2.3.4.6. Allendlichkeit und Unendbarkeit, beide sind Übertreibungen!

Die Begriffe der Allendlichkeit und Unendbarkeit bedürfen, so denke ich heute, eines kritischen Kommentars. Es war für mich zunächst naheliegend, die Unendbarkeit gegen die Allendlichkeit auszuspielen und in der Unendbarkeit das auch für uns Menschen Zukunftweisende, dagegen in der Allendlichkeit das obsolete, menschenferne Prinzip zu sehen und es als Ideal abzulehnen. Inzwischen hat meine auf die Enttäuschung am Allendlichen folgende Begeisterung für die Unendbarkeit etwas nachgelassen.

Heute frage ich mich: kann Veränderung ein Selbstzweck sein, Unendbarkeit ein höchster Wert? Nur im Kontrast zur Allendlichkeit konnte mir das so scheinen, vielleicht auch, weil ich noch jung war und so vieles anders haben wollte. Inzwischen erscheint mir doch einiges in der Welt als bewahrenswert, und der bloße Wandel - ohne dass etwas wirklich besser wird - hat für mich ziemlich an Reiz verloren. Insbesondere die großen, oft mit Gewalt erkämpften Veränderungen wurden mir zunehmend suspekt. Dagegen hat sich die Politik der kleinen Schritte - soweit sie in die richtige Richtung gehen - auch in meiner Sicht im Großen und Ganzen bewährt. Es kommt ein Verdacht hinzu: habe ich mir mit der Unendbarkeit nicht doch den alten Begriff der Ewigkeit (auch ein Attribut des all-einen Gottes!) gerettet? Gerate ich nicht in Versuchung, auch die Unendbarkeit des menschlichen Lebens zu wünschen und als erwartbar zu behaupten? Da ist mir doch ein Montaigne sympathischer, der das Ende mit dem unaufhebbaren Tod als etwas Gutes hinstellt, auch und gerade für den Menschen. Ich meine auch: Es ist wirklich gut, dass ein Mensch nach seinem Sterben tot ist und tot bleibt, jedenfalls gilt dies für Menschen, die ein ausgefülltes langes Leben hinter sich haben. Ich habe inzwischen sogar den Wunsch, am Ende meines Lebens ohne Rest verschwunden zu sein, abgesehen von Einigem, das zwar mit mir zu tun hat, aber kein Bestandteil meiner selbst ist, wie meine Nachkommen und meine schriftlichen Hinterlassenschaften. Insofern kann persönliche Unendbarkeit für mich kein erstrebenswertes Ziel mehr sein.

Also beide, die Allendlichkeit und die Unendbarkeit entfernen sich in ihrer Maßlosigkeit und Ansprüchlichkeit vom endlichen Menschen, und wenn es um so etwas wie die Optimierung des Vorfindbaren geht, dann doch lieber zur immer noch endlichen, aber differenzierten Ganzheit hin, und hin zu ihrer Verbesserung und zur Erhaltung der Verbesserungsfähigkeit dieses Ganzen! Veränderung ist also kein Selbstzweck, sondern, wenn sie von selbst geschieht, nur eine Chance für Positives oder Negatives. Wünschenswert ist das Herbeiführen einer Veränderung besonders dann, wenn sie wirklich Not tut. Sie ist insofern einer Therapie vergleichbar: Wie diese hat sie neben ihrem möglichen - noch zu erweisenden - Nutzen auch ihre Nebenwirkungen und ihre mögliche Schädlichkeit, auch ihre Kosten, und dies alles sollte abgewogen (zumindest immer mal wieder bedacht) werden, damit das Ändernwollen und das tatsächliche Andersmachen als indiziert (als angezeigt) erscheinen können. Das Ändernkönnen (nahe am Begriff der Unendbarkeit) ist aber schon wichtig, z.B. die Änderbarkeit von Gesetzen und Verfassungen, beides ganz pluralistisch gesehen. Und die Änderung jeweils wohlgemerkt auf den Wegen, die eine veränderungstolerierende Verfassung wie die unsere vorgibt. Wir wollen hoffen und dafür arbeiten, dass alle Verfassungen (auch die mit dem gleichen Anspruch auftretenden Heiligen Bücher der Religionen!) ihre Veränderbarkeit einräumen und Modi für die möglichst demokratische Zielbestimmung und möglichst friedliche Realisierung ihrer Verbesserung anbieten.

