2.3.4.2. Zur Mathematik der Übertreibung

Mathematiker sind bekannt dafür, dass sie bei Mengen von Früchten sich nicht darum scheren, ob es Äpfel, Birnen oder Heidelbeeren sind, die sie da zusammengezählt haben, oder ob darunter auch zerquetschte oder verfaulte Früchte sind. Die eigentlich bescheidenen Unterscheidungen, welche uns die Sprache mit „groß“ (Normalform), „größer“ (Komparativ) und „am größten“ (Superlativ) anbietet, können mit Zahlen und Maßen noch weiter auseinandergezogen werden. Im Messwesen gibt es die Möglichkeit, vor eine Maßeinheit (z. B. Gramm, Meter, Sekunde etc.) Vorsilben (= „Vorsätze“) zu setzen, um damit ein bestimmtes dezimales Vielfaches (bzw. einen Teil) der jeweiligen Maßeinheit zu bezeichnen, z. B. in Richtung auf ∞: Deka- (101), Hekto- (102), Kilo- (103), Mega- (106), Giga- (109); oder in Richtung auf die Null: Dezi- (10–1), Zenti- (10–2), Milli- (10–3), Mikro- (10–6), Nano- (10–9).

Ähnlich wie die Sprache der Übertreibung sich zwischen Nichts und Alles, also zwischen totaler Negation und extremaler Behauptung bewegt, hat auch die Mathematik der Übertreibung zwei Richtungen: zur Null hin und zur Unendlichkeit hin, oder aber von der Null wiederum in zwei Richtungen auseinander gehend: zum - ∞ und zum + ∞, oder zum unendlich kleinen Bruch (1/∞) und zum unendlich großen Vielfachen (n mal ∞). So ist die Mathematik der Zahlenreihe eingespannt zwischen extremen Möglichkeiten der Fortsetzung des Zählens: zum unendlich Wenigen und zum unendlich Vielen hin. Das lässt sich leichter „denken“, sagen und schreiben, aber nur schwer anschaulich machen und mit Inhalt füllen.

In der Mathematik des 19. Jahrhunderts wurden nichtendliche Mengen im allgemeinen als potentiell unendlich, also als nur schrittweise konstruierbar beschrieben. Soweit sie Teil- und Schnitt- und Gesamtmengen unterscheidet, bewegt sich auch die Mengenlehre immer noch im Rahmen des Endlichen. Die Theorie unendlicher Mengen und transfiniter Zahlen wurde erst ab 1875 von Georg Cantor (1845 – 1918) systematisch begründet. Die Mengenlehre hat seit seinen Beiträgen bis heute noch eine Affinität zum Unendlichen behalten. Insofern seine Mengenlehre unendliche Mengen als vollständige Gesamtheiten behandelt, nimmt sie den Standpunkt des aktual Unendlichen ein. Sie muss sich aber auch mit den sich daraus ergebenden Problemen und Aporien auseinandersetzen. Was z. B. ist “die Menge aller Mengen”? Gehört zu diesen („allen“) Mengen auch sie selbst? Solches Fragen grenzt schon an Theologie.

Demgegenüber gehen Kritiker der Mengenlehre weiterhin davon aus, dass nur potentiell Unendliches, wie in der Mathematik der Reihen und Folgen sowie in der Infinitesimal-Rechnung, denkbar ist. Die Opposition gegen die Mengenlehre vor allem von Seiten der „Konstruktivisten“ ist nie ganz verstummt. Im Rahmen der konstruktivistischen Wissenschaftstheorie wird von einer Wissenschaft gefordert, dass sie ihre Forschung möglichst voraussetzungsfrei ansetzt, ihre Methoden kritisch bedenkt und ihre Theorien schrittweise (und in diesem Sinne „konstruktiv“) entwickelt. Auch in der Mathematik und Logik sehen Konstruktivisten nur solche Gegenstände des Denkens als existent an (nämlich dass es sie „gibt“), die auf dem Weg einer in methodischen Schritten erfolgenden Konstruktion hergestellt werden und durch Nachvollzug solcher Methoden einsichtig werden können. Dies schien bei unendlichen Mengen („Mächtigkeiten“) nicht gegeben zu sein

