2.3.9.3. Ist schon die befruchtete menschliche Eizelle ein Mensch mit Würde?

Im ersten Teil der Sachdiskussion greife ich zunächst Argumente auf, die von den Philosophen Gerold Prauss und Robert Spaemann vorgebracht worden sind. Sie suchen die Auffassung der katholischen Kirche zu unterstützen, dass schon die befruchtete menschliche Eizelle ein Mensch ist, und sogar Personalität und Würde, eben Menschenwürde aufweist und daher unbedingt und ohne Ausnahme vor Schädigung und Tod, insbesondere vor dem Getötetwerden geschützt werden muss. Im Folgenden beziehe ich mich zunächst auf den Freiburger Philosophen Gerold Prauss und seinen ganzseitigen Beitrag im Feuilleton der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) vom 28.11.2001. Die insgesamt polemische Tendenz dieses Aufsatzes beginnt schon mit der Überschrift: "Geprägte Form, doch zweckbewusst zerstückelt". Das ist, wie ein humanistisch Gebildeter erkennen kann, eine bissig verfälschende Anlehnung an das Gedicht "Urworte, orphisch" von Goethe, in denen die entsprechende Zeile korrekt lautet: "Geprägte Form, die lebend sich entwickelt". Die Polemik setzt sich fort im Untertitel, wo Prauss scheinheilig-unlogisch fragt: "Wann ist ein Mensch kein Mensch?", so als gehe es einem Biologen wie Hubert Markl darum, irgendwelchen Menschen ihr Menschsein abzusprechen. Man ist geneigt, Herrn Prauss schon mal zu erklären: Ein Mensch ist ein Mensch, er ist es morgens, mittags und abends, Tag und Nacht, solange er lebt. Aber, um ernsthaft fortzusetzen, die Frage, wann im Verlauf der Entwicklung aus der befruchteten menschlichen Eizelle schließlich ein Mensch im Vollsinn des Wortes geworden ist, die kann diskutiert und vielleicht auch geklärt werden. Ab wann er es für den rechtskundigen Richter ist, kann man im Kommentar von Eduard Dreher (1977) zum deutschen Strafgesetzbuch nachlesen (S. 835): "mit Beginn der Austreibungswehen", also mit dem Beginn des Geborenwerdens eines Menschen

So polemisch wie im Titel und Untertitel, so geht es auch im Text von Prauss weiter. Da geht es seiner Meinung nach der Biotechnik und der Bioindustrie um eine "viel weiter gehende Lockerung für das Verbot der Menschentötung", so als hätte es in unserer Bundesrepublik schon Versuche gegeben, Menschentötung zu erlauben. Prauss bezeichnet als Menschentötung die Tötung von Embryonen beim Schwangerschaftsabbruch und die Nutzung embryonaler Zellen ("Embryonen-Nutzung") durch die Biotechnik. Beides impliziert tatsächlich eine Tötung von Embryonen, aber sind menschliche Embryonen schon Menschen? Ist ihre Tötung, als "Menschentötung", wie Prauss unterstellt, einem Mord oder Totschlag gleichzusetzen, nämlich so wie Juristen das Töten eines Menschen verstehen? Prauss wehrt sich gegen die Vorstellung, dass Embryonen noch keine Menschen sind, und er bezieht sein Hauptargument aus der wiederum unstrittigen Tatsache, dass die Chromosomenzahl bei befruchteten Eizellen, Embryonen und Feten die gleiche ist wie bei den schließlich geborenen Menschen. Sie sei artspezifisch. Noch in diesem gleichen Satz spricht Prauss übrigens von "einer Art der Argumentation, bei der sich jedem, der mit Argumenten umzugehen gewohnt ist, nur die Haare sträuben können". Gerade so ging es mir bei seinem Sachargument, es komme beim Menschsein auf die Chromosomenzahl an. Sind etwa Menschen mit Down-Syndrom (früher als "Mongolismus" bezeichnet), die statt eines zweifachen Chromosoms 21 ein dreifaches haben, keine Menschen? Ich kann auch nur hoffen, dass kein Biologe überprüft, ob es außer den Menschen noch andere Lebewesen gib, die in ihrem Genom die gleiche Zahl von Chromosomen haben wie die Mehrzahl der Menschen.

