2.3.5. „Genfähren“: Über das Einfügen des schon bewährten Fremden

Im engeren Sinne geht es in diesem Beitrag um die Möglichkeit einer Übertragung vorgefertigter und schon bewährter Gensequenzen von einem Ausgangsgenom in ein Fremdgenom, und zwar auch dann, wenn mit diesem ansonsten, außerhalb einer solchen singulären Übertragung, keine sexuelle Austauschmöglichkeit besteht. Das Fremdgenom sei also mindestens artfremd, wenn es nicht sogar noch weniger verwandt, im biologischen Klassifikationssystem also noch weiter entfernt ist.

Insbesondere möchte ich der Frage nachgehen, ob tierische oder gar pflanzliche Gensequenzen in menschliche Genome aufgenommen werden können, und umgekehrt. Dass dies im Prinzip möglich ist, dafür gibt es Hinweise:

  1. Endosymbionten-Hypothese: Chloroplasten und Mitochondrien sind Zell-Organellen. Sie waren wohl ursprünglich selbständige Organismen, nämlich prokariotische Einzeller, die dann nach ihrer „Einverleibung“ in primitive eukariotische Zellen eine Symbiose mit diesen eingegangen sind und sich seitdem u.a. in den Zellen von Pflanzen, Pilzen, Ciliaten und Vertebraten finden. Chloroplasten und Mitochondrien entstehen wie Zellen und deren Kerne durch Teilung ihrer Vorgänger, denn nach ihrer Einverleibung ist ihre Eigenvermehrbarkeit erhalten geblieben. Während in tierischen Zellen ausschließlich die Wechselwirkung zwischen Kerngenom und Mitochondriengenom zu betrachten ist, besteht in Zellen grüner Pflanzen ein Dreiecksverhältnis von Kerngenom, Chloroplastengenom und Mitochondriengenom. Festzuhalten ist, dass es offenbar mehr als einmal zur Übernahme eines ganzen und schon fertigen Genoms durch eine andersartige Zelle gekommen ist und dass beide oder alle drei Symbiose-Teilhaber miteinander lebensfähig und je für sich vermehrungsfähig sind. Die Fähigkeit des Chloroplasten zur Chlorophyll-Synthese und die Fähigkeit der Mitochondrien zur Energieproduktion konnten von der Wirtszelle, die zuvor über beide Fähigkeiten noch nicht verfügt hatte, ohne die Kosten einer eigenen - in Äonen zu leistenden - Entwicklungsarbeit fertig übernommen werden.

  2. Genfähren-Methode: Bakterien und auch Viren können durch Einfügung menschlicher Gensequenzen dazu gebracht werden, menschentypische Substanzen wie Human-Insulin zu produzieren, also komplizierte chemische Substanzen, für welche die Überträger selber möglicherweise gar keine Verwendung haben. So können Eiweißstoffe, die normalerweise im gesunden menschlichen Organismus produziert werden, bei bestimmten Krankheiten aber nicht mehr oder in nicht genügender Menge, durch fremderzeugte Stoffe gleicher Struktur ersetzt werden.

  3. Viren können die Kerne menschlicher Zellen so verändern, dass sie dann vorzugsweise der Vermehrung der Viren diesen, ggf. mit dem Nebeneffekt, dass die infizierten menschlichen Zellen ohne natürlichen Zelltod (Apoptose) immer weiter wuchern und Tumoren bilden, oder nach Übertragung des Erregers auf andere Menschen absterben, und mit ihnen ggf. der ganze menschliche Organismus.

  4. Es ist an die Möglichkeit zu denken, dass solche Effekte nicht nur zur Veränderung der infizierten Körperzellen führen, sondern dass die Eindringlinge auch oder sogar spezifisch die Keimzellen und deren Genom verändern, und damit in die fremde Keimbahn eindringen und auf diesem Wege zur Evolution innerhalb einer Population beitragen können. Daraus ergibt sich die Hypothese: Genetische „Module“, die bestimmte Gesamtleistungen oder morphologische Besonderheiten einer Art ontogenetisch determinieren, können möglicherweise durch Viren oder Bakterien, die als „Genfähren“ dienen, in die Zellkerne artfremder Organismen eingeschleust, in deren Genom eingefügt und damit auf deren Keimbahn übertragen werden. Sie könnten dann im Wirtsgenom die genetischen Voraussetzungen für neuartige morphologische bzw. physiologisch/behaviorale Gesamteffekte schaffen, oder zumindest zum Aufbau solcher genetischer Determinatoren beitragen.

