2.3.9.7. Über Herkunft und Bedeutung von "Würde"-Wörtern

Wenn von Menschenwürde gesprochen wird, liegt es nahe zu fragen: wie würdig ist der Mensch? Jeder Mensch? Auch Adolf Hitler? Könnte ein Mensch auch "würdelos" sein? Denn offenbar gibt es dieses Wort. Ab wann ist ein Mensch würdig? Schon als mit der Zeugung befruchtete Eizelle, oder von der Geburt an, oder etwa erst im vorgerückten Alter, nämlich ehr-würdig wie eine Greisin oder ein Greis? Um die Würde-Wörter richtig zu verstehen und richtig zu verwenden, habe ich zunächst im Herkunfts-Wörterbuch des Duden nachgeschlagen. Ihm entnahm ich, dass das Wort "Würde" von dem Adjektiv "wert" (ursprünglich: "einen Gegenwert habend") abgeleitet ist. Der Rechtschreib-Duden zählt auf: Würde, würdig, würdigen, Würdigung, Würdigkeit; würdevoll, würdelos, Würdelosigkeit; Würdenträger; an anderer Stelle: Hochwürden (lat. Reverendus, Anrede für katholische Geistliche), hochwürdig (der hochwürdige Herr Pfarrer), Hochwürdigst (Anrede für noch höhere katholische Geistliche), das hochwürdigste Gut (das heilige Altarsakrament) und daneben noch Ehrwürden, lat. Venerandus (Anrede für Brüder und Schwestern in geistlichen Orden und Kongregationen der katholischen Kirche), sowie ehrwürdig und Ehrwürdigkeit; schließlich auch nichtswürdig, unwürdig und Unwürdigkeit, entwürdigen, Entwürdigung und Herabwürdigung. Dazu gehört, dass im katholischen Katechismus der Diözese Breslau (erschienen nach 1922) auf Seite 97 ganz ausführlich vom unwürdigen Kommunizieren die Rede ist, nämlich wenn jemand "wissentlich im Stande der Todsünde die heilige Kommunion empfängt und damit einen entsetzlichen Gottesraub begeht". Im Text heißt es weiter: "die Folgen der unwürdigen Kommunion sind häufig schon in diesem Leben Verblendung und Verstockung des Herzens, zuweilen auch plötzlicher Tod" (im Jenseits kommt dann noch einiges Schlimmes nach). Dieser Wortgebrauch ist begründet in der alten Gebetsformel "Domine, non sum dignus ...", deutsch: "Oh Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach usw."), die gesprochen wird, bevor der Priester selber die Kommunion empfängt. Halten wir fest: nach altem katholischen Glauben gibt es den Fall, dass ein Mensch nicht würdig oder dass er unwürdig ist. Zusammenfassend kann erst einmal festgehalten werden, dass in diesen Wortformen und Wortverbindungen "Würde" etwas Besonderes ausdrückt, einen besonderen Rang, der besondere Achtung verdient, vor dem man sich verneigt, der angemessen zu würdigen ist, in einer Würdigung, die zu Ehren des Gewürdigten vorgetragen oder schriftlich festgehalten wird. Lassen wir beiseite, dass es auch Zusammensetzungen wie glaubwürdig, sehenswürdig und merkwürdig gibt; aber die Anrede "Merkwürden" ist eine Flapsigkeit aus der Krimiserie "Die Zwei", die wir nicht so ernst zu nehmen brauchen.

Gehen wir noch der Frage nach, in welchem Sinnfeld die Wörter des Wortfeldes Würde etc. verwendet werden, d.h. durch welche anderen Wörter gleichen oder ähnlichen Sinnes sie vertreten werden oder mit welchen anderen Wörtern sie kombiniert werden können. Hier hilft das Synonym-Wörterbuch des Duden weiter. Ihm entnehme ich folgende Hinweise: die Würdewörter haben zu tun mit Wert und Gewichtigkeit, die man jemanden zubilligt, mit Ansehen, Geltung, Prestige, Rang, Ehre, Auszeichnung, mit Leistung und Verdiensten. Personen, denen diese Attribute zukommen, verdienen öffentliche Hochachtung, Respekt, Verehrung, Ehrfurcht, Bewunderung, Lob, Hochschätzung, Anerkennung und Vergünstigungen, die man den betreffenden Personen erweisen sollte; man muss sie (besser noch: ihn, den würdigen Mann und vor allem den Gott) verherrlichen, rühmen, lobpreisen, achten, schätzen, respektieren, anerkennen, verehren und bewundern, nämlich weil er so hervorragend, ausgezeichnet, angesehen, namhaft, berühmt ist und gefeiert, geachtet und geschätzt wird.

