2.3.9.6. Wer ist "ein Mörder"?

Wenn nun im Rahmen einer Güterabwägung speziell über den Schutz und den Wert des Lebens nachgedacht wird, muss auch über die allfällige Vernichtung des Lebens, also über das Töten und den Mord gesprochen werden. Lebendiges zu töten war den Menschen früher ganz vertraut, schon den Sammlern und Jägern, denn die Jagd hatte das Töten und Verzehren von Tieren zum Ziel. Auch dass sie Früchte und Körner sammelten, junge Triebe und saftige Gemüse ausrupften und aßen, und diese damit ihres aktuellen bzw. zukünftigen Eigenlebens beraubten, war so selbstverständlich wie das eigene Leben. Dazu gehörte, dass Viehzüchter ihre Herdentiere selber schlachteten und ihr Fleisch verzehrten, dass Gärtner und Ackerbauern Unkraut jäteten, Schädlinge und Ungeziefer bekämpften, Hühnerdieben Fallen stellten. Erst mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften können Menschen auch wissen, dass sie in der Lage sind, mit bestimmten organischen oder chemisch hergestellten Stoffen Abermillionen von Bakterien zu vernichten; nur die Vernichtung der Viren und der Prionen ist noch nicht so richtig erreicht, aber speziell im Falle der zu AIDS führenden HIV-Infektion doch sehr zu hoffen, auch wenn dies dann Milliarden von immerhin vermehrungsfähigen Viren treffen und töten könnte.

Für diese verschiedenen Arten, lebendige Wesen zu töten (genauer: um eines höherwertigen Gutes willen ihren Tod ggf. fast gedankenlos in Kauf zu nehmen, aber ihn auch bewusst anzuzielen), hat man seit alters her unterschiedliche Wörter verwendet: z.B. werden Wildtiere gejagt und erlegt (keinesfalls "ermordet"), Haustiere werden geschlachtet, Raubzeug wird mit Fallen unschädlich gemacht, Ungeziefer wird bekämpft und vom Schädlingsbekämpfer vernichtet (obwohl beim Wort "Kammerjäger" noch das Jagen ggf. einer einzelnen Ratte anklingt). Auch auf pflanzliches Leben bezogen gibt es solche sprachlichen Unterscheidungen: Früchte und Nüsse werden gepflückt, Getreidesamen werden geerntet, Rüben werden gerodet, Unkraut wird gejätet usw. Von "Mord" ist in all diesen Fällen nicht die Rede.

Sogar auf Menschen bezogen gab und gibt es differenzierende Wörter: der Verbrecher wurde "hingerichtet", der Fahnenflüchtige wurde "standrechtlich erschossen", die Ungläubigen oder auch nur Andersgläubigen wurden in alttestamentarischen Zeiten "dem Bann oder der Vernichtung geweiht", die gefangenen Feinde wurden "dezimiert" (das traf jeden Zehnten), sie wurden ausgeräuchert, niedergemäht. Ich will diese Aufzählung nicht weiter fortsetzen, weil sie jetzt immer schlimmer wird, bis zum so abstrakten Wort "Endlösung", mit dem ein ganz konkreter Massenmord, der schrecklichste der Geschichte, bürokratisch neutralisiert und entschärft wurde. Es sind natürlich im Effekt alles Tötungen, aber ist es in allen Fällen, bis hinunter zum Nüsse knacken, auch "Mord"? Metzger sind natürlich für den Durchschnittsbürger keine "Mörder", wenn sie Schweine oder Rinder schlachten und zerlegen; jedenfalls wird kein deutscher Richter und Strafrechtler ihnen Mordlust, Heimtücke, Grausamkeit oder Wollust oder andere niedrige Beweggründe unterstellen oder ihnen Gemeingefährlichkeit attestieren und sie aus diesem Grunde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilen wollen. Er könnte es auch gar nicht. Auch Ärzte, die bei einer Antibiotika-Behandlung den Tod von Millionen Bakterien nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern ausdrücklich anzielen (sie verwenden ja Anti-Biotika!), sind deshalb noch keine Mörder, noch nicht einmal Totschläger, selbst eine fahrlässige Tötung wird man ihnen nicht vorwerfen können, wo sie doch nur menschliches Leben zu retten versuchen; und wenn sie auf Antibiotika verzichten würden, könnte das als unterlassene Hilfeleistung bewertet werden.

