2.3.4. Über Unendlichkeiten

Inhaltsverzeichnis

2.3.4.1. Exkurs in die Antike
2.3.4.2. Zur Mathematik der Übertreibung
2.3.4.3. Ein neuer Ansatz: „allendlich“ und „unendbar“
2.3.4.4. Allendlich (engl. omnifinite)
2.3.4.5. Unendbar (engl. interminable)
2.3.4.6. Allendlichkeit und Unendbarkeit, beide sind Übertreibungen!
2.3.4.7. Der Eine und das All
2.3.4.8. Gott und Mensch

2.3.4.1. Exkurs in die Antike

Beginnen wir unsere Überlegungen über Unendlichkeiten mit einem Exkurs in die Antike. Der Begriff "Unendlichkeit" hat alte Vorläufer. Schon in alten Zeiten, im polytheistischen Pantheon, wurde bestimmten Einzelgöttern, wie dem Sonnengott, der wie ein Himmelsauge nicht nur alles anstrahlt, sondern auch alles sieht, die Allwissenheit zugeschrieben, und einem Schöpfergott natürlich die Allmacht, nämlich mindestens die Macht, alles zu erschaffen. Derartige Vorstellungen über Götter ("dieser Gott ist größer als alles Irdische", "er hat keinen Anfang und kein Ende", etc.) hatten aber noch eine mythische Qualität. Man kann solche auf Einzelgötter bezogenen Varianten der Unendlichkeit als Substantivierungen, Extremalisierungen und schließlich Vergöttlichungen menschlicher Eigenschaften ansehen.

Aton, der Monotheos des Echnaton, und nach ihm Jahwe, der Gott der Israeliten (das war der Gott, der keine anderen Götter neben sich dulden mochte), hatten solche Attribute übernommen, so auch die Allgegenwart (im Unterschied zur Sonne, die ja nur am Tage scheint und "sieht" und in der Nacht nicht mehr da ist!) und die Ewigkeit: denn nachdem sich alle anderen Götter anscheinend als sterblich erwiesen hatten, blieb nur noch der (bislang!) unsterbliche Jahwe übrig! Die aus dem ägyptisch-jüdischen Monotheismus abgeleiteten oder eng auf ihn beziehbaren Unendlichkeits-Begriffe hatten schon eher den Charakter philosophischer Abstrakta, die vom ursprünglichen Glauben relativ unabhängig waren. So ist auch Echnaton, der wohl erste bedeutende Verehrer eines Monotheos, mehr Philosoph als Religionsgründer gewesen. In einer noch weiter gehenden Verabsolutierung der Extreme behaupten Monotheisten schließlich die Allein-Existenz und Allheit ihres Gottes.

Ein Schlüsselbegriff in dieser Reihe ist die "Unendlichkeit" selber. Denn Allmacht läßt sich als unendliche Macht verstehen, der Allwissende weiß unendlich viel, und die Ewigkeit dauert unendlich lange. Schon bei den alten Griechen wurde die Unendlichkeit philosophisch abstrahiert. In der griechischen, insbesondere vorsokratischen Naturphilosophie war das Unbegrenzte (Apeiron) ein Zentralbegriff in Spekulationen über Entstehung und Aufbau des Kosmos, und zwar zunächst in einem negativen Sinne: denn was ohne Grenze ist, kann nicht näher bestimmt werden. So galt das Unbegrenzte als unvollkommen, sogar als Angst erregend. Der Sinn und das Ziel der Entwicklung alles Wirklichen wurde vielmehr in der Wohlbestimmtheit und Wohlgeformtheit und damit in der Begrenzung gesehen, und ihr Vorbild war der wohlgeordnete Kosmos.

Zenon (der Ältere) von Elea (ca. 490 – 430 v. Chr.), war wohl der erste, der unendlich kleine Schritte mathematisiert und dabei auf die Paradoxien des Unendlichen gestoßen war. Wie war das noch mit Achill und der Schildkröte, wo Achill es nie schaffte, die Schildkröte zu überholen, weil auch sie, wenn auch langsamer, so doch auch einen weiteren Teil der Wegstrecke zurücklegte? Der "Beweis" des Zenon, dass Achill die Schildkröte nie überholen könnte, hat mich nie überzeugt, vielleicht weil ich ein ganz natürliches Verhältnis zu Schildkröten und Kurzstreckenläufern habe und ihre Laufleistungen ungefähr einschätzen kann. Man darf sich eben erst gar nicht auf ein unendliches Teilen der Strecken einlassen; der Zeitpunkt des Überholens (falls Achill der Schildkröte fairerweise einen Vorsprung eingeräumt hatte) läßt sich auf einfachere Weise ausrechnen. Dann merkt man, dass das unendliche Teilen das Sachproblem nicht klärt, sondern ein bisher noch gar nicht aufgekommenes Scheinproblem neu geschaffen hat.

