2.3.9.9. Die biologisch begründete Nähe des Lebens zum Tode

Im vorletzten Teil meines Vortrags befasse ich mich mit der Biologie, unter besonderer Berücksichtigung der geschlechtlichen Reproduktion. Ich beginne mit einer für Sie vielleicht überraschenden Feststellung: das Leben ist von Anfang an und natürlich besonders an seinem individuellen Ende nahe zum Tod. Das menschliche Leben ist am verschwenderischsten und ist zugleich am stärksten gefährdet an seinem Beginn, dann erneut gefährdet bei jungen Männern zwischen 18 und 25 Jahren und schließlich, ganz allmählich, aber irgendwann endgültig, im hohen Alter. Zunächst also an seinem Beginn, besonders sogar bevor mit der Befruchtung ein individuelles Leben begonnen hat.

Seit jeher, auch noch beim Menschen, beginnt die Vermehrung mit der Produktion von männlichen Samen- und weiblichen Eizellen auf Vorrat, quasi auf Verdacht, dass wenigstens ein ganz geringer Teil dieser Zellen zur Vereinigung und Befruchtung gelangt und von dem dabei gezeugten und schließlich geborenen Leben wenigstens ein kleiner Rest erhalten bleiben und sich selber wieder vermehren kann. So verlassen bei jedem Samenerguss rund 300 Millionen männlicher Spermien den erigierten Penis, und von denen kann es im günstigsten Falle einer schaffen, die weibliche Eizelle zu erreichen und zu befruchten. Welch verschwenderischer Überfluss, und welch extreme Selektion bis zu dem einen, der Glück und Erfolg hat! Auf den Aspekt der Selektion werde ich noch zurückkommen. Doch so viel wird wohl schon jetzt deutlich: Selektion ist im Bereich des Lebendigen das Natürlichste überhaupt.

Bei den weiblichen Eizellen ist die Verschwendung nicht ganz so krass. Aber von den immerhin etwa 400 Tausend Eizellen, die bereits bei der Geburt eines Mädchens in seinem Eierstock angelegt sind, gelangen im fruchtfähigen Leben einer Frau nur 200 - 500 Eizellen zur Weiterentwicklung und Reifung (noch nicht zur Befruchtung!), die anderen verkümmern. Und das ist auch gut so. Aber es sind immer noch zu viele. Denn welche Frau will und kann schon 200 - 500 Kinder gebären? In einem kurzen Leben? Da sind also auch bei der Frau viele befruchtungsfähige Eizellen auf Vorrat angelegt, und in der allergrößten Mehrzahl erweisen sie sich schließlich doch als überflüssig. Von daher gesehen ist ein besonderer Schutz eines solchen Überflusses eigentlich nicht notwendig; es sind ja genügend Spermien und Eizellen da und es kommen genügend nach. Wichtig ist nur, dass sie bis zu ihrer Nutzung gesund und befruchtungs- und vermehrungsfähig bleiben, aber je für sich genommen sind sie keineswegs erhaltenswert. Wenn aber aus diesem anfänglichen Überschuss nach Ablauf mehrerer Entwicklungsschritte zunehmend weniger übrigbleibt, dann sind diese Überlebenden natürlich umso mehr zu schützen, und zwar je mehr sie sich der Grenze nähern, an der das Überleben der Art gefährdet ist. So ist das Einzelkind für seine Eltern ein höchstes und absolut schützenswertes Gut. Aber so weit sind wir in unserer Betrachtung noch nicht!

Denn sogar die befruchtete Eizelle hat schon von Natur aus eine nur etwa 30%ige Überlebenschance: mit dieser Wahrscheinlichkeit würde sich die befruchtete Eizelle bis zur Geburt eines Kindes weiterentwickeln, und dementsprechend wird ein bemerkenswert großer Anteil der Eizellen und Embryonen schon in der ersten Zeit ungenutzt und weitgehend unbemerkt spontan ausgestoßen (Urban Wiesing, Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 96, C-2299). So ist auch, wie Manfred Schleyer (Deutsches Ärzteblatt, Jahrgang 97, C-1474) betont, "das typische Schicksal von Embryonen, wie auch von Keimzellen, der frühe Tod: mindestens zwei Drittel sterben vor der Monatsblutung und gehen in der Regel mit der Regel unbemerkt ab".

Die folgenden Informationen entnehme ich dem von einem Team medizinischer Fachleute verfassten, aber auch für gebildete Laien verständlichen Sachbuch "Das Lexikon der Medizin" (Ullstein, Frankfurt, 1970): als Fehlgeburt oder als Abortus bezeichnet man die Ausstoßung einer noch nicht lebensfähigen Leibesfrucht innerhalb der ersten 28 Schwangerschaftswochen. Dass es dazu kommt, ist meist im Zusammentreffen mehrerer Umstände begründet. Am häufigsten sind es Fehlbildungen der Fruchtanlage, der Eihäute und des Mutterkuchens, auch eine fehlerhafte Einnistung der befruchteten Eizelle kann dazu führen. Es kann aber auch eine Missbildung der Gebärmutter vorliegen, eine zu geringe Produktion von Gelbkörper-Hormonen, und all dies ist einem hohen Maße durch Chromosomen-Anomalien und durch andere, erst nach der Befruchtung der Eizelle einwirkende Keimschädigungen bedingt. Die sich oft wiederholende Fehlgeburt (die Mediziner sprechen vom habituellen Abort) kann u.a. durch eine verminderte Funktionstätigkeit der Eierstöcke und etwa auch durch eine Blutgruppenunverträglichkeit zwischen Mutter und Kind bedingt sein.