Innerhalb des „Wirtsgenoms“ können weitere Veränderungen, etwa Umstellungen in der Reihenfolge der Gensequenzen, welche das Modul auf einem anderen “Platz“ einfügen, die Wirkmächtigkeit des eingefügten Moduls ggf. erheblich erhöhen. Die Übernahme genetischer Fremdmodule in den eigenen Genbestand ist auch insofern vergleichbar den Effekten, die bei einem Text durch Veränderungen, allein schon der Reihenfolge der verschiedenen Textmodule, in Richtung auf größere Verständlichkeit oder Motivationskraft (Wirkmächtigkeit) des Textes erzielt werden können. Die Anreicherung eines sprachlichen Textes mit Zitaten anderer Autoren kann bis zu einer so weit gehenden „Aneignung“ der Fremdinformation führen, dass deren fremde Herkunft dem Übernehmenden nicht mehr erkennbar ist. In diesem Zusammenhang möchte ich an das (an mir selbst beobachtete!) Phänomen der Kryptomnesie erinnern. Es besteht darin, dass jemand etwas frisch Erlerntes (Gelesenes, Gehörtes) sich so sehr zu eigen gemacht hat, dass ihm dessen Herkunft (der Autor, dessen Buch, die Radio- oder Fernsehsendung, der ursprüngliche Text) später nicht mehr bewusst und schließlich gar nicht mehr erinnerlich ist, so dass er dann das von ihm einstmals Übernommene dann sogar als seine eigene Idee ausgeben kann. Es ist dazu noch zu ergänzen, dass die eigenen „Textmodule“ durch veränderte Anordnung (Änderung der Reihenfolge im fortlaufenden Text, Änderungen der Anschlusshäufigkeiten von Verweisungen) dann im neuen Text insgesamt stringenter, den Leser besser überzeugend, als Handlungsanweisung motivierender werden.

So ist es auch denkbar, dass im Genom die Umsetzung eines Fremdmoduls von einem nicht mit Wirkungsmöglichkeiten verbundenen Platz der Gensequenz auf einen anderen Platz dazu führt, dass das Modul in ontogenetische Vorgänge eingeschaltet werden kann, und somit quasi aus der stillen Reserve an die Front des ontogenetischen Geschehens versetzt wird. Dadurch könnte sich eine zuvor fehlende oder schwache Expression eines Fremdmoduls in eine nunmehr stärkere und schließlich starke Expression umwandeln, je nachdem, ob die neue Gen-Nachbarschaft eine solche Expression mehr oder weniger fördert.

Dieses „Modul“-Modell könnte Konsequenzen für die Theorie der Phylogenese, ja insgesamt der biologischen Evolution haben, möglicherweise auch für Fragen der Menschwerdung. Gehen wir zunächst von dem bisher gesicherten Wissen aus: In der klassischen und auch noch modernen Evolutionstheorie wird das Aufkommen kleinster, aber genetisch stabiler Änderungen von Funktionen und Erscheinungsvarianten der Organismen auf zufällige Einzelmutationen und an diesen ansetzende umweltbezogene Selektionen zurückgeführt. Darauf aufbauend, über Veränderungen, die allmählich in unterschiedliche Richtungen fortschreiten, ergebe sich dann in überaus lang dauernden Entwicklungen die genbestimmte Entstehung ganzer Organe und mehrgliedriger komplexer Funktionen. Deren dann – irgendwann – erreichte biologische Vollkommenheit bleibt dennoch nicht nur dem biologischen Laien ein Rätsel, wenn nämlich die Übergänge zwischen dem noch gar nicht Funktionieren und dem schon völlig hinreichend Funktionieren schwer vorstellbar sind. Wie sind zuvor krabbelnde Gliederfüßler zu fliegenden Insekten geworden, Reptilien zu Flugsauriern und später zu Vögeln, Insektenfresser zu Fledermäusen, Nagetiere zu Gleitfliegern? Es gibt sogar Fische, die auf kurzen Strecken in der Luft gleiten oder gar segeln können und deshalb als fliegende Fische bezeichnet werden. Sind dies in jedem Falle nur Analogbildungen, oder konnten dabei auch homolog anschlussfähige genetische Vorentwicklungen anderer Tiere übernommen und genutzt werden?