Vor allem Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) verstand das Apeiron als das Unvollendete, Unfertige und Ungeformte; ein wirklich Unendliches könne es nur im Bereich des Unkörperlichen geben. So konnte von ihm der „unbewegte Beweger“ als aktual unendlich in seiner das Seiende kausal bestimmenden Kraft verstanden werden. Aber Aristoteles sah das Apeiron eher als potentielle Unendlichkeit, etwa in der unbegrenzten Vermehrbarkeit der Zahlen. Unendlichkeit gab es insofern nur im Bereich des Möglichen, ggf. als etwas Werdendes (vgl. Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie. Herder, Freiburg i. Brsg. 1960, S. 219).

Die jüdische Religion dagegen verehrte ihren Gott als den in allen Hinsichten unvorstellbar Großen, und ihre Theologen und Philosophen setzten dementsprechend das Unendliche mit dem göttlichen Einen gleich. So identifizierte der jüdisch-hellenistische Philosoph Philon von Alexandria (20 v.Chr. – 50 n. Chr.) das Unendliche mit dem Monotheos. Die christliche Theologie und die scholastische Philosophie des Mittelalters knüpften daran an: Die Welt galt als bloß endlich; Unendlichkeit wurde allein dem Göttlichen zugesprochen, der grenzenlosen Fülle und Vollkommenheit göttlichen Seins, das in seiner Unbestimmbarkeit durch keine endliche Kategorie erfassbar ist und damit über allen endlichen Seinsstufen des von ihm Geschaffenen und Bestimmten steht. Nikolaus von Kues (1401 – 1464) griff die von der Scholastik übernommene aristotelische Unterscheidung zwischen dem aktual und dem potentiell Unendlichen wieder auf. Er sah das als positiv verstandene aktual Unendliche als wesentliches Merkmal Gottes, deutlich unterschieden von der Welt, der nur die potentielle Unendlichkeit des Raumes und der Zeit zukam, nämlich im Sinne der unendlichen Teil- und Vermehrbarkeit.

Ein persönlicher Blick zurück: Zur Vorbereitung meiner Vordiplom-Prüfung im Nebenfach Philosophie befasste ich mich - in freier Wahl - mit der Philosophie des Nikolaus von Kues. Seine Bemühungen um die Wiederannäherung und vielleicht sogar Wiedervereinigung der katholischen und orthodoxen Kirchen sprachen mich sehr an, als ich mich zwischen den Fronten verschiedener und sogar gegensätzlicher weltanschaulicher Systeme zu orientieren versuchte. Über den Cusaner lernte ich auch die katholischen Mystiker näher kennen, durch die ich mich zeitweise einem mystischen, zugleich aber psychologisch sophistizierten Gottesglauben annäherte. Aber ganz besonders faszinierten mich seine mathematisch-religiösen Spekulationen über "Unendlichkeit". Bei Nikolaus von Kues stand das göttlich Unendliche in einer Gegensatzbeziehung zum Nichts, und zugleich konnten Gegensätze (oder Unterschiede) wie zwischen Vieleck und Kreis schließlich im Unendlichen zusammenfallen („coincidentia oppositorum“). Im Unterschied zur unendlichen Größe und Fülle Gottes schrieb N. v. Kues der Welt eine bloß potentielle Unendlichkeit des Raumes und der Zeit zu, im Sinne einer unendlichen Teil- und Vermehrbarkeit dieser Größen. Möglicherweise habe ich mich von dieser Vorstellung dazu anregen lassen, den Begriff der Unendbarkeit zu prägen, den ich weiter unten erläutern werde.

Die Thematik war mir nicht fremd: Mit der Theorie des Unendlichen war ich ja schon durch die Leibniz-Biographie von Egmont Colerus konfrontiert worden, der sich auch mit den Beiträgen von Leibniz und Newton zur Begründung der Infinitesimalrechnung befasst hatte. Es ging dabei um die Einführung beliebig oder unendlich kleiner Schritte, gegen Null strebend, zur Lösung mathematischer Probleme aus den Bereichen der später weiter ausgebauten Differential- und Integralrechnung. Und Leibniz ist sicher, u.a. über Giordano Bruno vermittelt, von den Unendlichkeitsspekulationen des Cusaners beeinflusst worden.