Als Frühgeburt bezeichnet man die vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft zwischen der 28. und 39. Woche. Die Ursachen sind u.a. Fehlbildungen der Gebärmutter oder ein Absterben der Frucht, wenn sie sich nicht normal entwickeln konnte. So erklärt sich auch die deutlich höhere Zahl der Totgeborenen unter den Frühgeburten im Vergleich zu den normal ausgetragenen Neugeborenen. Und selbst wenn Frühgeburten auch mit minimalen Geburtsgewicht mit "ärztlicher Kunst" am Leben bleiben, haben sie dann eine deutlich erhöhte Rate an Missbildungen und bleibenden Schädigungen. Im Deutschen Ärzteblatt 96, C-1799, (1999) informiert Jürgen Stoschek über Vorträge aus dem 1. Augsburger Nachsorgesymposium, die sich mit der Nachsorge von Frühgeborenen befassen. Er beginnt mit der Feststellung, dass "Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 g ... heute deutlich größere Überlebenschancen" haben. In den letzten 20 Jahren habe sich die Zahl der überlebenden unreifen Frühgeborenen in Deutschland etwa vervierfacht. "Ab der 25. Schwangerschaftswoche liegt die Überlebenschance von Frühgeborenen heute bei über 85%".

Der Rückgang der perinatalen Mortalität (Sterberate) wird aber offenbar erkauft mit einer erhöhten Langzeitmorbidität (dem Ausmaß an lebenslangen Krankheiten und Behinderungen) von Frühgeborenen. Darüber liegen die Ergebnisse einer Langzeitstudie vor, in der Frühgeborene sechs und achteinhalb Jahre nach der Geburt in Hinsicht auf ihre psychische Entwicklung nachuntersucht worden waren. Sie ergaben eine Trennlinie zwischen einer wahrscheinlich normalen Entwicklung und dem erhöhten Risiko für spätere Entwicklungsstörungen, und zwar erreichten Kinder mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 g bzw. die vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren wurden, im Schulalter einen Intelligenzquotienten von durchschnittlich nur 70 (statt 100). 12% der Frühgeborenen hatten eine Zerebralparese, 24% eine geistige Behinderung oder Entwicklungsstörungen, 23% gingen in eine Sonderschule, 37% benötigten besondere schulische Hilfen, und nur 40% der Kinder besuchten eine altersgemäße Klasse der Regelschule. In der Schule fallen viele dieser Kinder durch Aufmerksamkeitsstörungen auf, sie sind besonders langsam und haben Probleme mit der simultanen Informationsverarbeitung, besonders wenn dabei auch noch räumliche Beziehungen bedacht werden müssen. Kinder, die nach der Geburt mehr als 86 Tage auf der Intensivstation lagen, haben in fast 60% der Fälle später eine Lernbehinderung. Bei einer Herkunft aus einer unteren Sozialschicht treten die genannten Nachwirkungen noch verstärkt auf.

So kann die Medizin mit ihren hochtechnisierten Methoden der Frühgeborenen-Aufzucht zwar den Eltern zu einem erst einmal lebensfähigen Kind verhelfen, das aber in vielen (zu vielen?) Fällen zeitlebens krank und behindert bleibt. Auch wenn ein voll ausgetragenes Kind dennoch in den ersten Lebenstagen stirbt, ist diese Frühsterblichkeit oft durch schwere angeborene Missbildungen verursacht. Und ebenso wie vor und kurz nach der Geburt haben schwer- oder mehrfach behinderte Menschen auch noch weiterhin, auch bei guter Pflege, eine geringere Lebenserwartung als gesund geborene Menschen. Man könnte aus diesen Befunden ableiten, dass Menschen wie auch andere Lebenswesen biologisch darauf eingerichtet sind, entweder nach normaler intrauteriner Entwicklung gesund geboren zu werden, oder aber als nicht lebensfähige Leibesfrucht vorher ausgestoßen zu werden, bzw. als Frühgeburt oder zum regelrechten Geburtstermin oder kurz danach vorzeitig zu sterben. Die Mutter, die dann das lang erwartete Kind nicht im Arm halten und stillen kann, bedarf dann aller mitmenschlichen Unterstützung, um den frühen Tod ihres Kindes seelisch zu verarbeiten. Dazu hilft auch, dass sie ihr wenn auch totes Kind auf Wunsch wenigstens sehen und sich von ihm verabschieden kann, und wenn der kleine Leichnam in gebührender Weise bestattet und weiter betrauert und erinnert werden kann. Aber ich möchte hinzufügen: es wäre wohl unangemessen, der Natur, die den frühen Tod unheilbar kranker Lebewesen und eben auch Menschen zulässt, dafür zu kritisieren. Meint sie es nicht vielleicht sogar gut mit den Lebewesen, auch mit der Mutter und ihrem so kranken Kind?

