2.4.3.2. Ontogenese von Orientierungsfunktionen

Den zuvor gewählten Anfang ("Ein Mensch wacht auf ..."), der die Aktualgenese von Orientierungsvorgängen beim Erwachsenen zum Thema machte, könnte ich jetzt verändern in die Formulierung: "Ein Kind wird geboren...", also auf die Ontogenese des Menschen bezogen, auf seine Entwicklung von der Geburt an. Erst in den letzten Jahrzehnten ist durch entwicklungspsychologische Untersuchungen klarer geworden, zu welch hohen Wahrnehmungs- und Orientierungsleistungen schon das neugeborene Kind in der Lage ist. Es kann sehr bald das Gesicht seiner Mutter (und anderer Personen) gezielt anblicken ("fixieren"), und wenn es von seiner Mutter an ihre Brust angelegt wird, kann es durch eigene Suchbewegungen dazu beitragen, die eine oder die andere Brustwarze der Mutter zu finden. Es kann sich von zu starken und schädlichen Reizen abwenden und kann mit heftigem Schreien Hilfe und Nahrung einfordern und schließlich nach wenigen Wochen schon mit seinem Lächeln den Kontakt mit der Mutter und anderen Personen selber verstärken und erhalten. Insgesamt ist es von Geburt an in der Lage, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst zu orientieren, anfangs noch unsicher, aber immer effektiver, und dies lange bevor es davon profitieren kann, dass ihm jemand etwas vorzumachen oder mit Worten zu erklären versucht. Auch schon beim Säugling geht also das Sichselbstorientierenkönnen dem Orientiertwerden durch Andere voraus, ähnlich wie ich es bei der Analyse der Aktualgenese von Orientierungsvorgängen beim Erwachsenen herausgestellt hatte.

Solche Orientierungsprozesse funktionieren beim Säugling zunächst noch auf der Basis von ungelernten ("instinktiven") Verhaltensbereitschaften, die stammesgeschichtlich erworben wurden und in ähnlicher Weise auch zum Verhaltensrepertoire unserer nächsten tierlichen Verwandten gehören. Später werden sie über Lern- und Einsichtsvorgänge erweitert, so dass sich auf diese Weise allmählich individuell unterschiedliche Handlungsorientierungen aufbauen können. Je mehr das Baby und dann das Kleinkind selber etwas tun kann (z.B. greifen, sitzen, krabbeln, laufen), um so mehr braucht es, um dabei nicht in Gefahr zu geraten, auch Orientierungshilfen (durch die Mutter, durch andere Erwachsene, auch durch ältere Geschwister). Sie fungieren dann für das Kind quasi als "Hilfs-Ich", wie die Psychoanalytiker sagen, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Kind sich solche Hilfen in Form und Inhalt zu eigen gemacht ("internalisiert") hat. Schon Kindergartenkinder, die anfangs angesichts des Straßenverkehrs noch an die Hand genommen wurden, können lernen, allein gehend auf dem Bürgersteig zu bleiben und auf Zuruf stehen zu bleiben, um dann über die Straße geführt zu werden, und man kann ihnen dann beibringen, später selber die Fußgängerampel zu beachten und nur bei Grün über die Straße zu gehen. Auch in vielen anderen Hinsichten lernen sie, sich immer besser zu orientieren, zunehmend häufiger auch im Kontakt mit älteren Kindern. Aber die Erwachsenen bleiben nicht nur Verhaltensmodell, vor allem für das Sprechenlernen, sondern sie treten auch als fordernde Instanz auf, die dem Kind vermittelt, was es tun soll und nicht tun darf. Doch darüber später mehr.

Bei der Entwicklung eines seelisch gesunden Kindes kann man davon ausgehen, dass es selbst darauf aus ist, bei seinen Eltern Orientierungshilfen einzuholen, dies besonders im "Fragealter". Manche Kinder fragen mehr, als ihre Eltern zu erklären bereit oder in der Lage sind, können dabei aber auch an weltanschaulich-religiöse Tabus ihrer Eltern oder ihrer Umwelt rühren. Sie fragen dann, auch in aller Öffentlichkeit, etwa in einem Restaurant, wie die Kinder gemacht werden, warum die Frau am anderen Tisch so sabbert, ob der Papa jetzt eine andere Frau hat oder ähnlich Peinliches. Solche Kinder gelten als vorlaut oder frech, werden mit einem "Psst!" oder leise gezischten Ermahnungen (oder schließlich mit Wegführen) zum Schweigen gebracht. Leider können damit auch die ersten Ansätze kindlichen Philosophierens unterdrückt werden, etwa wenn die so klugen Fragen wie "Was ist denn hinter der Welt?" oder "Wer hat den lieben Gott erschaffen?" nur noch abgewehrt werden: "Kind, du fragst mir ja noch Löcher in den Bauch!"...."Mama, hast du schon Löcher im Bauch?"..."Kind, hör endlich auf!"