Greifen wir noch das Wort "Ehre" heraus, das sich in seinem Bedeutungsumfang weithin mit dem der "Würde" überdeckt. Nach F. B. Simon (Tödliche Konflikte, 2001, Carl-Auer-Systeme, Heidelberg) geht der Wortstamm von "Ehre" auf das althochdeutsche era (8. Jh.) zurück, das "Ansehen, Wertschätzung, Berühmtheit, Würde, Zierde, Ehrfurcht, Verehrung" bedeutet. All diese Bedeutungen verweisen auf den oder die Beobachter (H. Sch.: bzw. Bewerter). Das Image der positiv bewerteten Person ist es, das "an"-gesehen wird. Und die "An"-Erkennung zeigt, dass es mit dem Erkennen allein nicht genug ist, sie bedarf auch der (H. Sch.: Ehre zuschreibenden) Kommunikation ... Anerkennen (ist) ein Begriff, der aus der Rechtssprache des 16. Jh. stammt und für "bestätigen, würdigen, gelten lassen" steht. Die ursprüngliche Bedeutung von Ehre, die klar einen hierarchischen Kontext bezeichnet, d.h. die Akzeptanz einer Oben-Unten-Beziehung, verweist auf die Verbindung zur Machtfrage" (Seite 202).

Die Analyse der Wörter "Würde" und "Ehre" hat uns somit ein Sinnfeld mit vielen Synonymen erschlossen, das sich vor allem im religiösen und im höfischen Bereich entwickelt und ausgebreitet hatte, und selber wiederum auf griechischen und lateinischen Würdewörtern aufbaut. F.J. Wetz (Die Würde des Menschen ist antastbar, Klett-Cotta, Stuttgart, 1998) ist den Würdebegriffen der griechischen und römischen Antike nachgegangen: die Griechen verwendetem im Sinne von Würde die Wörter time, axia und axioma, die man mit Ehre, Wert oder Ansehen übersetzen kann. Im römischen Sprachgebrauch wurde der Sinn von Würde mit "dignitas et excellentia" wiedergegeben (Wetz, S. 16). Man kann "Würde" aber auch mit "gravitas", "honestas" und "auctoritas" ins Lateinische übersetzen.

Zu dieser Aufzählung noch einige Ergänzungen: die timé (Ehre, Würde, Achtung) ist sprachlich ein Abstraktum des alten griechischen Verbs tío "ehren" und gehört nach Emile Benveniste (Indoeuropäische Institutionen, 1993, Campus, Frankfurt) inhaltlich zu den Vorrechten (Privilegien) des Königs. Sie ist mit materiellen Begünstigungen verbunden, mit dem Vorsitz in der Versammlung und dem Ehrenplatz an der Tafel, mit reichlich Fleisch und vollen Bechern. Die timé wird dem König von einem Gott (insbesondere von Zeus) verliehen oder vom Schicksal gewährt, sie kann auch entzogen werden. Der Zuweisung von oben entspricht das Einräumen von unten: dem König wird aufgrund seiner Stellung und seiner Würde von den Männern Ehrerbietung erwiesen; sie zollen ihm Bewunderung und die ihm gebührende Hochachtung, den ihm vorrangig zu bezeugenden Respekt. Der König empfängt die timé aber nicht nur, er beansprucht sie auch gegenüber den von seiner Macht Abhängigen. Von timé abgeleitet ist das Adjektiv timon "ehrwürdig, ehrenwert" und der Name Timotheos "ehre Gott!"; und vom engeren Sinn von time als "Wertschätzung wegen des Vermögens" ist der Begriff Timokratie für die Herrschaft der Reichen abgeleitet. Der philosophisch-mathematische Begriff Axiom meinte ursprünglich etwas, "was für wichtig erachtet wurde". Heute versteht man unter Axiom einen grundlegenden Satz, der nicht von anderen Sätzen abgeleitet ist, sondern zur Ableitung oder zum Beweis anderer Sätze dient.

Und nun zu den Würdewörtern der Römer, wie sie in meinem lateinischen Wörterbuch in den Varianten ihres Sprachgebrauchs erläutert werden:

  1. Dignitas ist Würde im Sinne von Pracht, Glanz, Erhabenheit, Rang; das deutsche Fremdwort Dignität bedeutet u.a. Amtswürde.

