2.3.9.5. Probleme der Güterabwägung

Es galt schon seit jeher als angemessen, Menschen zu rühmen, die ihr Leben für andere Menschen aufgeopfert haben. Sogar jemand, der beim Versuch, ein liebenswertes Haustier, z.B. seinen Hund zu retten, sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, kann unseren Respekt verdienen, um so mehr die Mütter und Väter, die ihr Leben füreinander und für das Leben ihrer Kinder geopfert haben oder auch Lehrer für das Leben ihrer Schutzbefohlenen. Ein anderes Beispiel: "Ladies and children first", das ist beim drohenden Schiffsuntergang beim panischen Gedrängel vor den Rettungsbooten ein hoch anerkannter Imperativ. Offenbar ist das Leben von Frauen mit ihren Kindern ein höherer Wert im Vergleich mit dem Lebenswert alter Herren, denen das Ertrinken schon eher zugemutet werden kann, besonders wenn es sich um schon pensionierte alte Seeleute handelt. In diesem Falle ist das eigene Leben jedenfalls nicht der höchste Wert, sicher nicht für den Kapitän, der als Letzter sein Schiff verlässt. Und wer sorgt sich nicht um das Leben der nächsten Angehörigen, auch um das Leben der Freunde und Mitkämpfer für eine gute Sache?

Aber ich will noch ein Beispiel bringen, das in letzter Konsequenz auch mit Wertunterschieden menschlichen Lebens zu tun hat, nämlich mit dem Problem, wer in einer Katastrophen-Situation zuerst und zunächst medizinisch versorgt und damit gerettet werden soll, wenn man nämlich nicht gleich alle behandeln und retten kann, weil zu wenig Helfer und Retter, z.B. Unfallärzte, zur Verfügung stehen. Das kann diese Helfer vor Gewissensfragen stellen: wenn bei einer Katastrophe mit vielen Verletzten zu rechnen ist, mit leichten bis zu allerschwersten Verletzungen, wen behandelt und rettet dann der Arzt zunächst? Natürlich nicht die Leichtverletzten, weil die sich zum Teil selber oder gegenseitig helfen können und noch gut und gern weitere Minuten oder eine Stunde aushalten können, bis auch sie gründlicher versorgt werden. Zum Teil können sie auch selbst noch den Unfallort verlassen und mitmenschliche und des weiteren ärztliche Hilfe aufsuchen. Also dann besser die Schwerstverletzten, die schon am Sterben sind? Auch mit denen befasst sich der Arzt nicht als erstes, weil er dadurch riskieren müsste, viel Zeit und Kraft und Material einzusetzen, ohne den schließlich dennoch eintretenden Tod verhindern zu können. Denn es könnte ja sein, dass er einen solchen Patienten behandelt und behandelt und dann sehen muss, wie der Patient unter seinen Händen stirbt; und andere, die er in dieser Zeit unbehandelt gelassen hatte, starben inzwischen auch, auch wenn sie zunächst bessere Chancen hatten, am Leben zu bleiben, z.B. wenn rechtzeitig eine Mindestbehandlung, etwa das Stillen einer arteriellen Blutung, durch Abbinden einer Arterie durchgeführt oder angeordnet werden konnte, damit der Verletzte nicht verblutet. Was bleibt also dem Arzt, wenn er denn schon auswählen muss, als vorrangig zu tun? Es sind die mittelschwer Verletzten, denen er sich bevorzugt zuwendet, denn diese haben seine Hilfe nicht nur dringend nötig, sondern sind auch noch in der Verfassung, von ihr profitieren und nach kompetenter ärztlicher Behandlung überleben zu können. Es geht hier um die alten Prinzipien der "Triage", über die der Brockhaus lakonisch-sachlich informiert: "Triage-Index, in der Katastrophenmedizin gültige Zusammenstellung von Kriterien zur Festlegung der Dringlichkeits-Reihenfolge bei der Versorgung einer größeren Anzahl von Verletzten; Priorität haben hierbei bedrohliche Schädigungen, bei denen eine Therapie, ggf. durch Weitertransport in Spezialeinrichtungen, erfolgversprechend ist; zurückgestellt werden Leichtverletzte wie auch Schwerverletzte mit geringer Überlebenschance". So plausibel eine solche Auswahl ist, so wird sie doch interessanterweise wie ein Staatsgeheimnis behandelt; Mediziner sprechen nicht gerne darüber und es ist auch nur selten und sehr versteckt etwas darüber zu lesen. So kommt das Stichwort "Triage" im DGB-Lexikon der Medizin (auf immerhin 750 Seiten) vorsichtshalber gar nicht erst vor, als wäre es etwas Anrüchiges, etwas Unmoralisches, im Katastrophenfall bewusst zu unterscheiden und auszuwählen, wessen Leben im Vergleich zu anderem Leben vordringlicher und effektiver gerettet werden sollte. Ich kann in einer Optimierung der Hilfe durch gezielte Auswahl derer, die sie als erste und damit bevorzugt erhalten, nichts Unmoralisches erkennen. Warum sollte man nicht zuerst denen helfen, die diese Hilfe nicht nur dringend brauchen, sondern auch noch etwas davon haben? Aber eine solche Auswahl (nennen wir sie ruhig "Selektion"!) impliziert eben auch die Frage, wessen Lebenserhaltung und damit wessen Leben der Retter in der gegebenen Situation den höheren Wert zuerkennen sollte. Aber ist denn eine Güterabwägung (unter der Voraussetzung, dass es sich in beiden oder in allen verglichenen Fällen wirklich um Güter handelt) per se unmoralisch? Nein, sie ist sogar ganz oft geboten, so in unserem Rechtswesen und auch im Alltag. Und auch das Leben unterliegt der Güterabwägung, dem Prinzip, im Konfliktfall ein augenscheinlich (auch rechtlich) höheres Gut dem "geringerwertigen" Gut vorzuziehen, auch wenn dieser nur relativ geringere Wert keineswegs eine Abwertung etwa gar bis zum Unwert bedeutet.