Einigen Hintersinn hat die Argumentation von Prauss sehr wohl: Erstens schließt sie die noch haploiden Spermien des Mannes und die Eizellen der Frau, die vor ihrer Vereinigung noch den halben Chromosomensatz und insofern halb so viele Chromosomen haben, vom Menschsein aus, also davon, schon vor ihrer Vereinigung im Befruchtungsvorgang als winzige Homunculi und damit als Menschen betrachtet zu werden. Das ist auch gut so, denn sonst wäre ein nächtlicher oder durch Masturbation herbeigeführter Samenerguss der größte Massenmord der Weltgeschichte und das Kondom ein Vernichtungswerkzeug des Teufels. Zweitens, und von Prauss im weiteren Text stärker betont, soll wohl sein Argument pseudowissenschaftlich den unter heutigen Christen weitverbreiteten Glauben untermauern, dass das Menschsein mit dem Moment der Zeugung, also der Befruchtung einer menschlichen Eizelle durch ein Spermium, beginne. Ich habe das Wort "Glaube" verwendet, weil es in erster Linie christlich-scholastische Thesen sind, die eine Gottebenbildlichkeit des Menschen und die Beseelung der Leibesfrucht mit der Zeugung zur Voraussetzung haben. Übrigens wurde die Beseelung der menschlichen Leibesfrucht von der christlichen Glaubenslehre erst für den 40. Tag nach der Befruchtung angenommen, und zwar galt dieses Datum nur für das männliche Geschlecht. Dagegen meinte man, dass eine weibliche Leibesfrucht, aus welchem Grunde auch immer, erst am 80. Tag beseelt würde. Die genannten Fristen hatte schon Aristoteles gekannt, und über die katholische Scholastik wurde seine Auffassung weiter tradiert. Sie galt noch bis ins 19. Jahrhundert als päpstlich autorisiert. Erst dann wurde der Zeitpunkt der Beseelung ungeborener Mädchen auf den der ungeborenen Knaben zurückverlegt und damit gleichgesetzt, eine seit vielen Jahrhunderten überfällige Korrektur. Aber es fragt sich, ob damit der Zeitpunkt der Beseelung wirklich theologisch widerspruchsfrei angesetzt worden war. Die christliche Taufe eines Menschenkindes erfolgt nämlich weiterhin erst etwa eine Woche nach seiner Geburt. Offenbar will man lieber fertige Menschen taufen, und keine Feten oder Embryonen, so beseelt sie schon sein mögen, oder gar befruchtete Eizellen, die nach alter christlicher Auffassung überhaupt noch keine Seele haben.

Doch zurück zu dem eher philosophischen Inhalt der Argumentation von Prauss. Es geht ihm beim Menschsein zwar um das ganz spezielle Ich-Bewusstsein, über das vielleicht erst die gesund geborenen und mindestens ein paar Monate gut weiterentwickelten Menschenkinder erstmals in Ansätzen verfügen können; aber so, und diese Einschränkung ist Prauss wichtig, dass sie dieses Bewusstsein nur haben können und nicht etwa ständig haben oder sogar ständig haben müssen. Nicht die Wirklichkeit davon, also dieses Bewusstsein wirklich zu haben, sondern allein schon die Möglichkeit einer Fähigkeit dazu sei somit das Entscheidende. Und dafür sei, wie Prauss mehrfach betont, das Artspezifische der Chromosomenzahl von Menschen ein Merkmal, an dem wir die Möglichkeit des Menschseins erkennen könnten. Ich möchte dazu anmerken, dass auch Einzelzellen, die sich aus dem Gesamtverband "Mensch" herausgelöst haben, z.B. durch eine Abschürfung, dann immer noch die gleiche Chromosomenzahl haben. Sind sie dann etwa auch Menschen? Nur die menschlichen Geschlechtszellen, die nur den halben Chromosomensatz und insofern die halbe Chromosomenzahl haben, sind demnach garantiert keine Menschen, wenn auch zur Menschwerdung absolut unverzichtbar.

Aber es geht Prauss gar nicht um Biologie (kennt er sie überhaupt ausreichend?), sondern um eine philosophische Erklärung für das, woran er ohnehin glaubt. Und er glaubt offenbar, dass schon die befruchtete menschliche Eizelle eigentlich Mensch ist, vielleicht sogar schon menschliche Person mit menschlicher Würde, so wie es sein Philosophen-Kollege Robert Spaemann unter Rückgriff auf Aristoteles und scholastische Philosophie höchst kompliziert zu begründen versucht hat. Spaemann verwendet dazu sehr aristotelisch den Begriff der Potentialität, nämlich die Möglichkeit, die Fähigkeit für ein künftiges Tun oder Sein zu haben, was quasi als eine Art "Könnenkönnen" zu verstehen ist. Das wird aber von Prauss nicht näher erläutert, so dass ich jetzt versuchen werde, die Spaemannsche Begründung für die Prauss'schen Polemiken und Kurzschlüsse nachzuliefern.