Ich will noch betonen, dass das Akzeptieren einer spontanen Fehlgeburt keineswegs gleichzusetzen ist mit der Ablehnung oder gar Tötung eines dennoch als behindert auf die Welt gekommenen Kindes. Wenn das behinderte Kind erst einmal da ist, dann ist es nur zu hoffen und sehr zu wünschen, dass seine Mutter und auch sein Vater, auch die gesunden Geschwister, das kranke Kind mit aller Fürsorge und Liebe in die Familie aufnehmen. Ich erinnere mich daran, wie kleine Kinder "Behindi" spielten und ganz liebevoll mit ihrem "Behindi" umgingen, wo sie auch diesen Namen keineswegs abfällig, sondern sogar zärtlich aussprachen. Jedes Kind dieser Gruppe wollte selber das "Behindi" sein, oder wenigstens seine Mutter! Aber ich erinnere mich auch an die Äußerung eines Vaters, der viel für die notleidenden Eingeborenen seines Heimatlandes getan hat, aber beim Bericht über das schwerstbehinderte Kind seiner Tochter seufzte: "Ach wäre es doch gar nicht erst geboren worden". Der das sagte, war kein Nazi, kein Faschist, kein Massenmörder, kein Menschenverächter, sondern ein guter Mensch, dem seine überforderte Tochter und ihr so schwer behindertes Kind von Herzen leid taten. Und faktisch tat er dann alles, was in seiner Macht lag, um beiden zu helfen. Und dennoch: - wäre es doch gar nicht erst geboren worden! So viel zur Lebensgefährlichkeit des Lebensanfangs.

Ich will jetzt das lebensgefährliche Alter der 18-25jährigen Männer übergehen, denn ihr früher Tod im Straßenverkehr ist meist vom Alkohol und damit von ihnen selbst verschuldet, und ich möchte gleich auf das noch lebensgefährlichere Alter der Greise zu sprechen kommen. In dieser Altersgruppe sterben in Friedenszeiten die meisten Menschen, irgendwann stirbt praktisch jeder, der schon alt ist, mit nur ganz wenigen Ausnahmen, die historisch überliefert sind. Menschen werden im Höchstfall etwa 120 Jahre alt, dies jedenfalls in zivilisierten Ländern mit korrekten Geburtsregistern. Frauen werden übrigens deutlich älter als Männer! Dabei gilt: alte Menschen sterben etwas früher, wenn sie außerdem auch krank geworden sind. Aber sie könnten bis ins hohe Greisenalter ziemlich gesund bleiben und dennoch irgendwann sterben, wie man sagt "aus Altersschwäche". Unter Altersschwäche wird ein allgemeines Nachlassen der Organfunktionen meist nach dem 7. Lebensjahrzehnt verstanden; ich selber als 72-Jähriger meine: eher erst nach dem 8. Lebensjahrzehnt! Die eigentliche Altersschwäche beruht meistens auf dem Versagen der Herzmuskelleistung und der Kreislauffunktion. Die Medizin steht heute auf dem Standpunkt, dass es eigentlich keinen Tod aus "Altersschwäche" gibt. Soweit keine tödliche akute Krankheit festgestellt werden kann, wird die Todesursache in einem allmählichen Zugrundegehen der Gehirnzellen gesehen. Man kann bei einer Autopsie aber auch fast immer ausgedehnte arteriosklerotische Gefäßverschlüsse oder auch eine schwere Infektionskrankheit feststellen, die wegen der Abwehrschwäche ohne Schmerzen und Fieber verlaufen ist. Gehirn, Herz, Gefäße und Infektionsabwehr versagen schließlich: ein Organsystem fängt damit an, die anderen folgen ihm früher oder später nach.

Und ist es nicht angemessen und fast tröstlich, dass der Mensch, der in einem seiner lebenswichtigen Organe und in einer solchen Teilfunktion schon vorgestorben ist, dann auch insgesamt stirbt? Wer wird sich anmaßen, da Partei zu ergreifen und das eine Organ für lebenswerter zu halten, als das andere, das schon am Sterben ist oder sogar schon tot ist? Wir verstehen inzwischen besser, was das heißt, dass ein Mensch "hirntot" ist, ein Null-Linien-EEG hat. Auch dann kann noch sein Herz weiterschlagen, kann er beatmet werden und mit Flüssigkeit und Nahrung versorgt werden. Ich selber möchte aber nicht als lebender Leichnam weitergepflegt werden. Wenn schon sterben - natürlich nicht zu früh! - aber dann doch richtig, ganz und gar! Und wer mir dazu im Falle des Falles dazu verhelfen sollte, dem gilt schon jetzt meine Dankbarkeit. Mir erscheint es nach alledem sinnvoll, schon hier die Frage zu riskieren: ist das Leben wirklich der höchste Wert? Ist das Leben auf jeden Fall lebenswert und vermehrenswert?