Unendbarkeit ist für mich nicht mehr ein Wert an sich, vergleichbar einer absolut gesetzten Freiheit, sondern sie kann auch in unproduktive Zwangswiederholungen führen, in das Nicht-mehr-enden-Können, in das Immer-weitermachen-Müssen, auch wenn sich daraus nur Wiederholung ergibt: die Wiederholung eines Melodiefetzens an der Stelle, an der die Grammophonnadel wieder in die vorige Spur zurückrutscht, oder im ganz großen Maßstab die von Nietzsche konzipierte Ewige Wiederkunft (klingt nach Niederkunft und Neugeburt, nach Reinkarnation!); aber diese ist für mich eher abschreckend als wünschenswert. Ewige Wiederholungen sind auch die Strafe des Tantalos, der immer wieder erleiden muss, dass ihm ein göttlicher Adler die Leber heraushackt, die sich dann doch wieder neu bildet, und ebenso die Aufgabe des Sysiphos, der immer wieder ("unendbar"!) den Stein wieder hoch tragen muss, der ihm dann immer wieder ("unendbar") entgleitet und den Hang herunterrollt. Wer wie Nietzsche mir eine unendbare Wiederholung als Positivum anbietet, den frage ich: lohnt sich denn die Wiederholung? Führt die bloße Verlängerung der Strecke irgendwo hin, wo ich wirklich sein und etwas tun möchte (aber nicht immer dasselbe)? Was soll sich wiederholen, etwa alles? auch alles Böse, auch alles Blöde, alles Geschehene? Sogar ich selber möchte nicht wiedergeboren werden und auch nicht ewig leben, in unendbarer Fortsetzung meiner Jahre. Lieber nicht! Eher würde ich fragen wollen: Was soll bleiben und sich wiederholen, und was nicht? Was soll sich ändern können, und wohin soll diese Veränderung führen?

Es muss sich eben nicht alles immerfort ändern, denn vieles kann bleiben wie es ist, es sollte sogar manches so bleiben, nämlich wenn es gut ist, dass es so ist. Die so abstrakte "Unendbarkeit" mit dem hohen Geltungsanspruch schrumpft dann zusammen auf die viel begrenztere Hoffnung, dass wenigstens das Änderungsbedürftige sich ändern kann, möglichst noch rechtzeitig, bevor es - unverändert - scheitert, und diese Hoffnung konkretisiert sich in der eigenen Bereitschaft und Bemühung, zu solchen Änderungen nach bestem Wissen und mit eigenem Handeln beizutragen. Bei aller eigenen Kritik an meinen Konzepten der Allendlichkeit und Unendbarkeit möchte ich dennoch Folgendes positiv festhalten: Die allendliche Welt im unendbaren Raum und in der unendbaren Zeit als ein unendbar veränderungsfähiges Ganzes zu sehen, mit der Menschheit als Mittelpunkt, das war für mich eine geistige Entdeckung, die in meinem Denken katalytische Wirkungen hatte und einiges in Bewegung bringen konnte. Es war ein Gedankengebäude, das eine Zeit lang seine Nützlichkeit hatte, mit kleinen Mängeln, die vor allem in der immer noch "unendlichen" Übertreibungstendenz lagen, quasi Restbestände aus den Theorien über den monomegalen Gott. Die Konzepte konnten aber dazu beitragen, eben solche Monomegalie ad absurdum zu führen und überflüssig werden zu lassen. Ein paar noch zu diskutierende Weiterführungen dieser Ideen haben auf je spezifische Weise zur weiteren Klärung beigetragen. Als erstes eine quasi mathematische Spekulation - die Mathematiker mögen sie mit der Nachsicht behandeln, die das Denken eines mathematischen Laien vielleicht in Anspruch nehmen kann!