Als zweiten Abkömmling des klassischen Unendlichkeitsbegriffs prägte ich den Begriff der Unendbarkeit (als Modal-Adverb: unendbar). Hierbei geht es nicht wie bei der Allendlichkeit um ungeheuer große Anzahlen, Mengen oder Maße, sondern zunächst mal um die durch nichts begrenzte Möglichkeit, eine Zahlenreihe an welcher Stelle auch immer fortzusetzen. In diesem Zusammenhang verwende ich den von unendlich abgeleiteten Folgebegriff unendbar eher als Modal-Verb: "es kann unendbar lange weitergezählt werden", oder als Modal-Adverb: "das Zählen ist somit unendbar". Dem Weiterzählen oder Weiter-Multiplizieren oder auch -Potenzieren entspricht das Weiter-Teilen, z.B. in der Infinitesimal-Rechnung (Leibniz, Newton), und schon Nikolaus von Kues hatte das Vieleck dem Kreis angenähert durch eine immer weiter erhöhte Zahl der Ecken eines regelmäßigen Vielecks: der Kreis hat schließlich, wie ich es formulieren möchte, unendbar viele Ecken!
Als "unendbar" bezeichne ich also die prinzipielle Möglichkeit eines irgendwie gearteten Weiter-Tuns, z.B. das Weiter-Zählen-Können. Nach der jeweils letzten Zahl, an der ein Zählender angelangt war, mussten ja immer noch weitere kommen, solange einer am Zählen blieb. Hier ging es also nicht um die Menge aller Zahlen (die mir trotz Cantor als undenkbar erscheint!), sondern um das Weiterzählenkönnen, wie lange auch immer. Unendbar schien mir auch die Zeit zu sein, wenigstens in Richtung auf die Zukunft. Unendbar schien mir der Raum, sogar über das allendliche Sein des Weltalls hinausgehend: selbst dort, wo noch nie etwas war und zur Zeit noch nichts ist, könnte doch noch etwas hinkommen, hinter der Grenze des Seins müsste es doch noch weitergehen können, unendbar weiter.
Der Begriff der Unendbarkeit schien mir auch auf die Fälle zu passen, wo sich aus wenigen Grundbausteinen und Grundregeln unbegrenzt viele Kombinationen, Permutationen und Variationen ergeben konnten, vor allem Veränderungen in der Zeit, was ja vielleicht die Zeitlichkeit der Zeit ausmacht: also nicht bezogen auf das, was ist, was zum allendlichen Sein gehört, sondern auf das, was sein kann, oder auch nur sein könnte. Die Denkmöglichkeiten könnten ja die Seinsmöglichkeiten noch unendbar überschreiten. Ganz anschaulich malte ich mir aus: Wer wollte die Zahl möglicher Wolkenformen begrenzen, oder die Arten, wie sich Wasser in der Brandung zu weißen Schaumkronen umbildet; jede nächste ist anders, und wer wollte abwarten, bis sich eine Form wirklich genau wiederholt? oder gar alle in der gleichen Reihenfolge einmal wiederkehren? Inzwischen hat sich ja der Sandstrand längst verändert, auch die Meeresströmungen und die Windverhältnisse und...und... Denken wir auch an die Sandwellen in der Wüste: ein Sandsturm, und schon sehen wir andere Konfigurationen von Wellen und geneigten oder gewölbten Flächen. So können Neukombinationen, sowohl gleichzeitig als auch sukzessiv auftretende, weitere Veränderungen generieren und Veränderbarkeit sichern. Im Verlauf der Zeit können Richtungsänderungen diesem Ziel dienen: die Möglichkeit, einen Weg nicht geradeaus fortzusetzen, sondern mal und mal seine Richtung zu ändern und dadurch an Orte zu gelangen, die beim Beibehalten der Richtung auf immer unerreichbar geblieben wären, obwohl sie ganz nahe lagen, wenn auch abseits des geraden Weges! Selbst ganz Naheliegendes kann man verfehlen, wenn man geradeaus und daran vorbeigeht!
Selbst ein sehr Kleines kann in bestimmter Hinsicht unendbar sein, etwa eine Zelle, die wie bei den Bakterien unter günstigen Bedingungen unbegrenzt teilbar ist. Unendbar kann auch das Kombinieren von wenigen verschiedenen Einzelbausteinen sein, wie z.B. bei den vier Nukleinsäuren, die in den Genen in ihrer Abfolge unbegrenzt variierbar sind. Die von den Lauten (Vokalen und Konsonanten) der menschlichen Sprachen abgeleiteten Buchstaben (in unserer Sprache etwa 25) können zu einer nicht begrenzbaren Zahl unterschiedlicher Wörter kombiniert werden. Die mögliche Gesamtzahl solcher Kombinationen interessiert dabei gar nicht. Wichtig ist nur, dass immer neu und anders kombiniert werden kann, wie z.B. jetzt, wenn ich mit nur 25 Buchstaben und ein paar weiteren Zeichen diesen Text weiterschreibe. Ganze Bücher und Bibliotheken kann man mit Kombinationen oder besser unterschiedlichen Aufeinanderfolgen von 25 Buchstaben füllen! Und was kann man alles mit den 2 x 16 Spielsteinen (es sind nur 6 Arten von Figuren) eines Schachspiels anfangen! Es bringt gar nichts, das ausrechnen zu wollen. In der Zeit könnte man wieder neue interessante Schachpartien spielen, und das ist doch das entscheidend Wichtige.