Ich stütze mich in meiner Analyse zunächst auf eine Arbeit von Kai Haucke, Philosoph an der Universität Weimar. Er hat einen lesenswerten Aufsatz geschrieben mit dem Titel "Sind alle Menschen Personen? Anmerkungen zu Robert Spaemanns Begründung menschlicher Würde", erschienen in "Aufklärung und Kritik", 8. Jg., Heft 2/2001, S. 18 - 36. Haucke versucht auf diesen 19 Seiten, die Spaemannschen Theorien möglichst wortgetreu und sinngemäß wiederzugeben. Das ist ihm wohl weitgehend gelungen. obwohl er auf die Darstellung der letzten Verzweigungen und Verästelungen dieser Theorie verzichten musste. Aber ich kann diese immer noch komplizierte Zusammenfassung einer komplizierten Theorie nicht in Kürze referieren, und ich beschränke mich deshalb darauf, nur einige Gedanken von Spaemann wiederzugeben.

Spaemann räumt zunächst ein: der menschliche Embryo hat noch keine Hände, kein Gesicht, keine Empfindungsfähigkeit, und so etwas wie Selbstbewusstsein schon gar nicht. Aber er setzt dagegen, dass der Embryo all diese und andere (Merkmale und) Eigenschaften in sich trägt. Denn jedes menschliche Lebewesen enthält, weil es der Art Homo sapiens angehört, die Potenz zu den höheren menschlichen Fähigkeiten. Wenn wir es also mit einem menschlichen Wesen zu tun haben, das vom Menschen abstammt (ich ergänze: etwa eine befruchtete Eizelle oder menschliche Embryonen und Feten), dann müssen wir in ihm die Anlage zum Ich, zur Freiheit als Würde achten. Den Kern dieser Überlegung bildet also das sogenannte Potentialitäts-Argument, dass nämlich personales Sein wesentlich das Ergebnis einer Entwicklung ist, die als Ziel solche Personalität bereits voraussetzt. Daher ist nach Spaemann die Anlage oder Potenz zur Personalität selbst schon Personalität. Denn die im Menschen realisierten Eigenschaften sind schon als Möglichkeiten in einer sie tragenden Substanz angelegt. Die Wirklichkeit des substantiellen Trägers besteht schon vorweg darin, dass er sich später in bestimmten Möglichkeiten realisiert. So ist schließlich die befruchtete menschliche Eizelle Träger der Menschenwürde, und daher ist diese Eizelle unantastbar. Zentrum und Angelpunkt dieser Argumentation ist offenbar recht aristotelisch der Begriff der Potentialität, nämlich die Möglichkeit, eine Fähigkeit für ein künftiges Tun oder Sein zu haben, was ich abkürzend als "Könnenkönnen" bezeichnet habe.

Ich möchte jetzt zu erklären versuchen, wie ein Philosoph zu solch einer komplizierten theoretischen Konstruktion kommt. Spaemann schafft das durch die sukzessive Einführung von Begriffspfeilern und darüber errichteten Argumentationsbrücken, mit denen er ggf. weite Distanzen zwischen den unterschiedlichsten Gegebenheiten der Wirklichkeit überbrücken und damit solche Distanz scheinbar aufheben kann, bis zur eigentlich nicht vermuteten Identität. Ich möchte das veranschaulichen an einem fiktiven Dialog zwischen dem Philosophen und mir, seinem etwas skeptischen Gesprächspartner:

1. Da behauptet der Philosoph, die befruchtete menschliche Eizelle sei unantastbar.

2. Der Philosoph erklärt, sie sei unantastbar wegen ihrer Menschenwürde.

3. Er erläutert: Sie hat als menschliches Wesen Menschenwürde.

4. Der Philosoph bestätigt: Ja, der Eizelle kommt als einem menschlichen Wesen Menschenwürde zu, ihr gebührt Achtung.

5. Der Philosoph antwortet: In ihrer Möglichkeit, menschliche Personalität zu entwickeln, kommt ihr Menschenwürde zu.

6. Der Philosoph will es noch genauer begründen: Schon die Eizelle hat prinzipiell, "in nuce", die Möglichkeit, schließlich Fähigkeiten zu entwickeln, die nur menschlichen Wesen zukommen und die daher ihr Menschsein und ihre Menschenwürde ausmachen.