  2. Gravitas ist Würde im Sinne von Gewichtigkeit, Größe, Kraft und Macht; im Deutschen als Fremdwort "gravitätisch" verwendet im Sinne von steif und schwerfällig würdevollem Gehabe, aber auch für die Gravidität, nämlich weil die werdende Mutter in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft als schwer tragend und beladen erscheint, und für die Gravitation, die als "Schwerkraft" verstandene gegenseitige Anziehung von Massen.

  3. Honestas ist Würde im Sinne von Ehre, Ehrbarkeit, Ansehen, Vornehmheit; was noch im Wort Honoratioren anklingt, womit noch heute Personen von gehobenem Stand besonders in kleineren Orten bezeichnet werden.

  4. Auctoritas ist Würde im Sinne von Einfluss und von Vorbildlichkeit für die Nachgeborenen. Wir verstehen sinnentsprechend unter Autorität jemanden mit Urheberschaft und Vollmacht, mit weithin anerkanntem Ansehen, der als bedeutender Vertreter seines Faches gilt, verallgemeinert auch eine maßgebende Institution oder ein Hohes Gericht. Die dazugehörigen Eigenschaftswörter haben sich in Richtung auf unterschiedliche Akzente weiterentwickelt: "autoritativ" ist etwas, was sich auf echte Autorität stützt, was auf Vorbild und Ansehen beruht; "autoritär" ist dagegen jemand, der diktatorisch unbedingten Gehorsam fordert. Übrigens wird die auctoritas von Benveniste (S. 411-413) wie die time als Vorrecht gedeutet. Er begründet das so: das lateinische Verb augeo bedeutet ursprünglich "etwas hervortreten lassen, ins Leben rufen": es geht also um einen schöpferischen Akt, der wiederum ein Privileg der Götter oder der großen Naturkräfte ist, das aber auch bedeutenden Männern gewährt werden kann. Dementsprechend ist der auctor (noch in unserer Sprache: der Autor) derjenige, der als Erster eine Initiative ergreift, eine Tätigkeit entfaltet, etwas begründet. Die auctoritas (Autorität) ist die nur wenigen Menschen vorbehaltene Gabe, mit den Worten einer Rede einem Gesetz Geltung zu verleihen und diesem Gesetz damit zum Sein zu verhelfen. Zu diesem Wortfeld gehört auch der "augur", abgeleitet von einem alten Neutrum, das die von den Göttern gewährte Förderung bezeichnete, die sich in einem Vorzeichen offenbarte; und "augustus" ist einer (auch eher ein König), der von den Göttern mit dieser Zeugungskraft ausgestattet wurde und sich als "Mehrer (des Reichs)" erwiesen hat. Würde ist also, dafür spricht der Sprachgebrauch von time und auctoritas, in der Regel mit Privilegien verbunden.

  5. Excellentia schließlich ist die Würde im Sinne von Vorzug und Vortrefflichkeit, auch die Erhabenheit einer hervorragenden Persönlichkeit. Das Verb excello meint zunächst "hervor- oder emporragen", dann im übertragenen Sinne "sich auszeichnen"; dementsprechend wäre excelsus mit "hervor- oder emporragend; ausgezeichnet" zu übersetzen, auch mit "hoch" oder "erhaben". Das excelsum ist "der hohe Rang, die hohe Stellung", und excellens meint "vorzüglich, vortrefflich"; excellentia ist "der Vorzug, die Vortrefflichkeit", auch "die Erhabenheit einer hervorragenden Persönlichkeit". Als Anrede brauchte man die Formel "excellentia vestra!" - zu übersetzen als "Eure Hoheit" oder - bis heute noch als Fremdwort gebräuchlich - "Exzellenz!" (ohne noch, wie die preußischen Offiziere in früheren Zeiten, dabei die Hacken zusammenzuschlagen).

Schließlich wären noch die lateinischen Verben zu erwähnen, die sich auf Verhalten gegenüber Würdigem beziehen:

  1. revereor: ehren, hochachten, siehe Reverendus: "Hochwürden";

  2. veneror: verehren, huldigen, siehe Venerandus: "Ehrwürden";

  3. aestimare: würdigen, hochschätzen, über das Französische auch noch ins Deutsche als Fremdwort übernommen: insbesondere der Ranghöhere kann erwarten, dass er gebührend "estimiert" wird.

