In einem ersten Überprüfungsversuch könnte ich nun noch der Frage nachgehen, ob es auch in den anderen Seinsbereichen Entsprechungen für das gibt, was Popper und Albert im Bereich der realwissenschaftlichen Erkenntnis als "Fallibilismus" bzw. "Falsifizierung" bezeichnet haben, als die vom kritischen Rationalismus so betonte Korrektur oder den Ersatz der Vorgängertheorie durch eine empirisch besser begründete, bei Überprüfungen von Voraussagen sich besser bewährende und insofern wahrere Theorie. Eine daran orientierte Methodik ist ja für das naturwissenschaftliche Erkennen zweifellos das Vorgehen der Wahl und wird es auch weiterhin bleiben, denn für die Wissenschaften ist die Suche nach der Wahrheit zentral. Wie steht es damit in anderen Seinsbereichen?
Die Erkenntnistheorie als ein Teilbereich der Philosophie konfrontiert auch all die anderen Seinsbereiche mit der Frage nach der Wahrheit und mit dem Anspruch auf Sinn. Überall dort kann es zumindest auch - wenngleich manchmal nur sekundär oder am Rande - um Wahrheit gehen. In ihrem Bezug zum Ganzen des Seins, allen Seins, die verschiedenen Bereiche übergreifend, geht es jedenfalls der Philosophie immer auch um die Liebe zur Wahrheit, von der sie ihren Namen hat. Philosophie kann sich aber nicht auf erkenntnistheoretische Dienstleistungen für die Naturwissenschaften beschränken. Sie befasst sich auch mit den Eigenwahrheiten, Eigenrichtigkeiten, ja sogar mit den Offenbarungen, Gestaltungen und Normen der anderen Bereiche, zwar immer auch im Hinblick auf Wahrheit, aber nicht allein auf diese Hinsicht begrenzt.
Im Bereich der Sprache, der Zeichen und Symbole nimmt die "Richtigkeit" und Korrektheit der Ableitung den zentralen Platz ein, auf dem in den Realwissenschaften die Wahrheit steht. Widerspruchsfrei können aber auch Aussagen sein, die von (realitätsbezogen) unwahren Prämissen abgeleitet wurden, und der Unterschied von Behauptung und ihrer Negation gilt auch für bloß Gedachtes, dem keine äußere (objektive) Realität entspricht. Aber die logische Richtigkeit ist in diesem Bereich kein Alleinherrscher, sondern kann ihr Korrektiv finden in der gewollten Paradoxie, in der Übertreibung und Aufhebung des Logischen im Witz, im Recht auf blühenden Unsinn und provozierenden Gegensinn.
Andererseits spielt die Wahrheit auch im Bereich des Selbst-Erlebens eine wichtige Rolle: Die Ehrlichkeit zu mir selbst, die Redlichkeit, sich im Erinnern an die eigene Geschichte nichts vorzumachen (durch die sich der Philosoph Montaigne so ausgezeichnet hatte), das Wahrnehmen und Wahrhaben der eigenen Gefühle und Antriebe, die Offenheit im Spüren innerseelischer Konflikte und im Umgang damit, die in der Psychoanalyse riskierte Ehrlichkeit, zu registrieren, was einem in den Sinn kommt, und dies sogar in Gegenwart des Analytikers auszusprechen, all das sind Beispiele für die Rolle der Redlichkeit im Äußern des Selbsterlebten. Das entscheidende Korrektiv zur Vermeidung solipsistischer Selbsteinengung oder auch Selbstinflation ist aber die Respektierung des Eigenerlebens jedes anderen Menschen und die darauf begründete Möglichkeit, mit ihm eine von Verständnis getragene Beziehung aufzunehmen, andererseits aber auch die Bereitschaft, in intellektueller Redlichkeit die eigenen Ansichten und auch deren Revision öffentlich zu vertreten, ohne ängstlich um "political correctness" bemüht zu sein.
In der Kunst bewirkt die in den Grenzen von Recht und Gesetz dennoch bestehende Freiheit der künstlerischen Äußerung die immer wieder andere Möglichkeit für Künstler, die Menschen neu zu faszinieren, die von bisher vertrauter Kunst nicht mehr fasziniert werden können und sie nicht mehr rezipieren mögen. Man kann allerdings auch vom immer Neuen (d.h. vom aktuell Angebotenen) genug haben und dann ganz alte Kunst für sich selbst neu entdecken.