7. Der Philosoph antwortet: Die befruchtete menschliche Eizelle ist Träger von Möglichkeiten, Fähigkeiten zu entwickeln, die nur menschlichen Wesen zukommen und daher ihre Personalität und Menschenwürde ausmachen.

8. Aber der Philosoph rettet das Ganze, indem er zwei starke begriffliche Zwischenpfeiler einsetzt und abkürzend formuliert: Die menschliche Eizelle ist in ihrer Potentialität der Träger von Menschenwürde.

Für einen in Methoden der philosophischen Sprachanalyse ungeübten Leser mag diese Brückenkonstruktion nur schwer in ihrer Eigenstabilität und Tragfähigkeit einzuschätzen sein. In dem sich ausbreitenden Begriffsnebel verliert sich auch irgendwann, dass es eigentlich einerseits um befruchtete menschliche Eizellen ging, und dass man andererseits Würde wohl nur einem eher erwachsenen würdigen Menschen zusprechen kann, aber keiner Zygote, auch keiner menschlichen. Von solchen Realitäten ist dann nicht mehr die Rede. Wenn eine solche gedankliche Konstruktion in langwierigen Argumentationen unter Bezug auf Aristoteles und vielleicht Thomas von Aquin allmählich aufgebaut und mit noch weiteren Autoritäten abgestützt worden ist, ist der Leser am Ende versucht, dem Autor zu glauben, dass die befruchtete menschliche Eizelle wegen ihrer Menschenwürde unantastbar sei. Denn darum geht es ja eigentlich: um die Unantastbarkeit, also um ein Tabu, das sogar das Nachdenken über diese Probleme als böse oder gefährlich erscheinen läßt.

Offenbar soll ja dieser Effekt erzielt werden. Denn dass die befruchtete menschliche Eizelle von Anfang an Mensch ist, von Gott so geschaffen oder jedenfalls als existent gewollt, ein schon beseeltes Menschenwesen, das für Menschen "unverfügbar" ist und von der Kirche gegen alle Abtreibungsversuche geschützt wird, das wird schon vorausgesetzt. Das ist auch für Spaemann, noch vor jedem Rückgriff auf aristotelisch-scholastische Philosophie, schon eine unbezweifelbare Glaubenswahrheit, an der nicht zu rütteln ist, die vielmehr mit aller sprachlicher Spitzfindigkeit und anderen Mitteln gestützt werden muss. Der Philosoph Spaemann muss nicht dazu gezwungen werden. Für ihn ist das eine freiwillige Gehorsamspflicht. Aber sollten wir ihm wirklich Glauben schenken? Philosophische Laien könnten dazu geneigt sein. Sie denken: Ein so klug daherschreibender Philosoph, dessen Überlegungen man kaum folgen kann, der wird es schon wissen. Wer traut sich da schon zu, ihm Fehler nachzuweisen? Oder ihm einfach nicht zu glauben, und stattdessen die Dinge mit eigenen Augen direkter und dadurch auch klarer zu sehen?

So etwas kann höchstens ein Kind, vielleicht eines von der Art wie in dem schönen Märchen "Des Kaisers neue Kleider". Auch Erwachsene erinnern sich wohl noch daran: Ein Schneider, ein Filou und Gauner, hat den Kaiser und seinen Hofstaat glauben machen können, dass er dem Kaiser ein Gewand aus allerallerfeinstem Stoff geschneidert hätte, das dieser nun angezogen habe. Tatsächlich aber hat der Kaiser gar nichts an, doch er selbst glaubt und die anderen bestätigen ihm, dass er festlich fein gekleidet sei. Als der Kaiser in seinen "neuen Kleidern" in aller Öffentlichkeit mit seinem Hofstaat promenierte, sieht ihn ein kleines Kind und ruft: "Guck mal, der Mann da hat ja gar nichts an, der ist ja nackt!" Solch eine kindliche Direktheit und zugleich Offenheit für erfahrbare Realität könnte man sich auch in manchen philosophischen Streitfragen wünschen. Wenn das Kind unsere Diskussion verfolgt hätte, könnte es etwa fragen: Wie groß ist eigentlich die Eizelle? ... Wie kann sie dann die Würde tragen? Ist sie ein richtiger Würdenträger? Kann sie sprechen und denken? Sieht sie aus wie eine Frau oder ein Mädchen? Und wie macht sie es, wenn sie mal Pipi machen muss? Trägt sie noch Windeln oder ist sie schon angezogen? Solch kindliches Fragen nach dem Menschsein der Eizelle könnte ein Philosoph natürlich als konkretistisch abtun, aber ich denke, dass es berechtigt ist, selbst wenn solche Fragen von Erwachsenen gestellt werden, z.B. die Frage: Kann man schon an der Eizelle, ohne genetische Analyse, erkennen, ob oder dass sie ein Mensch ist?

