlungsorientierungen zum Tragen kommt, dann könnte es sinnvoll sein, auf einen Vorschlag zur Lösung und Aufhebung der durch den Letztbegründungs-Anspruch aufgekommenen Problematik zurückzukommen, den Hans Albert in einem Anhang zum "Traktat über kritische Vernunft" ausführlich referiert und kurz diskutiert hat. Dieser Abschnitt (ab S. 257) hat den Titel: "Georg Simmel und das Begründungsproblem. Ein Versuch der Überwindung des Münchhausen-Trilemmas". Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 - 1918) hat eine interessante relationale Lösung des Erkenntnisproblems vorgeschlagen, die ich nach dem wiedergeben werde, was Hans Albert darüber referiert hat. Simmel argumentiert so: Wenn die Wahrheit irgendeines Satzes nur auf Grund von Kriterien erkannt werden kann, so könnten diese ihrerseits ihre Legitimation nur aus noch höher gelegenen (ich würde bescheidener sagen: aus weiteren anderen) Kriterien ziehen, so dass eine Reihe von Erkenntnissen übereinander gebaut (ich sage lieber: nach- und nebeneinander angeordnet) ist, von denen jede nur unter der Bedingung einer anderen gültig ist (H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 259). Simmel schildert hier zwar einen Kriterien-Regress, aber er vermeidet den etwa von Dingler vorgeschlagenen dogmatischen Abschluss des Begründungsverfahrens, und auch der Versuch, das bisher letzte Prinzip doch noch weiter herzuleiten, kann nach Simmel niemals an seinem Ende anlangen (S. 260). Um das Denken nicht dogmatisch abzuschließen, müssten wir jeden zuletzt erreichten Punkt so behandeln, als ob er der vorletzte wäre. Denn welchen Satz wir auch als letztbegründenden aufgefunden hätten, die Möglichkeit, auch ihn als bloß relativ und durch einen höheren (besser: weiteren, anderen) bedingt zu erkennen, bleibe bestehen.

Simmel betont die faktische Unendbarkeit jedes Begründungsregresses, wenn er die ungeheure Anzahl der Voraussetzungen bedenkt, von denen jede inhaltlich bestimmte Erkenntnis abhängig ist. Wenn die Kette der Argumentation nur hinreichend lang sei, könne sich ihr Zurückkehren zu ihrem Ausgangspunkt dem Bewusstsein entziehen. Es sei dennoch naheliegend, eine zirkuläre Gegenseitigkeit des Sich-Beweisens für die Grundform des Erkennens zu halten. Das Erkennen sei als ein Prozess anzusehen, dessen Elemente einander gegenseitig bestimmen, und dann sei die Wahrheit ein Verhältnisbegriff. Bestimmte Wahrheiten könne man nur im Verhältnis zu anderen feststellen. Die unserem Geiste eigene Notwendigkeit, die Wahrheit durch Beweise zu erkennen, biegt nach Simmel diese Beweisführung zu einem Kreis um, in dem ein Satz nur im Verhältnis zu einem anderen, dieser andere aber schließlich nur im Verhältnis zu einem ersten oder zu einem weiteren wahr ist (S. 262). Es geht darum, dass man stets die Möglichkeit des weiteren Rückgangs und schließlich eines zirkulär unendlichen Regresses vor Augen hat. Ich kommentiere: Soo unendlich muss der Regress oder besser Rekurs gar nicht sein, es genügen vielleicht einige approximierende Durchläufe in einer immerhin vielgliedrigen und gar nicht bloß zirkulären, sondern eher komplex relationalen Beweisführung!

Nach diesem Vorschlag von Simmel wird deutlicher, dass der in seiner Suche nach Letztbegründung anscheinend unendliche Regress gar nicht als eine etwa "nach oben" gerichtete Gerade verstanden werden muss, die ins Unendliche des göttlichen Willens zielt oder "nach unten" ins Unendliche der Vergangenheit zurückführt. Sie muss auch nicht, etwa wegen ihrer Unendbarkeit, willkürlich abgebrochen und dann etwa gar in der menschlichen Intentionalität (Dingler) begründet werden. Vielmehr kann die Folge der Begründungsansätze schon im Nahbereich des Denkens in eine Gegenseitigkeit von einander fundierenden Relationen einmünden, was bei Georg Simmel in seiner Behandlung des Problems immerhin angedeutet ist und auf der Basis seiner Überlegungen und unter Bezug auf eine plural-relationale Ontologie jedenfalls als theoretisch möglich scheint. Ich selber halte es für möglich und sogar dringlich, die hier vorgetragenen Ansätze zu einer in sich konsistenten Theorie auszubauen.

Kann eine solche Theorie, die sich auf Überlegungen von Popper und vor allem Albert stützt und den von Albert referierten Vorschlag von Simmel mit aufnimmt, kann sie gesichert, etwa gar experimentell überprüft und schließlich falsifiziert werden? Anscheinend nicht. Dafür gibt es keine Experimente, noch nicht mal eine strenge Operationaliserung der Begriffe über Verfahrensweisen und Messmethoden. Falls diese Theorie sich bewähren sollte, dann eher auf andere Weise. Kann sie verworfen werden? Aber sicher! Doch sie könnte auch akzeptiert werden, aber nicht aus blindem Glauben, sondern aus, wie ich hoffe, vertiefter Einsicht in komplexe Zusammenhänge, allerdings auch dann höchstens vorläufig. Es könnte nämlich eine bessere, umfassendere, detailliertere, stringentere, elegantere und besser in Praxis umsetzbare Theorie ausgearbeitet werden, was ich übrigens gut fände! Aber noch überzeugt mich, also wenigstens mich selbst, mein plural-relationaler Ansatz als zumindest heuristisch nützlich, möglicherweise sogar als praktisch hilfreich, jedenfalls als eine weiterhin kritisierbare, aber dennoch verbesserungs- und ausbaufähige Theorie, die auf dem vielleicht doch richtigen Weg ist zu einer gut begründbaren Akzeptanz.