Zu diesem Sinnfeld, das ich mit deutschen, griechischen und lateinischen Wörtern zu erschließen versucht habe, gehört auch das Wort "Menschenwürde", eigentlich ganz gut verständlich als die Würde von einigermaßen würdigen Menschen, die man deshalb natürlich würdigen sollte. Inzwischen hat sich der Sinn von Menschenwürde immer weiter davon entfernt und sich stattdessen dem an sich auch gut verständlichen Sinn von Wörtern wie "tasten", insbesondere "antasten" und "unantastbar" angenähert. Das hat damit zu tun, dass Würdenträger in ihrer Erhabenheit von gewöhnlichen Sterblichen nicht ohne weiteres berührt werden durften. Seit alters her wurden in dieser Weise Würdenträger tabuisiert: bestimmte Namen durften nicht ausgesprochen oder geschrieben werden, so wie der Name des Gottes Jahwe, und die göttlich-geistigen Personen und Wesen durften nicht abgebildet werden, wie heute noch Mohammed, und ihre Entwürdigung oder Entweihung wurde mit schweren Strafen bedroht. In seinem "Tagebuch einer Reise durch Italien, die Schweiz und Deutschland in den Jahren 1580 und 1581" beschreibt Michel de Montaigne ganz ausführlich, wie er mit drei Begleitern den römischen Papst zum Fußkuss aufsuchen durfte, genauer: dass er nach einigen von drei Kniebeugen unterbrochenen Schritten schließlich kniend zum Fuß des Papstes weiterrutschte und sich zu dessen roten Pantoffeln niederbeugte, um einen davon dann küssen zu dürfen. Der Pantoffel war am Papst also das Einzige, was dieser französische Schlossherr, Bürgermeister und Diplomat Montaigne mit seinem sündigen Lästermaul antasten durfte. Inzwischen dürfen auch ganz einfache Leute immerhin den Ring des Papstes küssen, und es soll schon vorgekommen sein, dass nordamerikanisch-evangelische Würdenträger ihm einfach die Hand zu schütteln versuchten: "Good morning Mr. Pope!" Wegen dieses Zusammenhangs zwischen der Würde einer Person und der ihr gebührenden Tabuisierung hat das Wort "Menschenwürde" inzwischen eine Veränderung erfahren, und zwar der Art, dass es nur noch als "das zu Tabuisierende" verstanden wird, nämlich als das, was man nicht berühren darf und an dem nicht gerührt werden darf, weil es unantastbar ist. Das könnte man natürlich auch ohne das Weihewort "Menschenwürde" ausdrücken, etwa mit dem alten Verbot "Du sollst nicht morden" oder allgemeiner und noch unrealistischer "Du sollst überhaupt niemanden und nichts töten". Aber da ja dennoch getötet und gemordet wird, u.a. zur Verteidigung des Glaubens und des Vaterlandes, muss ein wenigstens innerhalb des eigenen Volkes und der eigenen Glaubensgemeinschaft in besonderer Weise erhaltungsbedürftiges keimendes Leben anders und zusätzlich geschützt werden, nämlich durch ein mit dem Weihewort "Menschenwürde" besiegeltes Tabu.

Die Menschenwürde wird oft mit den Menschenrechten in Zusammenhang gebracht, so als seien die verschiedenen Menschenrechte aus der einen Menschenwürde ableitbar. Dagegen belegt F.J. Wetz im Einzelnen, dass lange Zeit bevor die Menschenwürde in diesem Zusammenhang thematisiert wurde (was erst nach dem 2. Weltkrieg im Hinblick auf die Naziverbrechen geschah), ein Menschenrecht nach dem anderen einzeln erkämpft werden musste, nämlich um die verschiedenen herrscherlichen Rücksichtslosigkeiten abzuwehren. Denn es waren Hochwürden und andere Würdenträger, die seit jeher weder die freie Religionsausübung noch die freie Meinungsäußerung noch das gleiche Recht für alle, noch den Schutz gegen Folter und Todesstrafe anerkennen wollten. Die Menschenrechte mussten also erkämpft werden gegen Ansprüche, Privilegien und Machtmissbrauch der Menschen, die beanspruchten, als besonders würdig zu gelten. Das ist schon wirklich merkwürdig, nämlich würdig, gemerkt zu werden.