Viel eher sollte man den fahrlässigen bzw. absichtlichen Missbrauch der Wörter "Mord" und "Mörder" ankreiden, wenn es dabei eigentlich um Sachverhalte geht, die mit dem, was unser Strafgesetzbuch (§ 211) unter "Mörder" versteht, rein gar nichts zu tun haben. Deshalb die Frage: wie geht das Strafrecht bis heute noch und wohl auch in ferner Zukunft mit diesen Begriffen um? Ich zitiere aus dem Strafgesetzbuch den § 211: "Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln, oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet" (meines Erachtens sollte in diese Aufzählung aufgenommen werden: "...und aus ideologischen oder religiösen Gründen ..."). Davon wird unterschieden, aber immer noch auf Menschen oder Menschliches bezogen, Totschlag (§ 212), Tötung auf Verlangen (§ 216), Kindestötung (§ 217), Abbruch der Schwangerschaft (§ 218), fahrlässige Tötung (§ 222). Diese Straftaten werden von unserem Recht nicht als Mord geahndet, und zwar aus guten Gründen. Und das Schlachten von Tieren und die Schädlingsbekämpfung und das Ernten und Verzehren pflanzlichen Lebens werden in diesen Paragraphen nicht einmal erwähnt.

Es sollte mit dieser Aufzählung verdeutlicht werden, dass es ins Absurde führt, das fünfte Gebot, das eigentlich zunächst den Mord an Angehörigen des eigenen Stammes und zugleich der eigenen Glaubensgemeinschaft verbot, zu verallgemeinern zu einem Tötungsverbot gegenüber allem Tötbaren, nämlich allem Lebendigen. Es sollte dann auch klar werden, dass jemand zum Mörder wird, wenn er erstens einen oder viele Menschen tötet, und dies zweitens in einer besonders niedrigen Gesinnung und Motivierung. Der Mord ist außerdem ein weitaus schlimmeres Delikt als der Totschlag oder die Tötung aus Notwehr oder die fahrlässige Tötung und die Abtreibung. Auch in ihnen geht es auf unterschiedliche Weise um die Tötung von eines Menschen oder der menschlichen Leibesfrucht, aber sie führen keineswegs, wie beim Mord, dem schlimmsten Verbrechen, zum lebenslangen Freiheitsentzug, sondern sie können wie im Fall der Abtreibung unter bestimmten Umständen sogar von Strafe verschont bleiben.

Dabei ist noch zu fragen, ab wann ein menschliches Leben wirklich und im Vollsinne Mensch ist, schon als befruchtete Eizelle oder erst irgendwann später. Seit alters her läßt man das Menschsein erst mit der Geburt beginnen, wenn der Mensch als männlich oder weiblich identifiziert werden kann, seinen Namen bekommt oder getauft und in seine Glaubensgemeinschaft aufgenommen werden konnte. Die Juristen beziehen in dieser Frage eine klare Position. Ich gebe ihre Rechtsauffassung wieder nach einem Kommentar von Eduard Dreher zum deutschen Strafgesetzbuch (C. H. Beck, München 1977, 37. Auflage, S. 835). Vorbemerkung zu §§ 211, 212: "... Gegenstand der Tat bei Mord und Totschlag ist ein lebender anderer (H.S.: ich ergänze: Mensch). Ein Mensch muss es sein; die Frucht wird Mensch, wenn mit Beginn der Wehen (d.h. regelmäßig die Eröffnungswehen) die Ausstoßung beginnt... Neuerdings zeigen sich Tendenzen, schon die Leibesfrucht um ihres besseren Schutzes wegen als Mensch im strafrechtlichen Sinne anzusehen (verschiedene Autoren); mit Recht dagegen (andere Autoren). Das Menschsein endet mit dem Tode; er ist eingetreten, wenn Herzschlag und Atmung endgültig aufgehört haben. Bei künstlichem Aufrechterhalten von Kreislauf und Atmung ist maßgebend der Hirntod, für den tiefe Bewusstlosigkeit sowie Fehlen der Hirnnervenreflexe und der Hirndurchblutung ausschlaggebend sind und der durch die endgültige Null-Linie im Elektroenzephalogramm (EEG) und durch Hirn-Angiographie nachgewiesen kann (...), (und) wenn das Gehirn dreißig Minuten lang keinerlei Aktivitäten zeigt". Soviel zum Töten von Menschen.