Die Zahlbegriffe Null und Unendlich und die auf Realitäten beziehbaren Begriffe Nichts und Alles lassen sich nur schwer aufeinander beziehen. Das Weltall könnte ja sogar endlich sein, wenn auch wirklich schon überaus groß, und die kleinsten Bausteine oder Bestandteile der Materie sind vielleicht doch nicht mehr weiter teilbar. Die moderne Physik der Elementarteilchen hat uns neue Möglichkeiten gegeben, den Problemen des unendlich Kleinen nachzugehen. Doch auch wenn die Intention des Weiterteilenwollens kein Ende findet, so gab es bei der Materie schließlich ein Ende des Teilenkönnens, spätestens bei den Atomen (griech.: Atom = das Unteilbare). Inzwischen führt die Teilung noch mindestens einen Schritt weiter, zu den Quarks und anderen Elementarteilchen, aus denen nach heutiger Kenntnis die Materie aufgebaut ist. Das Elektron, das Photon und das Neutrino sind wohl wirklich nicht mehr weiter teilbar. Dann hätte das Teilen und damit auch die Messbarkeit zum Nichts hin eine Grenze, dann gäbe es unteilbare Quanten.

Die von uns erfahrbare Wirklichkeit hat eher etwas mit Mengen zwischen 1 und 10 n, zwischen ganz wenig und ziemlich viel, und mit Größen zwischen winzig klein und sehr sehr groß zu tun, mit noch großem Abstand zum Nichts und zur Unendlichkeit. Dazwischen erstreckt sich ein mittlerer Bereich, in dem es mittlere Mengen etwa von Menschen, von Dingen und von sonstigem Sein mittlerer Größe und mittleren Wertes gibt. Die Übertreibungen dagegen entfernen sich oftmals sehr weit von den mittleren Pluralitäten, die wir Menschen in unserem sub specie aeternitatis doch recht kurzen Leben real vorfinden können und mit denen wir zurecht kommen müssen.

Nur die Mathematik könnte ihre Zahlen noch immer weiter minimieren oder aber vergrößern, ohne das dies Konsequenzen für das reale Sein hätte. Abgesehen von der begrenzten Teilbarkeit der Materie gibt es mathematische Versuchungen, immer noch weiter zu teilen, immer noch weiter zu zählen und für die Zahl π immer noch mehr Stellen nach dem Komma auszurechnen. Übrigens war es mir in meiner Schulzeit mal gelungen, über komplizierte Umwege herauszufinden, dass sich aus 9 : 3 ziemlich genau der Wert 2,999.... ergibt. Ich war stolz darauf. Leider habe ich diese Rechnung nicht aufbewahrt. Gehen wir der Mathematik des Unendlichen noch etwas nach: Ist ∞ eine Zahl in der Art der Zahl 128? Mit diesem Gedanken kann ich (ein Nicht-Mathematiker!) nichts anfangen. ∞ ist ja (nach der ∞ - 1) nicht die letzte Zahl, nach der es keine weiteren Zahlen mehr geben könnte. Nach käme wohl doch noch ∞ + 1, ∞ + 2, usw. Wir können ∞ offenbar nicht, wie andere sehr große Zahlen, auf abzählbare Mengen oder messbare Größen in der Wirklichkeit beziehen. Auf Mengen solcher Wirklichkeiten bezogen kann eine Zahl, so groß sie auch sein mag, immer nur endlich sein: sie schließt alle möglichen kleineren Mengen ein, die sich zu ihr aufsummieren. Aber mehr als das, was es als allergrößte Menge gibt, gibt es wohl nicht! Über die Endlichkeit möglicher Zahlenmengen kommen wir nur hinaus, wenn wir von der Unabschließbarkeit des Zählens sprechen. Auch über alles Endliche hinausgehend könnten wir immer noch weiterzählen, wenn wir das wollten, denn man könnte ja auch Nichtse zählen, soweit der Vorrat reicht und noch darüber hinaus.