Und versuchen Sie jetzt mal, das uns inzwischen wieder ganz vertraute Wort "Würde" auf eine befruchtete menschliche Eizelle zu beziehen. Mir ist es nicht gelungen. Mir würden im Hinblick auf eine solche Eizelle ganz andere Kennzeichen und Benennungen nahe liegen, wie etwa winzig, auf lateinisch: minutus, oder noch kleiner: minutulus oder sogar minutulissimus oder noch besser minutulissima, und diese wäre als "Eure Winzigkeit!" anzureden. Es ist nur zu hoffen, dass sich dieser Winzling gut einnisten kann und dann in der Gebärmutter gut aufgehoben ist. Später als Embryo, da liegt es näher, ihn auf gut hessisch als "Wärmsche" zu bezeichnen (hochdeutsch: "Würmchen!"), und das ganz ohne Abwertung, sondern zärtlich-fürsorglich. Wenn seine menschliche Gestalt mit Armen, Händen und Füßen, Beinen sichtbar wird, wenn sich der Kopf deutlicher vom Rumpf abhebt, kann man den Fetus sogar schon ganz niedlich finden, so etwa wenn man als werdender Vater das selbst gezeugte Kind mittels Ultraschall in der Gebärmutter der werdenden Mutter sehen kann, wie es im Fruchtwasser, von der Nabelschnur gesichert, herum spaddelt. Ich kann mich noch gut daran erinnern: in seiner zeitweiligen Lebhaftigkeit war es schon ganz putzig, aber war es "würdig, ehr- und hochwürdig"? Ein Ehr- und Hochwürden oder wenigstens Klein- und Miniwürden? Das Wort "Würde" wirkt hier wie aufgeklebt, wie draufgesetzt. Auch als Neugeborenes ist das Kind eher fürsorgebedürftig als würdig, es muss vor allem Lauten und Groben bewahrt werden, man kann es gar nicht lange schreien lassen, es muss bald gestillt oder später mit der Flasche oder mit dem Löffel gefüttert werden, es muss gegen Unterkühlung und Überhitzung geschützt und vom eigenen Urin und Kot und ggf. vom Erbrochenen gesäubert werden. Und wenn es dann im Wännchen plätschert, dann abgetrocknet und angezogen wird, dann kann es auch ganz sachte und zart geknuddelt werden. Soll das alles etwa so sein, weil das Baby würdig, ehrwürdig und erhaben ist? Weil es Würde, Ehre, Rang, Ansehen, Geltung und Privilegien hat, hoch, groß, hervorragend und mächtig ist? Das sind alles ganz falsche Wörter für so etwas hilflos Kleines. Diese Wörter versperren geradezu den Zugang zu dem, was die Niedlichkeit und Schutzbedürftigkeit eines solchen liebenswerten Winzlings ausmacht.

Statt weiterhin so vage und wirklich unpassend von der Menschenwürde der Eizelle, des Embryo, des Fetus und des Neugeborenen zu sprechen, sollte man so gut wie möglich seine gesunde Entwicklung zu sichern versuchen, noch besser: man sollte die Erwachsenen, die Großen und Starken, an ihre Menschenpflichten erinnern, nämlich dass sie sich in all ihrer Würde doch bereit fänden, sich um so etwas Kleines zu kümmern und es zu schützen. Das gilt besonders auch für die Männer, die jeweils möglichst bald von Erzeugern zu Vätern werden sollten, und es dann nicht unter ihrer Würde finden sollten, bei dem kleinen Stinkerchen die volle Windel zu entsorgen, das Baby zu säubern und zu baden und trocken zu tupfen und nach einer neuen Windel wieder anzuziehen. Und ich erinnere daran: das Menschenrecht, das dem Kind Schutz und Pflege garantiert, ist wie alle anderen Menschenrechte ein Schutz- und Verteidigungsrecht, nämlich gegen die mächtigen Würdenträger, wenn diese ihre Menschenpflichten vergessen haben und ggf. mit Nachdruck erinnert werden müssen. Das gäbe dem Wort "Menschenwürde" einen deutlicheren Sinn: jemand beeinträchtigt und verwirkt schließlich seine eigene Menschenwürde, wenn er mit den Mitteln seiner Macht die Menschenrechte (es sind mehrere) eines anderen Menschen ohne rechtsstaatliche Legitimation verletzt. Eine solche Legitimation, die nur für den Ausnahmefall gelten kann, kann ihm nur das an den individuellen Menschenrechten orientierte und für alle Menschen gültige Recht eines gewaltenteiligen Rechtsstaates geben.