Es wird also vom Menschsein der befruchteten Eizelle gesprochen, von ihrer Potentialität, von ihrer Möglichkeit, Fähigkeiten zu entwickeln, die das Menschsein ausmachen. Dabei sehen Philosophen wie Spaemann in alter aristotelischer Tradition die Potentialität der befruchteten Eizelle schon als das Besondere an ihr an und setzen dies anthropologisch mit dem Menschsein und christlich-weltanschaulich mit der Gottebenbildlichkeit gleich. Die philosophische Position hat somit leicht erkennbar einen Glaubenshintergrund, nämlich den Glauben an die Mitgezeugtheit der Seele mit dem Körper und dem entsprechend an das Mitweiterleben des Körpers mit der Seele nach der Auferstehung. Es ist zwar nicht leicht zu verstehen, wie dies alles sein soll, und wie es mit biologischen Erkenntnissen vereinbar sein sollte, aber es wird dennoch in mehr oder weniger strenger Form geglaubt. Dahinter stehen alte Überzeugungen, dass nach der Zeugung der Mensch schon als ein winziger Homunculus da ist, quasi ein extrem miniaturisierter Erwachsener, der natürlich auch über die Seele verfügt, deren Reinhaltung von Sünden und deren Weiterleben nach dem Tode, verbunden mit der Auferstehung des Leibes, dem erwachsenen Gläubigen so wichtig ist, während unmündige Kleinkinder und nicht-christliche Erwachsene keine blasse Ahnung davon haben. Aber es könnte ja irgendetwas dran sein an solchen Vorstellungen, vielleicht auch etwas, was wir im Kontext mit der Gentechnik zu beachten haben. Das wäre zu überprüfen. Aber mir liegt eine andere Einschätzung näher: Von den genannten theologischen oder eher noch Glaubens-Voraussetzungen her den "absoluten Schutz der Menschenwürde der befruchteten Eizelle" abzuleiten, so wie das Spaemann versucht hat, das muss schon als reife apologetische Leistung bewertet werden. Denn die dazu nötige Argumentation war wirklich kompliziert und höchst knifflig, nur von einem sprachlich versierten Menschen zu schaffen.

Im Anschluss an Spaemanns Überlegungen habe ich über mögliche systemimmanente Konsequenzen nachgedacht, die sich aus seiner Argumentation ergeben könnten. So frage ich: Sollten alle befruchteten menschlichen Eizellen direkt nach der Befruchtung auch getauft werden, weil sie ja ohnehin schon potentiell Menschen sind und damit auch potentiell Christen sein könnten, vielleicht sogar sein sollten? Demgemäss sollten auch spontan abgegangene befruchtete Eizellen ein christliches Begräbnis bekommen, schon wegen ihrer Potentialität, ein Christ zu werden, aber erst recht wegen der Faktizität, schon ein Christ zu sein, falls sie direkt nach der Befruchtung getauft worden waren. Man könnte sogar so weit gehen, schon menschliche Spermien und Eizellen vorsorglich zu taufen, erstens weil sie zwar nur den halben Chromosomensatz, aber darin doch die gleiche Chromosomenzahl haben, und zweitens, weil sie schon die Potenz in sich haben, sich miteinander zu einer befruchteten Eizelle zu vereinigen und damit schon ein potentieller Mensch zu werden, oder noch genauer im Sinne von Spaemann: potentialiter schon ein Mensch mit Personalität und Würde, und schließlich natürlich auch ein Christ zu sein; potentialiter Christ zu sein, versteht sich. Warum also "den Menschen" nicht schon vor seiner Geburt taufen, vorsorglich, in einer Art Nottaufe, bevor er vielleicht stirbt oder von anderen getauft wird, die nicht den wahren Glauben haben? Und nicht erst nach seiner Geburt! Tatsächlich aber scheint es für die meisten christlichen Eltern sinnvoll zu sein, ihr Baby erst etwa eine Woche nach seiner Geburt taufen zu lassen, nachdem sie ihm zuvor schon kurz nach der Geburt einen selbst gewählten Vornamen gegeben haben, der dann standesamtlich eingetragen wurde. Das schließt nicht aus, dass schon die prospektiven Eltern, die im Monitor des Ultraschallgeräts die von der Nabelschnur gehaltene heranwachsende Leibesfrucht im Fruchtwasser herum spaddeln sehen konnten, dass sie dieses kleine Wesen dann zärtlich "unser Murkelchen" nennen. Aber vom Standesamt würde der Name "Murkelchen" wohl nicht akzeptiert werden, auch nicht, im Falle von Zwillingen, "Hutzelchen" und "Putzelchen".

