In den gerade diskutierten Bereichen ging es offenbar nicht mehr in allen Fällen um die immer wieder gleiche Anwendung eines Falsifizierungs-Prinzips. Der Blick richtete sich mehr und mehr auf verschiedene Korrektive, die in den betrachteten Bereichen wichtig geworden sind und die dazu beitragen können, innerhalb eines solchen Bereiches und darüber hinaus Pluralität und gegenseitige Bezogenheit zu sichern. Innerhalb der aufgezählten Bereiche genügt es offenbar nicht, "kritisch zu denken" und mit eigenen Bemühungen Theorien zu falsifizieren. Schon in der Wissenschaft muss Kritik auch geäußert und auch gegenüber Autoritäten riskiert werden können, geht es somit um Öffentlichkeit und das Recht auf Veröffentlichung, auch um Minderheitenschutz der neuen gegenüber den herrschenden Theorien. Solches über das kritische Denken hinausgehende kritische Tun spielt eine noch größere Rolle in anderen Seinsbereichen. So muss beispielsweise Macht nicht nur kritisiert werden können, sondern bedarf einer faktisch wirksamen Kontrolle; Religionen müssen sich nicht nur gefallen lassen, dass ihr absoluter Geltungsanspruch kritisch diskutiert wird, sondern darüber hinaus muss die Vielfalt religiöser Orientierungen ausdrücklich erlaubt und gegenüber den monotheistischen Machtansprüchen geschützt werden.
In der Literatur und Kunst geht es nur ausnahmsweise um Wahrheit, etwa wenn der Dichter sich in einem Roman mit Personen der Zeitgeschichte und der Vergangenheit befasst und sie und ihre Umwelt so darzustellen versucht, wie es damals wirklich war oder heute tatsächlich so ist. Der vom Autor selbst erhobene und dann von der Öffentlichkeit eingeklagte Anspruch auf Korrektheit der Darstellung von Personen und Ereignissen könnte aber die künstlerische Freiheit einschränken, so dass dann zwischen wenigstens diesen zwei Werten, der Wahrheit einer Aussage und der künstlerischen Freiheit, eine Güterabwägung erfolgen muss. Insgesamt aber müssen Literatur und Kunst gegen staatliche und religiöse Bevormundung geschützt werden, z.B. gegen die Einschränkung, etwa nur bildlose Ornamentik, oder nur Jesus-und-Maria-Bilder, oder nur Blut-und-Boden-Kunst oder nur sozialistischen Realismus produzieren zu dürfen. Die Freiheit von Literatur und Kunst muss vor Zensur bewahrt werden, sogar vor dem phantasietötenden Anspruch auf Korrektheit und Wahrheit.
Auch in Politik und Wirtschaft geht es mehr um ein rechtes Tun als nur um ein korrektes Erkennen einer Wahrheit, die bisher alle Falsifizierungsversuche überstanden hat. Auch in diesen Bereichen muss die Konkurrenz der Kleineren gegenüber dem Monopolanspruch der ganz großen Konzerne oder Mächte verteidigt werden. Ein letztes Beispiel dieser sicher nicht vollständigen Aufzählung: In der Technik muss das in Material, Funktion und Form bessere Produkt genügende Chancen erhalten, das minder gute zu verdrängen, aber die Technik muss sich auch gefallen lassen, an anderen als bloß technischen Maßstäben gemessen zu werden. Auch dies wäre eine Kontrolle und ein Schutz vor (diesmal technischem) Machtmissbrauch.
Nicht erst an dieser Stelle meiner Überlegungen wird deutlich, dass es mir insgesamt weniger um Wahrheit, Erkenntnis und Kritik ging, als vielmehr um Kontrolle, Schutz, Verteidigung, Handicap-Ausgleich und Ähnliches, und zwar geht es im wesentlichen um das Kontrollieren und Begrenzen der bereichsspezifischen Monopole, um auf diese Weise die Pluralität der mit diesen konkurrierenden oder auch nur sich selbst behauptenden Andersheiten oder auch Minderheiten zu verteidigen. Mir scheint dies wichtiger zu sein als die bloß kognitive, auf Erkenntnisfortschritt abzielende Kritik und Falsifizierung. Es könnte nämlich sein, dass erst in einer auch metaphysisch als plural verstandenen geistigen Welt die reale Pluralität sich gegen reale Monopole so schützen lässt, dass Kritik und darüber hinaus Kontrolle möglich wird ohne Schaden für Leib und Leben derjenigen, die sich dafür einsetzen, und ohne endgültige "Falsifizierung" der anders Denkenden und ihrer anderen Gedanken.
In der hier von mir vorgetragenen Übertragung und Erweiterung des naturwissenschaftlichen Falsifikationsbegriffs auf andere Bereiche der Wirklichkeit könnte auf das Wort "Falsifizierung" vielleicht besser verzichtet werden. Denn heißt "falsifizieren" nicht eigentlich, dem ursprünglichen Wortsinne nach (lat. falsi-ficare aus falsus = falsch und facere = tun, machen), etwas falsch machen, etwas Falsches tun, und davon abgeleitet: etwas als falsch erklären und als unwahr erweisen und damit widerlegen? So könnte man auch fragen: Falsifiziert die eine Art der Kunst die andere? Falsifiziert das Erleben eines anderen Menschen das eigene Erleben, oder umgekehrt? Die Falsifizierung des Einen durch das Auftreten des richtigen oder zumindest irgendwie besseren Anderen, das klingt zu sehr nach einem Als-falsch-Erklären dessen, das vielleicht einfach nur anders ist, und schließlich könnte es sogar die Beseitigung des Falschen legitimieren, weil dieses nicht nur zu wenig dem Richtigen gleicht, sondern darüber hinaus als negativ verworfen und als böse vernichtet werden muss. Sollte beispielsweise der Monotheismus so "falsifiziert" werden, wie dieser selber über Jahrhunderte mit seiner absoluten Wahrheit die Polytheismen "falsifiziert" hatte, nämlich fast bis zu ihrem weltweiten Verschwinden? Sollten die von Gott Auserwählten die von ihm Verworfenen endgültig "falsifizieren" können, so wie das Hitler mit den Juden versucht hatte? Ich denke, dass vielmehr das meiste von dem, was wir als "anders" erleben, unseren Respekt oder wenigstens unsere freundliche Duldung verdient. Aus diesen Gründen ziehe ich das Wort "Eigenkorrektur" dem der "Fremdfalsifizierung" vor, und ich spreche auch lieber von Überprüfungsoffenheit und Zugänglichkeit für Fremd- und Selbstkritik. Genau so wichtig ist mir aber auch die Toleranz für Verschiedenheit und Anderssein, im gegebenen Falle auch das Akzeptieren der freiwilligen Selbstabgrenzung von anderen Gruppen, wenn dabei in einem Mindestmaß gegenseitige Beziehungen erhalten bleiben und weiter gepflegt werden können. Und ich denke, dass diese Sichtweise dem kritisch-realistischen und zugleich kritisch-rationalistischen Anliegen von Hans Albert weiterhin gerecht werden kann.