Ich möchte diese Argumentation noch einmal durchspielen in Bezug auf einen Problembereich, in dem es vielleicht noch schwerer fällt, von Menschenwürde zu sprechen, als beim kleinen Menschen, der sich von der befruchteten Eizelle zum Neugeborenen gesund weiterentwickeln konnte und unter sorgfältiger Pflege wohl noch weiter gedeihen wird. Ich frage also: wie ist es mit der Würde der Schwerbehinderten? Ich selber habe als studentischer Praktikant zusammen mit anderen Studenten und Diakonschülern in den Anstalten Hephata im jetzigen Schwalmstadt schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche in ihrer Pflegestation aufgesucht und gesehen. Sie waren damals noch in der Mehrzahl mit Gurten ans Bett fixiert, weil sie sonst Gefahr liefen, durch Herausfallen, Kratzen oder Beißen sich selbst oder andere zu verletzen. Es war nicht einfach, in diesem Saal die Fassung zu bewahren. Ganz verschiedene Gefühle konnten einem dabei aufkommen, manchmal wirkliches Erschrecken, auch Abwehr bis zum Ekel, auch Mitleid, aber nichts von Achtung, Wertschätzung und Ehrerbietung, auch von Würde konnte keine Rede sein.

Dagegen konnte bei den weniger beeinträchtigten Kindern sogar Zuneigung aufkommen. Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen außerhalb dieser Station, der in alter Klassifizierung als Idiot bezeichnet worden wäre, weil er Sprache überhaupt nicht verstehen und schon gar nicht verständlich äußern konnte. Als wir eine Weile zusammen waren, nahm er Kontakt mit mir auf, in dem er mir sanft ins Gesicht pustete. Ich war zuerst verdutzt, dann versuchte ich es selber: ich pustete sanft zurück: darüber hatte er sich sehr gefreut, und dann haben wir, wenn Gelegenheit dazu war, uns immer so begrüßt. Wegen seiner Menschenwürde? Ich glaube, dass die in diesem Falle keine Rolle gespielt hatte; es ging um etwas ganz anderes: um mit ganz einfachen Gesten vermittelte gegenseitige Zuneigung. Es ist schön, für beide Partner einer Interaktion, wenn so etwas möglich ist, aber man kann es kaum "echt wollen". Es fiel mir leicht, ihn zu mögen, weil er trotz seiner so schweren geistigen Behinderung ein emotional ausdruckfähiger netter Junge war. Aber ein abweisendes oder aggressives, in Gesicht und Körper entstelltes Kind mit schwerer Behinderung richtig gern zu haben, das kann jedenfalls anfangs sehr schwer fallen. Der Heimleiter in den Anstalten Hephata, der uns mit den schwer- und schwerstbehinderten Kindern konfrontierte, meinte dazu, man könne an ihnen "das Lieben" lernen. Ich hatte leise Zweifel, ob das so ganz stimmt und wirklich hinkommt. Unter den Pflegern gab es auch mal den einen oder anderen Sadisten.

Ich denke und hoffe, dass an den von mir insgesamt vorgebrachten Beispielen und Argumenten deutlich werden konnte, dass das Wort "Menschenwürde" inzwischen zu einer Leerformel verkommen ist, die beliebig eingesetzt werden kann, um etwas "unantastbar" zu machen, oder mit dem Fremdwort gesagt, um es zu tabuisieren. Die geistlichen Anhänger und Nachfolger der altehrwürdigen Würdenträger nutzen offenbar den uralten Respekt einfacher Leute vor der Herrscherwürde aus, um etwas zu tabuisieren, dem solche Würde gar nicht zugeschrieben werden kann. Dabei nehmen sie sich noch heraus, aus ihrer zölibatären Distanz zum Zeugen und Gebären dann noch über etwas zu reden, von dem sie offenbar keine Ahnung haben und zu dem sie noch nicht einmal einen unmittelbaren emotionalen Zugang haben. Die Forderung, jedes sich bis zum Geborenwerden entwickelnde Leben gegen jede Gefahr, auch gegen den spontanen Tod und Abgang zu schützen, ist auch wissenschaftlich und speziell biologisch kaum begründbar, aber sie kann dennoch vertreten und in die Diskussion eingebracht werden. Aber wie ähnliche andere Forderungen sollte sie nicht mit einem Tabu wie der "Unantastbarkeit der Menschenwürde" gegen jede Alternative und gegen jede Güterabwägung immunisiert werden. Auch über den Tod, sogar über das Töten muss man sprechen können, zwar respektvoll, aber eben nicht mit Denkverboten und Handlungstabus. Das sind wir der Würde der Menschen als geistige Wesen schuldig, auch wenn wir die Würde der Mächtigen dabei manchmal etwas antasten müssen.