Erlauben Sie mir bitte, dass ich im Folgenden die Spaemannsche These, schon die befruchtete Eizelle sei potentiell und damit tatsächlich ein Mensch mit Personalität und Würde, mit einigen außertheologischen Gegenproben überprüfe. Die erste Gegenprobe: Das Kind ist doch sicher ein "potentieller" Erwachsener, da es ja erwachsen werden kann. Ist es daher "eigentlich" ein Erwachsener? Ich meine, es ist eigentlich ein Kind, und später wird man von einem Teenager sprechen, und irgendwann wird man einen Erwachsenen vor sich haben, der dann wirklich, und eigentlich, ein Erwachsener ist. Aber es gibt auch Kinder, die nicht erwachsen werden, entweder weil sie schon als Kind oder Jugendlicher zu Tode gekommen sind, oder weil sie bis ins Erwachsenenalter ein kindliches Gemüt bewahrt haben oder gar im eher negativen Sinne kindisch bleiben. Dann waren sie wohl als Kinder auch potentiell keine Erwachsenen. So gibt es auch keine potentiellen Christen oder potentiellen Heiden. Sie sind Christen, sobald sie christlich getauft sind, oder sie sind "Heiden", wenn sie als Nicht- oder Andersglaubende von Christen so bezeichnet werden. Vorher, z.B. als sich entwickelnde Leibesfrucht, hat ihr späteres Christ- oder Heide-Sein keine Konsequenzen für den Umgang mit ihnen, sollte jedenfalls keine haben. Und schließlich: Was macht man mit potentiellen Massenmördern, bevor sie mit dem Morden begonnen haben? Wenn etwa Adolf Hitler als Erwachsener ein Initiator von Massenmord war, er war es ganz sicher, wenn dies also weitgehend sein personales Sein ausmachte, war er dann schon vor seiner Geburt potentialiter ein Massenmörder, den seine Mutter, wenn sie es hätte wissen können, besser abgetrieben haben sollte? Natürlich nicht. Jedes Kind soll gleiche Chancen haben, gesund zur Welt zu kommen und sich weiter zu entwickeln, und schlimme Taten kann man ihnen erst zurechnen, wenn und nachdem sie welche begangen haben. Das gilt sinngemäß auch für gute Taten, auch für das höchste Maß an Würde: diese Würde kommt einem Menschen erst zu, wenn er durch die Art, wie er lebte und handelte, Würde erlangt hat, manchmal erst als Nachruhm nach seinem Tod.

Ein weiteres Beispiel: Soldaten, wie im Prinzip jeder Mensch, könnten Menschen ermorden. Allerdings könnten Soldaten dazu auch ihre Waffen nutzen, während ein waffenloser Mensch schon einigermaßen findig sein muss, um an Mordwerkzeuge zu kommen und um sie mit dem gewünschten Effekt zu nutzen. Dagegen sind Soldaten im Gebrauch von Waffen ausgebildet und in vielen Fällen auch bewaffnet. Aber sind sie deshalb schon "Mörder"? So wie es auf den Plakaten stand: "Soldaten sind Mörder!" Kann man das wirklich mit Recht behaupten? Ich habe da starke Zweifel. Und noch einen Schritt weiter: Sollte man, so wie man menschliche befruchtete Eizellen wegen ihres Menschseins vorsorglich schützt, sollte man dementsprechend Soldaten als "potentielle Mörder" vorsorglich bestrafen? Lebenslänglich? Ich denke, das würde zu weit gehen. Schon der Gedanke geht zu weit, ich bitte dafür um Entschuldigung. Aber es ist doch etwas dran an dieser Überlegung, denn "Potentialitäten" können zur vorwegnehmenden oder nachträglichen Schuldzuschreibung dienen: "Du hättest doch dies und jenes Gute tun können. Warum hast du es dann nicht getan? Wenn du es "potentiell" konntest, hättest du es auch "aktuell" tun müssen. Aber du hast es nicht getan, und gehörst deshalb wegen schuldhaften Nichttuns bestraft. Und in deiner Verstocktheit schämst du dich nicht einmal; bereue es wenigstens und büße dafür! Wie konntest du nur deine Potentialität so ungenutzt lassen oder sogar missbrauchen?!"