Im wirtschaftlich-politischen Bereich sichert die Kontrolle von Monopolen und hegemonialen Mächten die Möglichkeit von förderlicher Konkurrenz und technischer Innovation, die vor ausuferndem Konflikt bis zur Kriegsführung bewahrt wird durch Institutionen der politischen und auch wirtschaftlichen Gewaltenteilung und gegenseitigen Kontrolle. Das geht über die bloße Falsifizierung einer Aussage deutlich hinaus, erfordert nämlich auch den Einsatz von wirkungsvollen Mitteln und ggf. den Einsatz von Macht. Diese darf aber nicht ein militärisch-polizeiliches Monopol des Staates bleiben, sondern bedarf selber einer zivilen und rechtlichen Kontrolle und Zähmung.
Auch im Bereich der Normen und Gesetze kann das Streben nach Wahrheit wichtig werden, so im Versuch, sich als Bürger und als Richter an Normen zu halten und sie so zu verstehen und zu realisieren wie sie gemeint sind, in der Verpflichtung, im Gerichtsverfahren als Zeuge die Wahrheit zu sagen und als Ermittler die Indizien für sich selbst sprechen zu lassen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Darüber hinaus hat sich in diesem Bereich so etwas wie Gewaltenteilung als Korrektiv bewährt: so gehört zum modernen Rechtswesen die weitgehende Unabhängigkeit der einander kontrollierenden Richter, Staatsanwälte und der die Angeklagten oder Klienten vertretenden Rechtsanwälte, sowie auch die Möglichkeit der Berufung und Revision einer richterlichen Entscheidung durch Anrufung einer höheren Instanz. Und ganz alltäglich: auch Kinder und Schüler können Hilfen benötigen, um ihre Rechte gegen überzogene Ansprüche von Autoritäten zu verteidigen.
Im Bereich der Technik ist schon seit langem, aber in manchen Fällen immer noch nicht genügend, die Notwendigkeit einer Kontrolle bis zur ggf. entschiedenen Korrektur erkannt und z.T. institutionell umgesetzt worden. Der fast unbegrenzt erscheinende und auf Nutzen zielende technische Fortschritt bedarf einer am Menschen orientierten Bändigung, denn nicht alles technisch Mögliche sollte realisiert werden. Aber: die Kontrolleure sollten keine Bürokraten, sondern sollten selber gute Techniker sein, um mögliche Schädlichkeiten besser einschätzen zu können und das Erreichen und die Erhaltung des eigentlich angezielten Nutzens zu sichern.
Fragen wir weiter: Gibt es eine Korrektur des Missbrauchs von Religion? Natürlich dienen dem schon unsere Gesetze (soweit sie nicht in vergangenen Zeiten sogar zur Rechtfertigung des Missbrauchs der Religion geschaffen worden sind und bisher noch nicht korrigiert werden konnten!). Vielleicht muss das Korrektiv tiefer an der Wurzel ansetzen: zu wünschen wäre ein Recht auf Polytheismus, ein Recht des Kindes darauf, nicht religiös erzogen zu werden, jedenfalls nicht von Lehrern, und ein Recht von Erwachsenen, nicht glauben zu müssen, was der herrschende Glaube in ihrem Land ist. Dieses Recht ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht in islamischen Ländern. Wünschenswert wäre daher eine Möglichkeit der Verteidigung der eigenen weltanschaulichen Orientierung gegen Machtansprüche eines absolutistischen Monotheos und seiner Kirchen.
Muss man auch für die Philosophie, um auf sie zurückzukommen, ein solches Korrektiv fordern, einführen oder suchen und vorfinden? Ich denke, dass die Philosophie schon als Korrektiv, nämlich der alten Mythen und Religionen, ihren Anfang genommen hat, und dass Philosophen seit jeher mehr zur Kritik und Korrektur, als zum Glauben neigten. In der Philosophie geht es natürlich auch um Wahrheit, Philosophie liebt Wahrheit, aber jeder Philosoph sollte lernen, auch andere Wahrheiten zu respektieren als diejenigen, die ihm selber gerade so sehr einleuchten.