Irgendwann also in der frühkindlichen Entwicklung, gerade dann, wenn das Kind so richtig unternehmungslustig, neugierig und fragemutig geworden ist, scheint sich der Wind gedreht zu haben: Wo zuvor noch sein Lernenwollen, Sprechen- und Fragenkönnen und seine täglichen geistigen Fortschritte so positiv beachtet und gelobt worden waren, werden ihm nun auch Einschränkungen und Forderungen, Verbote und Gebote auferlegt. Statt den individuellen kindlichen Orientierungswünschen zu entsprechen, fangen manche Eltern und andere Personen an, das Kind mit Fremd-Steuerungen zu manipulieren. Nicht mehr die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes motivieren die Orientierungsvorgänge, sondern die Vorstellungen und Interessen der Eltern und darüber hinaus der Institutionen, als deren Erziehungs-Agenten die Eltern dann fungieren, mit dem Effekt, dass dann mehr und mehr Kinder in der gleichen Orientierung quasi gleichgeschaltet werden. Auf einmal soll das ansonsten weiterhin lernwillige Kind etwas lernen, was es von sich aus gar nicht lernen wollte, und dies vielleicht gerade dann, wenn es sich selber gerade mit etwas ganz anderem beschäftigen möchte. Das erinnert mich an die Zeile aus dem Gedicht von Joachim Ringelnatz (Über einen Stammbuchvers): " ...man fühlt sich aufs Klosett gesetzt, auch wenn man gar nicht muss..." Das den Orientierungsprozess motivierende Bedürfnis erwächst dann gar nicht mehr aus dem Kind selbst, sondern ist eines der "erziehenden" Erwachsenen oder entstammt sogar der Institution, die den Eltern oder Lehrern solches Erziehen abverlangt. Eltern können so zu Agenten der herrschenden oder einer partikulären religiös-weltanschaulichen Macht werden. Lange bevor ein Kind auf den Gedanken kommen könnte, in einem umfassenden Sinn religiös-weltanschaulich orientiert werden zu wollen, wird es schon nach seiner Geburt getauft, lernt mit dem Sprechen auch das Beten ("Tomm Herr Jesus...`scheret hast"), besucht einen kirchlich geleiteten Kindergarten, und wird zur Frühkommunion angemeldet. Viele Nachfolge-Institutionen der jüdisch-christlich-islamischen Religionen haben sich solche Praxis zu eigen gemacht, denn auf keine andere Weise kann eine religiöse oder politische Überzeugung früher und nachhaltiger auf Menschen einwirken als über die Mütter und ihre Miterzieher auf das so bildbare kleine Kind. Wie überzeugend ist es für ein Kleinkind, wenn ihm seine gewitterängstliche Mutter beim ersten etwas lauteren Donnerschlag "erklärt": "`s lieb Gottche schennt!" (rheinhessisch: der liebe Gott schimpft!). Das kann im Kind lange hängen bleiben. Ich selber kann mich an diese Worte meiner Mutter noch erinnern.

Wohl in den meisten Fällen sind sich Erwachsene dessen gar nicht bewusst, in ihrer Kindheit so oder anders orientiert worden zu sein. Nur über eine mühsame, vom Psychoanalytiker unterstützte Selbstanalyse kann einer herausfinden, welche lebensgeschichtlich wirksamen Einflüsse zur Konstituierung seines "Über-Ich" beigetragen haben, dieser Instanz, die manchmal auf so irrationale Weise "Stop!" sagt, wo eigentlich das Weitergehen ganz nahe liegt, oder die einen Menschen antreibt, etwas zu tun, was weder ihm selbst noch seinen Mitmenschen gut tut. Zu wünschen wäre allerdings, wenn ein Mensch nicht von einem ichfremden "Über-Ich" kujoniert würde, sondern in sein "Selbst" Orientierungen aufnehmen könnte, die sowohl mit seinen eigenen Bedürfnissen als auch mit den berechtigten Ansprüchen seiner sozialen Umwelt ein gutes Einvernehmen herzustellen erlauben. Die meisten Orientierungen sind ja wie selbstverständlich, aus einem mehr beiläufigen Sichzurechtfinden aufgebaut, sicher auch orientiert an den Modellen elterlichen Verhaltens, wobei für den Jungen der Vater (und andere Männer), für das Mädchen die Mutter (und andere Frauen) eine besondere Vorbildrolle spielen können. So wächst das Kind über das Nachmachen und ggf. auch Bessermachenwollen allmählich in die Rolle des Jugendlichen hinein.