Wir kommen damit zu den juristischen Problemen, die für die Gentechnik relevant werden. Das eben angesprochene Prinzip der Güterabwägung kann ich am Besten verdeutlichen unter Bezug auf den § 34 des StGB über den rechtfertigenden Notstand und auf den dazu juristisch erarbeiteten Kommentar von Eduard Dreher (C. H. Beck, München, 1977). Ich gebe ihn in eigener Zusammenfassung sinngemäß wieder: Es kann vorkommen, dass ein Handelnder, um eine Gefahr von einem Rechtsgut abzuwenden, eine Tat begeht, mit der er ein anderes Rechtsgut verletzt. Das wird als Interessenkollision (in anderem Kontext - § 32 - auch als Pflichtenkollision) bezeichnet. Vor dem Gesetz gerechtfertigt ist eine solche Handlung nur, wenn das eine Interesse, das er zu schützen versuchte, in seinem Rechtswert das durch sein Handeln beeinträchtigte andere Interesse wesentlich überwiegt. Zwar ist schon jeder Handelnde verpflichtet, das Für und Wider und die Angemessenheit seines Handelns abzuwägen, wenn er mit ihm Rechtsgüter verletzen könnte; aber die schließlich urteilsrelevante Güterabwägung bzw. die Abwägung der einander widerstreitenden Interessen muss dann vom Gericht vorgenommen werden. Dabei sind sämtliche für die Bewertung bedeutsamen Umstände zu würdigen, insbesondere sind die betroffenen Rechtsgüter nach deren verschiedenem Wert zu vergleichen. Im Kommentar 10 heißt es (sinngemäß): Auch wenn eine Rangordnung der Rechtsgüter in einer pluralistischen Gesellschaft auf Schwierigkeiten stößt, kann doch die Reihenfolge der im § 34 genannten Rechtsgüter (Leben, Leib = körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut) einen Anhaltspunkt geben, ebenso wie die unterschiedlichen Grade des rechtlichen Schutzes, die ihren Ausdruck in den Strafandrohungen bei Verletzung dieser Rechtsgüter finden. So können Rechtsgüter der Allgemeinheit vor solchen des Einzelnen rangieren. Im Falle der Notwehr ist eine durch das Angegriffenwerden gebotene Tat nicht rechtswidrig. Als Notwehr gilt die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich selbst oder von einem Anderen abzuwenden. In diesem Falle ist eine schuldausschließende Pflichtenkollision sogar schon dann gegeben, wenn der Täter, um ein bedrohtes Rechtsgut, nämlich sein eigenes Leben, zu retten, ein anderes gleichwertiges Rechtsgut (das Leben des Angreifers) "aufopfern" muss. Insgesamt ist die Güterabwägung das im Konfliktfall naheliegende Prinzip, ein rechtlich höherwertiges Gut dem geringerwertigen Gut vorzuziehen, was schon wieder eine Selektion beinhaltet.