Das Ergebnis dieser Überlegungen: Wer die "Potentialität" besitzt, einen Ideal- oder Endzustand zu erreichen, befindet sich damit noch nicht in diesem Ideal- oder Endzustand, sondern könnte noch längere Zeit im Anfangszustand oder in irgendwelchen Zwischenzuständen bleiben. Vielleicht erreicht er den idealtypischen Zustand nie. Oder kürzer: Das philosophische Reden von der "Potentialität" ist, scharf formuliert, ein Geschwafel. Die damit versuchte Argumentation bricht bei der nächstbesten Gegenprobe zusammen.

Ich knüpfe jetzt wieder an die Überlegungen von Spaemann an. In einer geringfügigen Umformulierung könnte ich sagen: "Schon die befruchtete menschliche Eizelle hat eine ganz entfernte Möglichkeit, irgendwann nach Abschluss ihrer Entwicklung bis zum neugeborenen Kind und noch danach die Fähigkeiten zu erwerben, die das eigentliche Menschsein ausmachen". Denn man kann natürlich spekulieren, dass schon die befruchtete Eizelle "in nuce" (in der Nuss-Schale, "im Kern") eigentlich schon alle diese Entwicklungsmöglichkeiten "hat". Aber wir sollten an diese Problematik besser nicht weiter theologisch-philosophisch, sondern biologisch herangehen. Und in dieser Hinsicht stimmt Spaemanns Behauptung einfach nicht! Die befruchtete Eizelle selbst, solange sie noch eine Eizelle ist, hat die behaupteten Möglichkeiten natürlich noch nicht. Sie hat noch längst nicht die eigentlich menschlichen Fähigkeiten, die sich ja erst nach der Geburt und in der frühen Kindheit entwickeln müssen. Die Eizelle selber hat nur die eine weiterführende Möglichkeit, nämlich ihre Fähigkeit, sich zu teilen, und das war's dann auch schon. Sie ist aber noch kein Mensch, auch nicht "potentialiter", sie ist noch keine Person und sie hat noch keine Würde, die jemand verletzen könnte. Das eben Aufgezählte kann sich erst in späteren Entwicklungsstufen herausbilden. Auf jeweils aufeinander folgenden Stufen der Selbstentwicklung bilden sich allmählich weitere Fähigkeiten heraus, wobei jede Stufe voraussetzt, dass vorhergehende Stufen erreicht und gemeistert werden konnten. Damit eine solche Entwicklung überhaupt in Gang kommt, muss sich die befruchtete Eizelle wenigstens teilen. Und schon ist sie keine befruchtete Eizelle mehr, sondern sie wird zum Zellhaufen, dieser (und nicht die Eizelle!) wird zum Embryo, dieser wird zum Fetus, dieser wird zum Menschen, nämlich dann wenn er - möglichst gesund und voll ausgebildet - lebensfähig geboren wird.

Auf dem Weg bis dahin kann noch manches schief gehen, und dies schon ganz am Anfang, denn eine befruchtete menschliche Eizelle, die sich nicht weiter teilt, sondern abstirbt, hatte offenbar nicht einmal die Möglichkeit zur Teilung, geschweige denn zum Menschsein! Und auf jeder weiteren Stufe könnte das werdende menschliche Leben, könnte der Embryo, der Fetus, auch erkranken und sterben, noch bevor er die Chance hatte (die von Spaemann beschworene Möglichkeit), mit der Geburt ein Mensch zu werden. Viele "potentielle Menschen", wie ich sie mal mit Spaemann nennen möchte, erreichen das aktuelle Menschsein nicht. Dies ist wohl kein so großes Unglück, wenn man bedenkt, wie viele Milliarden Menschen die Erde jetzt schon bevölkern und durch ihre schiere Überzahl die letzten materiellen (Ackerboden, Wasser, Erdöl, etc.) und pflanzlich-tierischen Ressourcen unseres Planeten auspowern. Die Chinesen haben auf diesen Sachverhalt ganz nüchtern reagiert. Bei ihnen gilt es als moralisch, die Potenzen zur weiteren Vermehrung von Chinesen, über die sie durchaus verfügen, nicht im bisherigen Ausmaß zu nutzen, sondern das Kinderkriegen auf ein Maß zurückzuführen, das zur Erhaltung des eigenen Volkstums völlig ausreicht. Aber es sollte auch für andere Bewohner dieser Erde gelten, dass eine Reduzierung des Bevölkerungswachstums den Völkern und ihren z.T. schon schlimm geschädigten Umwelten gut tun könnte. Nicht jede menschliche Eizelle muss also befruchtet werden, und nicht jede befruchtete Eizelle muss ausgetragen werden. Dies Wort in Gottes und seines Stellvertreters Ohr!

