2.4.2. Sprache kann trennen und kann verbinden

In den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges war es für polnische Juden lebensgefährlich, in der Öffentlichkeit Jiddisch zu sprechen; daran konnten sie als Juden erkannt werden, um dann ins Vernichtungslager verschleppt und dort ermordet zu werden. In Deutschland sprachen Juden kaum noch Jiddisch, sondern das gleiche Hochdeutsch, Berlinisch, Kölsch, Bayrisch etc. wie ihre Nachbarn. Außerdem waren die jüdischen und die "arischen" Deutschen in ihrer äußeren Erscheinung einander so ähnlich, in der Mehrzahl praktisch ununterscheidbar, dass die Nazis das Tragen eines Judensterns an der Kleidung verordnen mussten, um die behauptete Andersartigkeit der Juden künstlich herzustellen. Jude war dann, wer einen Judenstern trug. Erst dann war es klar.

In Bosnien ist unter den Städtern, die keine bäuerliche Tracht mehr tragen, nur schwer auszumachen, wer von ihnen ein katholischer Kroate, wer ein orthodoxer Serbe und wer ein muslimischer Bosnier ist. Erst wenn sie sprechen, könnten Dialektunterschiede auffallen. Dabei können das Kroatische, das Bosnische und das Serbische als bloße Dialektvarianten ein und derselben serbokroatischen Sprache angesehen werden. Im Vergleich damit ist das Plattdeutsche vom Bayrischen viel weiter entfernt, und das Friesische ist noch eindeutiger eine eigene Sprache. Dennoch zählen wir die Friesen (von denen viele Plattdeutsch sprechen) zu den Deutschen, zu uns, und wir möchten sie gar nicht missen. Kein Gedanke an Ausgrenzung und Vertreibung der Friesen, an "ethnische Säuberung" im Bereich der Nordseeküste, an Belagerung, Bombardierung und Aushungerung ihrer Ortschaften. Das Schlimmste, was einem Ostfriesen passieren kann, wäre vielleicht, dass er sich einen Ostfriesenwitz anhören muss. Die meisten Ostfriesenwitze kennt er nämlich schon.

Die Sprache verhilft viel leichter zur Identifizierung einer Person mit ihrer Volksgruppe, als das Aussehen. Wer unter den Wartenden vor einem Schalter oder in einem Geschäft ein Bayer ist, wer ein Sachse, ein Kölner oder ein Berliner, das können wir erst dann etwas genauer einschätzen, wenn er ein paar Sätze gesagt hat. Welcher Bayer trägt schon ständig Lederhosen, wirklich nur die wenigsten. Selbst im Karneval erkennt man Kölner nicht am Aussehen, sondern am ehesten daran, das sie die Pointen der kölschen Büttenrede auf Anhieb verstehen, und die kölschen Lieder richtig mitsingen können. Zur Identifizierung der Volks- oder Glaubenszugehörigkeit können aber auch kleine Äußerlichkeiten und Gesten dienen: Macht er beim Beten ein Kreuzzeichen oder nicht? Trägt sie ein Kopftuch, gar ein schwarzes oder graues, oder trägt sie ihr Haar offen? Mit solchen Unterschieden konnten in Bosnien der Verlust von Haus und Hof, von Beruf, Nachbarschaft und Heimat verbunden sein. Sogar der Tod.

Die aufgezählten Unterscheidungen funktionieren nicht bei nackten oder einigermaßen einheitlich, nämlich einfach zweckmäßig gewindelten und bekleideten Babys. Aus ihrem Lallen und Brabbeln ist noch kein Sächsisch oder Schwäbisch herauszuhören. Die Sprache ihrer sozialen Umwelt müssen sie erst lernen, und sie brauchen ein paar Jahre dazu. Das Kreuzzeichen kriegen sie einfach noch nicht hin (den Hitlergruß damals auch nicht), am ehesten die proletarische Faust, aber auch diese nur in Ansätzen. Und doch (oder gerade deshalb) können wir uns mit ihnen ohne weiteres verständigen: Mit einem freundlich antippenden Blick, der nicht anstarrt, mit einem hingereichten Finger, der zum Greifen einlädt, aber nicht darauf besteht und gleich wieder verschwinden kann. Wir können uns sprachfrei sogar mit Tieren verständigen: Nur wenige Katzen können dem widerstehen, wenn man sie mit einer ruhig ausgestreckten und leicht bewegten Faust zum "Köpfchengeben" ermuntert.

Aber zurück zum Kontakt unter Menschen. Ein wildfremder Eingeborener im Urwald oder in einem entlegenen Steppengebiet, der noch keinen Europäer gesehen hat und dessen Sprache ihm völlig fremd ist, kann ihn dennoch verstehen, wenn dieser ihm mit Gesten (etwa mit offenen - eben unbewaffneten - Händen) andeutet, dass er friedliche Absichten hat. Zum Bezeugen von Respekt gegenüber einem Ausländer braucht man dessen Sprache nicht zu kennen. Es genügt, dem anderen ggf. den Vortritt zu lassen, sich bei der Begrüßung leicht zu verneigen, statt sich selbstherrlich groß und laut in den Mittelpunkt zu stellen. Wer mit dem Fremden einen Kontakt anbahnen will, kann ihn mit Gesten fragen, ob man sich an seinen Tisch setzten darf, kann dem Fremden beim Einparken oder sonst wann behilflich sein, kann dem anderen Menschen einfach lächelnd zunicken. Dies alles ganz ohne Worte und international menschlich.

Wenn wir darüber hinaus versuchen, die fremde Sprache zu lernen, wenigstens in Anfängen, oder uns mit dem Fremden einigen, welche gemeinsam beherrschte Sprache zur Verständigung dienen könnte, etwa Englisch oder Französisch (auch Deutsch!), dann sollte es wirklich nichts mehr ausmachen, ob der andere katholisch oder protestantisch oder orthodox oder jüdisch oder muslimisch ist oder vielleicht gar nicht an den für alle diese Religionen gleichen Gott glaubt. Das ist doch für jeden Menschen seine eigene Sache, woran er glaubt oder nicht glaubt. Das muss uns gar nicht mehr daran hindern, uns zu verständigen und vielleicht sogar gut zu verstehen.