Natürlich gibt es auch die Fälle, wo der Jugendliche alles ganz anders machen möchte als der ... oder die .... Er kann auch in Situationen geraten, auf deren Bewältigung er nicht oder zu wenig vorbereitet (worden) ist, in denen alte Routinen sich nicht mehr als passend anbieten oder nicht mehr ausreichen, wo die gewohnten Handlungsweisen nicht zum Erfolg führen, wo schließlich nichts mehr selbstverständlich zu sein scheint. Das kann auch die Auswirkung von unvermittelt aufkommenden Selbstveränderungen sein, von denen der pubertierende Jugendliche, Junge oder Mädchen, überrascht wird: die erste richtige Erektion mit Samenerguss, die erste Monatsblutung, die Veränderungen der kindlichen Körperproportionen beim Jungen und insbesondere (mit Busen und Po) bei den Mädchen. In solchen Fällen wird eine Neu-Orientierung notwendig, zumindest eine graduelle Umorientierung, die den Jugendlichen in früheren Zeiten in den Initiationsriten angeboten wurde, und die sie sich heute, wenigstens die Kinder von gschamigen Eltern, selber verschaffen müssen. Neben der Sexualität spielen auch Autoritätskonflikte eine große Rolle und können zu einem pubertären Infragestellen der elterlichen und sonstigen Autoritäten führen, auch des Glaubens oder der Weltanschauung der Eltern und Erzieher. Meinen sozialistischen Freunden habe ich schon mal geraten, darauf hinzuwirken, dass für die Oberstufe der Gymnasien mehr Lehrer mit konservativer Orientierung, am besten CDU-Mitglieder, eingestellt werden. Die Jugendlichen würden dann schon selber nach alternativen, vielleicht auch sozialistischen Orientierungen suchen!

Wie die Pubertät im Verlauf der Entwicklung kann auch alles andere Unerwartete die bisherigen Orientierungen als unzureichend erweisen und Umorientierung nötig machen: Dann kommt es darauf an, dass die Zeit noch ausreicht und genutzt werden kann! Im Katastrophenfall kann es sein, dass keine Zeit zur Besinnung mehr bleibt und die Menschen nur noch panisch reagieren, also das mitmachen, was anscheinend alle tun, etwa in einem Saal mit allen anderen zum gleichen Ausgang zu drängen, statt (was besser sein könnte), sich etwas besonnener eine eigene Sicherungs- oder Fluchtmöglichkeit zu suchen oder auf Hilfe zu warten. In der Panik kommt auf negative Weise die Gruppenbezogenheit des Herdentieres "Mensch" zum Zuge: es ist ihm in der Regel wichtig, in seinen Einschätzungen und Handlungen in der Nähe dessen zu bleiben, wie die Leute seiner Bezugsgruppe die Situation einschätzen und wie sie sich üblicherweise verhalten, kurz: was diesen Leuten im Erleben und Tun selbstverständlich ist. Gerade in der Pubertät und in der nachfolgenden Zeit der Reifung zum Erwachsenen werden dem Menschen relativ unabhängig von seinen familiären Startbedingungen die Orientierungen wichtiger, die sich in kleineren und auch größeren Bezugsgruppen ausgebildet haben. Das kann bis zum Extrem von Bekehrungserlebnissen führen, die den Jugendlichen so verändern, dass seine Eltern in ihm nicht mehr den erkennen können, der er für sie einmal war. In der Regel halten sich die Neuorientierungen aber in den alten Bahnen, so sehr sie sich als das ganz Andere darzustellen versuchen. Selbst die (spät)pubertären Bekehrungen, die den Eltern der Jugendlichen als Verlust ihres Kindes an eine ganz andere Welt erscheinen, wählen nur innerhalb eines Repertoires, das auf den Monismen der jüdisch-christlich-islamisch-marxistisch-nazistischen Entwicklungslinie aufgebaut ist. Auch so etwas wie Scientology ist da nichts eigentlich Neues! Und die christlichen "Sekten", was sind sie anderes als immer neue Konfigurationen ein und desselben christlichen Glaubens, manchmal bis zu Kenntlichkeit übertrieben und verdeutlicht!

Die normale seelische Entwicklung führt meist zu Orientierungen, die ausreichend hilfreich sind, um in unserer heutigen Welt zurechtfinden zu können. Aber es gilt weiterhin, dass die Selbstorientierung früher ansetzt und im Zweifelsfalle näher liegt als die Fremdorientierung, die eher nachträglich und nur unterstützend eingeschaltet werden kann, wenn einer mit den eigenen Mitteln nicht mehr zurechtfindet. Das Umgekehrte dagegen: erst von anderen zu lernen, von anderen bestimmt und gesteuert zu werden, anderen schließlich bedingungslos zu gehorchen, bevor einer sich selber umschaut und sich seinen eigenen Weg sucht, das ist nicht nur un-biologisch (es kommt in der Natur einschließlich des Menschen ursprünglich nicht vor), sondern vor allem ineffektiv: es kann zu leicht in die Irre führen, wenn man auf ungebetene Ratgeber hört, denen es nicht zentral um den Ratsuchenden, sondern um die Erhaltung und Ausbreitung ihrer eigenen Macht geht. Aber es gibt nun mal diese Glauben fordernden Personen und Institutionen, die schon alles zu wissen vorgeben. Da bleibt es für Einzelne ein erstrebenswertes Ziel, sich selber eine hinreichende Übersicht über das zur Zeit erfahrbare Ganze des Seins zu verschaffen und eine angemessene Gesamtorientierung zu versuchen.