Dass Menschen wie andere Tiere von anderen Lebewesen leben, das ist so schon seit ein paar Millionen Jahren, einfach deshalb, weil schon vor dem Menschen die Tiere, von denen er abstammt, sich schon seit vielen Hundert Millionen Jahren heterotroph ernährt haben, also von lebendigen Pflanzen und ggf. auch von Tieren lebten. Wahrscheinlich ernährten sich ursprüngliche Säugetiere zunächst von anderen Tieren, und erst nachträglich mehr und mehr von Pflanzen. Die urtümlichsten Säugetiere waren jedenfalls Insektenfresser, ähnlich der Spitzmaus, und die pflanzenfressenden Huftiere sind spätere Spezialanpassungen, die solch neue Nahrung erst mit Hilfe veränderter Kauapparate, mit Mahlzähnen, mit zum Teil speziellen mehrkammerigen Mägen und unterstützt durch spezielle Darmbakterien verwerten konnten. Aber auch die pflanzenfressenden Tiere achten nicht auf das eigene Leben ihrer Nahrungsmittel, der Pflanzen. Sie sind nicht davon abzubringen, ganze Pflanzen auszurupfen, Bäume zu entlauben, aber auch die samentragenden Ähren von Gräsern und die Früchte von Bäumen und die Sporen tragenden Fruchtkörper der Pilze zu verzehren. Das keimende Leben mit seinem Reichtum an hochwertigen Eiweißstoffen und seiner noch geringen Ausstattung mit strukturbildenden Ballaststoffen und für Fressfeinde schädlichen Abwehrstoffen ist sogar ganz allgemein für Säugetiere eine besonders leckere Speise, insbesondere auch für die Primaten, die als Baumbewohner nicht nur freien Zugang zu Baumfrüchten haben, sondern auch die Eier aus Vogelnestern plündern konnten. Noch wir Menschen haben diese Vorlieben beibehalten, denken wir nur an Vogeleier (z.B. das außen feste, innen noch weiche Frühstücksei) und Fischeier (der leckere Kaviar) und die in anderer Weise leckeren Früchte und Junggemüse, sogar die gerade erst ausgekeimten Sojasprossen. Inzwischen konkurrieren Menschen aber auch mit den grasfressenden Huftieren und sie mähen in Massen Graspflanzen (Weizen, Roggen, Hafer, Gerste, Reis, Hirse, Mais etc.) dahin, um deren keimfähigen Samen auszudreschen und zu verzehren. Zu Mehl vermahlen und zu Brot, Pizza, oder Nudeln verarbeitet sind diese Pflanzensamen ihrer Individualität beraubt, so dass beim Essen solcher Cerealien der Gedanke, keimendes oder keimfähiges Leben vernichtet zu haben, gar nicht erst aufkommen kann.

Aber gehören Pflanzen und ihre Früchte und Samen nicht auch zum Reich des Lebendigen? Die Vegetarier und Veganer sprechen vom "Mord" an den Tieren, ohne zu bedenken, dass auch Pflanzen Lebewesen sind und bei ihrem Verzehr getötet werden. Im Falle der Sojabohnensprossen vernichten Vegetarier sogar "keimendes Leben"! In letzter Konsequenz dürften demnach Menschen nur noch spontan gestorbenes und dann eben schon totes Leben verzehren, also tierisches Aas und vertrocknete, erfrorene oder verrottete Pflanzen, dies wiederum gegen starke Konkurrenz der Aas- und Abfallfresser, die allen Anlass hätten, uns eine solche Schmälerung ihrer Lebensgrundlagen sehr übel zu nehmen. Dabei vergessen Vegetarier und Veganer, dass erstens alle tierische Lebewesen, zu denen auch wir Menschen gehören, sich heterotroph ernähren, also von pflanzlichen und/oder tierischen Lebewesen leben, und dass insbesondere die Primaten, unsere nächsten Verwandten, ursprünglich Allesfresser und "Leckerschmecker" waren, unter Bevorzugung von reifen Früchten, jungen Sprossen und kleinen oder jungen, in jedem Fall zartfleischigen Tieren, während die wenigen Vegetarier unter ihnen, wie die Gorillas, Spezialanpassungen durchlaufen haben. Aber auch die Raubtiere unter den Tieren sind keineswegs "böse", sondern nur hungrig, wenn sie andere Tiere verzehren. Sie haben ihre Beute sogar "zum Fressen gern". Wenn sie stattdessen größere Mengen Gräser, Kräuter oder Baumblätter fressen würden, dann würde ihnen das gar nicht bekommen, und sie könnten mit vollgestopftem Magen verhungern und sich an den für sie unverdaulichen Pflanzenstoffen vergiften und daran sterben. Es ist also nichts mit dem Löwen, der im Paradies neben dem Schaf weiden wird. Zumindest stellen sich die Löwen das Paradies ganz anders vor: mit vielen zarten Gazellen als ständig verfügbare Beute!