Es ist zumindest denkbar, dass bestimmte Arten und von diesen abgeleitete höhere Ordnungen zu komplexen Funktionen und Organsystemen gekommen sind, ohne diese in außerordentlich langen Zeiträumen selber entwickelt haben zu müssen. Stattdessen könnten sie quasi vorgefertigte Module oder Teile davon aus dem Genbestand anderer Arten, Gattungen und sogar höherer biologischer Ordnungen übernommen haben, und zwar über virale oder bakterielle „Genfähren“, die es ermöglichen, in viel kürzerer Einbau- und Umbauzeit fertige Genmodule oder Teile davon aus anderen Genomen zu übernehmen. Das wäre vergleichbar der Übernahme eines langjährig entwickelten und schon praktisch erprobten VW-Motors in einen Škoda-Wagen, wodurch der große Aufwand und die lange Zeitdauer einer Eigenentwicklung eines entsprechend leistungsfähigen Motors vermieden und damit die erheblichen Kosten erspart werden können. Statt der an anderem Ort produzierten fertigen Teilaggregate können auch Patente, also in Schrift und Bild festgehaltene und praktisch umsetzbare Handlungsanweisungen, mit Lizenzgebühren erkauft, für die dadurch gezieltere Eigenkonstruktion und Herstellung solcher Teilaggregate genutzt werden.

In die Evolutionsbiologie rückübertragen könnten fremde Gensequenzen, die über sehr lange Zeiten in der Fremdpopulation aufgebaut worden waren, gebunden an eine bestimmte Art von Biotop, in der diese Entwicklung einen Selektionsvorteil darstellte, nach ihrer Übernahme in das artfremde Genom einer bisher in anderen Biotopen lebenden Art, dieser Population dazu verhelfen, nunmehr in einem andersartigen Biotop sich zu behaupten und sich weiterhin evolutiv zu verändern. Auf solche Weise könnte auch in der Stammesentwicklung durch die Übernahme vorgefertigter Problemlösungen auf deren langwierige Eigenentwicklung verzichtet werden, was insgesamt den Aufwand für Neuentwicklungen verringert und die Evolution beschleunigt.

Es ist zu erwarten, dass Genfähren-Effekte sich zunächst leichter zwischen Populationen ergeben, die zwar verschiedenen Arten angehören, aber doch noch nahe verwandt und in ihrer Morphologie und ihren physiologischen Funktionen ähnlich ausgestattet sind (mit allerdings dementsprechend geringeren Entwicklungssprüngen). Die unterschiedliche Verwertbarkeit fremder Gensequenzen je nach dem Verwandtschaftsgrad von Spender und Empfänger ist vergleichbar mit der unterschiedlichen Verwertbarkeit von Nahrung je nach ihrer tierischen oder pflanzlichen Herkunft. Fleischfresser sind mit ihren Beutetieren, vorwiegend Pflanzenfressern, enger verwandt als diese mit ihrer Nahrung, den Pflanzen. Die Nahrung der beutejagenden Fleischfresser (Carnivoren), eben das Fleisch, aber auch das Blut, das Hirn, die Hoden und einige Innereien, ist dem eigenen „Fleisch“ der Jäger ähnlicher, als es der vegetabile Nahrungsbrei der Pflanzenfresser ihrem eigenen Organismus je sein könnte. Im Verdauungsapparat der Pflanzenfresser muss daher der Nahrungsbrei, insbesondere die pflanzliche Zellulose, erst mit Hilfe von Darmbakterien „vertierlicht“ werden, um vom Pflanzenfresser zu seiner Ernährung genutzt werden zu können. Erst recht wird ein Genom eher artähnliche als artfremde Sequenzen in sich aufnehmen und weiter reduplizieren können.