Aber unter günstigen Umständen, wenn nach der Befruchtung jeder gelungene Entwicklungsschritt zur normalen Weiterentwicklung beiträgt, kann sich das einmal geborene und lebensfähige und gesunde Kind auch den Entwicklungsstufen nähern und die Kompetenzen erwerben, die nach Meinung mancher Philosophen das eigentliche Menschsein ausmachen. Für diese Philosophen ist dies etwa die Fähigkeit, als Person eine eigene Identität in der Unterscheidung von anderen Lebewesen und Menschen selbst empfinden zu können, oder die Fähigkeit, sich reflexiv zu sich selbst zu verhalten ("seine Natur zu haben" statt sie nur zu sein), als Person eine Rolle zu spielen und mit anderen Personen auch neue Kontakte aufzubauen und verlässliche Kontrakte zu schließen, und schließlich ggf. sich in seiner Selbstachtung verletzt zu fühlen, wenn man von Mächtigen gedemütigt und dadurch in seiner natürlichen oder sogar gehobenen Würde beeinträchtigt wird.

Ich meine aber, dass man von diesem durch kognitive Fähigkeiten ausgezeichneten Menschsein, wie die Philosophen es sehen, ruhig weiter zurückgehen könnte (und sollte), zum Beispiel bis zum ersten Lächeln des Babys etwa in der 5. Woche, das nun wirklich ein exquisit menschliches Lächeln ist, oder sogar bis zum ersten Schreien des Neugeborenen gleich nach der Entbindung. Denn welche empfindungsfähige Frau, jedenfalls die Mutter ihres neugeborenen Babys, würde daran zweifeln, dass es ein menschliches Babyschreien ist, das die Mutter dazu bringt, ihr Baby an ihrer Brust zu bergen und es zu stillen, oder das zitternde Baby zu wärmen, oder das in vollgekoteten Windeln verpackte Baby zu säubern? Aber erst lange nach seiner Geburt kann ein Kind zur selbstverantwortlichen Person werden, und es könnte dann auch in seiner Selbstachtung bestätigt und verletzt werden, und demselben Menschen könnte noch später, als einem schon Erwachsenen, auch Würde zukommen, was schon deutlich mehr ist als bloße Selbstachtung und Bestätigung durch andere. Dennoch gilt: schon das schreiende Neugeborene und der bezaubernd lächelnde Säugling sind Menschen, mit allen Rechten, die ihnen als Menschen zukommen, und noch ganz ohne Pflichten. Sie bleiben Mensch, bis sie am Ende eines möglichst menschenwürdigen Lebens gestorben sind.

Da kommt mir noch eine Gegenprobe zu Spaemanns Thesen in den Sinn. Schon Sokrates wusste es, und es gilt unter Logikern weiterhin der Satz: "Alle Menschen sind sterblich". Aber ist damit jeder Mensch "potentialiter" eine Leiche? Dieser Gedanke konnte nur bei Gnostikern und frühen Christen aufkommen, die dann tatsächlich meinten, ihr irdischer Leib sei so etwas wie ein Kadaver oder aber ein Sarg für ihre unsterbliche Seele. Aber es spricht dennoch alles dagegen, den Menschen wegen seiner Sterblichkeit (sie geht im hohen Alter gegen 100%) schon bei Lebzeiten als Leiche zu behandeln. Ihn so zu behandeln erscheint erst dann als angemessen, wenn er wirklich tot ist. Doch wer leben will und kann, der soll, wenn er einmal da ist, leben können, und zwar so gut wie möglich! Andererseits denke ich, als ein 76jähriger Mensch denke ich so, dass nicht jeder, der an einer nicht mehr behandelbaren Krankheit ohne intensivmedizinische Versorgung in etwa einer Woche sterben würde, stattdessen über Monate oder gar Jahre künstlich am Leben erhalten werden muss. Was mich selber betrifft, wäre ich entschieden dagegen!