Anderes Leben wird von uns Menschen sogar bekämpft und getötet, ohne unserer eigenen Ernährung zu dienen (was ihre Tötung ja fast noch entschuldigen könnte); es wird vielmehr vernichtet, bloß um es loszuwerden, um nicht von ihm belästigt, gestochen, parasitiert und infiziert zu werden: zu solchen Opfern menschlicher Vernichtungswut werden sehr leicht die Mücken, Schnaken, Wespen, Hornissen, Kakerlaken, Spinnen, Läuse, Flöhe, Wanzen, Milben, Hautparasiten, Bandwürmer und Leberegel, schließlich Fußpilze und Viren, vor allem Bakterien, die nach gezielter und intensiver Antibiotika-Behandlung zu Millionen ihr Leben lassen müssen. Schädlingsbekämpfung bis fast zur Ausrottung (z.B. der Pockenviren) ist keine Erfindung der Menschen: alle pelztragenden Tiere leiden unter Ungeziefer und auch Endoparasiten und wehren sich dagegen so gut wie sie können, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste unter ihren Quälgeistern. Speziell die höheren Primaten haben die gegenseitige Fellpflege ("grooming") sogar zur sozialen Kontaktvertiefung weiterentwickelt, und das gegenseitige Kämmen und durchs Haar fahren kann auch Menschen gut tun, die gar keine Läuse haben!

Gehen wir vom biologisch begründeten Umgang mit Pflanzen und Tieren weiter zur kulturell überformten Beziehung zu Lebewesen. Einem Liebhaber japanischer Zwergbäume kann ein gut gestalteter Bonsai mehrere Tausend Mark wert sein. Auch der Wert bestimmter Haustiere ist mit zum Teil hohen Geldbeträgen zu bemessen, denken wir etwa an ein in Galopp- oder Trabrennen, beim Dressur- oder Springreiten erfolgreiches und daher auch "gut verdienendes" Pferd, das sich vielleicht sogar als Vererber solcher Tüchtigkeit eignen könnte. So gibt es für Menschen deutliche Wertunterschiede zwischen verschiedenen pflanzlichen oder auch tierischen Lebewesen, die sogar in zum Teil hohen Geldbeträgen zu bemessen sind. Weniger wert ist im allgemeinen das Leben der Rinder, Schweine, Lämmer, Hühner etc., die allesamt eigens dazu gezüchtet und aufgezogen werden, dass sie oder ihre Produkte (Kuhmilch, Hühnereier) von Menschen verzehrt werden können. Da kommt für jeden Nicht-Vegetarier im Laufe seines Lebens einiges an Ausgaben zusammen und entsprechend auch an Tötungen, die er inzwischen nicht mehr selbst durchführt, sondern an den Metzger delegiert, von denen er aber weiterhin profitiert. Das Leben seines eigenen Hundes kann seinem Besitzer sogar als unbezahlbar erscheinen, und wenn, wie in der Regel, der Hund schon vor dem Besitzer stirbt, kann sein "Herrchen" oder "Frauchen" über seinen Tod trauern wie über den Tod eines lieben Angehörigen.

Das Ergebnis dieser Zwischenüberlegungen: die rechtlich zulässigen und sogar gebotenen Güterabwägungen schließen auch das Rechtsgut des Lebens ein, in jedem Fall des Lebens von Pflanzen und Tieren, aber sogar das Leben anderer Menschen. Widerspricht das nicht der Unantastbarkeit der Menschenwürde? Zur Klärung dieser Frage sollten wir zunächst untersuchen, was unter Würde im Allgemeinen und unter Menschenwürde im Speziellen zu verstehen ist.