Das Wort unendbar kann auch zum Ausdruck bringen, dass ein Ganzes, welcher Art auch immer, wieder anders werden und darüber hinaus sich selbst verändern kann, dass also seine Veränderungsmöglichkeiten kein Ende finden, was vor allem für komplexe Ganzheiten wie alles Lebendige und darunter besonders für uns Menschen gilt. In der Biologie spricht man in diesem Zusammenhang von Mutationen, die schon bei den kleinsten Lebewesen, den Viren und Bakterien, die Voraussetzung sind für Neuanpassungen an sich ändernde oder durch Wanderung neu erreichte Umwelten. Was sich unendbar ändert, muss also gar nicht so großmächtig sein; es könnte sogar die Regel gelten, dass sich kleinere Lebewesen besser (weil schneller) an kurzfristig veränderte Umweltbedingungen anpassen können als Riesenformen wie die vor Zeiten ausgestorbenen Dinosaurier. Die so erfolgreich überlebenden Säugetiere waren im Vergleich dazu Winzlinge; aber sie konnten sich schneller und jedenfalls rechtzeitig ändern! Andere und höhere Formen der Neukombination sind das Lernen und die Einsicht; mit ihrer Nutzung können schon Tiere, erst recht aber Menschen sich auf sehr rasche Umweltveränderungen einstellen und sogar künftige Ereignisse antizipieren.
Dass nicht alles endgültig ist, dass immer noch Änderung möglich ist, dass es in unserer Wirklichkeit so etwas wie Unendbarkeit gibt, das lässt Hoffnung aufkommen auf die Lösung von Verkrustungen, auf die schon fällige Umgestaltung des Bestehenden, wenn es sich überlebt hat. So gesehen können Veränderungen uns vor der unendlichen Wiederholung des Gleichen bewahren. Es geht nicht um den bloß erneuten Anfang des gleichen Prozesses, um die ewige Wiederkehr des Selben (Fr. Nietzsche), sondern vielmehr um den Beginn des Anderen, um die neue Richtung und neue Chance. Die Welt ist noch nicht ausgewürfelt, es ist nicht schon alles (etwa von Gott!) vorherbestimmt, zumindest ich selber will einiges hier und jetzt anders machen, und ich denke, dass Andere das auch vorhaben!
Unendbarkeit ist somit vor allem das, was der Mensch ins allendliche Sein einbringt. Er ist es, der die Zahlenreihe immer noch weiter fortsetzen kann (solange ihm das wichtig genug ist!), er ist es, der den Raum noch weiter denken kann, so wie schon ein kleines Kind fragen kann: "Papa, was ist denn hinter der Welt? ... und was ist dahinter?"; schon Kinder können sich die Zeit als in beiden Richtungen unendbar vorstellen, die Gegenwart auf eine unbegrenzte Vergangenheit und auf eine unbegrenzte Zukunft hin verlängern: "Was war denn vor dem Anfang? ... und wer hat Gott erschaffen? Und wann geht die Welt zu Ende? ... Und was kommt danach?", und sie können ihre Eltern mit unendbar weitergeführten "warum"- oder "wenn"-Fragen löchern: " ... aber doch nur wenn!" Solch ein Weiterfragenkönnen eröffnet schon dem Kind die Unendbarkeit der geistigen Auseinandersetzung.
Der Mensch kann nicht nur die Dinge anders sehen und manches auch anders machen, sondern er kann sich auch selbst verändern, wenn auch manchmal nur in recht kleinen Schritten, jedenfalls kann er sich weiterentwickeln. Für manche Menschen ist dies sogar dringend nötig, jedenfalls wünschenswert! So schlägt Leszek Kolakowski (Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft, München 1967, S. 263) "eine Haltung vor, die ein Geöffnetsein ohne die Hoffnung ist, dass sie jemals zu einem geschlossenen Standpunkt führen würde, der allen anderen überlegen wäre" (zitiert nach Gerhard Szczesny, Das sogenannte Gute, 1971, S. 61). Somit begründet der Anspruch auf Unendbarkeit den Widerstand gegen die Übermacht des Allendlichen, gegen das längst Vorgeplante und insofern schon Fertige. Denn der Mensch kann wünschen, dass etwas anders werden soll, dass etwas in Bewegung kommt, dass er selber einen neuen Weg finden kann. Aber solche Formulierungen können sich im vage Abstrakten verlieren. Da werden konkretere Fragen wichtig: In Richtung auf welche Ziele soll es anders werden, wie kann es verändert werden, wodurch kann ich Veränderung herbeiführen, mit wem zusammen, unter Nutzung welcher Mittel? Mit wessen Widerstand muss ich rechnen, und wie könnte ich ihn zu überwinden versuchen? Könnte er mit uns zusammenarbeiten?
Die Unendbarkeit hatte für mich anfangs, im deutlichen Unterschied zur Allendlichkeit, zwar einen deutlich positiveren Wert: eine Offenheit in die Zukunft hin, in einen Frei-Raum und eine Frei-Zeit für menschliches Denken und Handeln. Sie gab Hoffnung auf das Aufbrechen alter Verkrustungen, auf politischen Wandel und Fortschritt. Aber wenn es um die Möglichkeiten ihrer Realisierung ging, konnten Zweifel aufkommen, ob dies zu schaffen sei.