Des weiteren sollten vor allem solche Arten von den Genfähren-Effekten profitieren, die in besonderem Maße für Modul-Übertragungen anfällig sind, und daher besonders leicht durch sie geschädigt werden oder auch überraschend stark deren Zusatzinformationen nutzen können. Dies gilt besonders für Arten, die durch Wanderungen, mit dem Wechsel von Bildung und Aufhebung biologischer Nischen, durch eigene Massenausbreitung und durch Infektionsanfälligkeit dem Einfluss von Genfähren stärker unterliegen. Die Anfälligkeit für Infektionen wiederum kann durch Wanderung und damit durch die Ausbreitung der Erreger noch verstärkt werden, bis zu den Katastrophen, wo ganze Eingeborenenpopulationen abliegender Inseln durch die „harmlosen“ Infektionskrankheiten der zugewanderten europäischen Eroberer ausgerottet wurden.

Als letztes noch ein paar Beobachtungen, die mich überhaupt erst dazu gebracht haben, über das Einfügen des Fremden in das eigene Repertoire nachzudenken:

  1. Marco, der Mischlingshund meiner erwachsenen Kinder, mit dem mich eine gegenseitige Freundschaft verband, verblüffte mich auf einer längeren Autofahrt, als er aufrecht auf der Hinterbank sitzend über längere Zeit aufmerksam die Landschaft betrachtete. Er hätte doch wie andere Hunde einfach daliegen und dösen können! Aber ihn musste die vorbeiziehende Landschaft irgendwie fasziniert haben, auch wenn da für ihn momentan nichts zu schnuppern und zu erjagen war. Er schien aus schierer Neugierde aus dem Wagenfenster zu gucken, wie ein Mensch.

  2. Auf einem Spaziergang an der Lahn begegnete ich einem Pudel mit seinem „Herrchen“. Zu gleicher Zeit kletterten zwei Paddler dort die Böschung herunter, um in ihr Boot, das dort vorübergehend an einem Baum vertäut war, einzusteigen. Der Hund reagierte darauf sehr aufgeregt und achtete vorübergehend überhaupt nicht mehr auf die Weisungen seines „Herrchens“. Er versuchte anscheinend zu erreichen, dass er von den beiden Paddelboot-Fahrern mitgenommen wurde, und kletterte ihnen nach. Dabei jaulte und bellte er mit einem Auf- und Zuklappen seines Mauls, das ich so noch nie bei einem Hund beobachtet hatte. Das wirkte auf mich, als wollte er mit Mundbewegungen die freundlichen Paddler und sein abweisendes Herrchen auf menschliche Weise ansprechen, damit sie ihn endlich verstehen.

  3. In meinem Kleingarten machte ich es mir beim Jäten gern bequem und saß dabei meist auf einem niedrigen Hocker. Einmal kam dabei ein Rotkehlchen angeflogen und fing an, die Ameisen (vielleicht zum „Emsen“) und andere Futtertiere aufzulesen, die ich mit dem Jätemesser freigelegt hatte. Es machte ihm offenbar nichts aus, wenn ich mit dem Hocker weiterrutschte, und als ich ihm als vermeintlichen Leckerbissen ein kleines Regenwürmchen zuwarf und es damit versehentlich am Flügel traf, flog es nur kurz auf, bis zu einem etwa ein Meter entfernten Ast, um sich dann gleich wieder mir zuzugesellen, bis auf etwa 30 – 40 Zentimeter vor meiner Fußspitze. Und als das Rotkehlchen offensichtlich satt war, guckte es mir weiterhin neugierig zu. Das wirkte auf mich sehr menschlich. Da kam dann die Frage auf, ob die Rotkehlchen (ich bin über die Jahre auch noch anderen zahmen Rotkehlchen begegnet, es kann nicht immer dasselbe gewesen sein) auf irgendeinem Wege, durch irgendeinen Überträger, etwas Menschliches in ihr eigenes Genom aufgenommen haben könnten, etwa die Kombination von kluger Angstbeherrschung und triebfreier Neugierde, ähnlich wie Marco und der Pudel, der mit ins Paddelboot wollte? Ist so etwas nur als Lernerfolg zu verstehen, oder könnte es sich hier um schon genetisch veränderte und vererbbare Lernbereitschaften handeln? Bei meinen drei Beispielfällen will ich das offen lassen. Aber sie haben mich immerhin zum Nachdenken angeregt.