2.4.3.3. Der Umgang von seelisch gesunden Menschen mit Fremdorientierungen

Es gibt sehr förderliche, aber auch mehr oder weniger "verrückte" Orientierungsangebote. Wie kann man damit zurecht kommen? Wir können schon mal davon ausgehen, dass sich der seelisch Gesunde nur Rat holt, wenn er ihn braucht, und sich ansonsten gegen jedes Überangebot an religiöser oder weltanschaulicher Orientierung zu wehren versucht. Er mag es nicht und es wird ihm lästig, immer wieder daran erinnert zu werden, was er tun oder unterlassen soll, und er denkt auch nicht daran, von sich aus solche Gebote und Verbote immer aufs Neue sich vor Augen zu führen. Wenn er so ungefähr Bescheid weiß oder sich zurecht findet, genügt ihm das schon. Der wirklich "ernste Bibelforscher" ist für ihn schon so etwas wie ein Spinner. Wer kennt schon die Thora, die Bibel oder den Koran wirklich genau? Das sind nur sehr wenige. Aber das Gesagte gilt auch für außerreligiöse Orientierungen. Da könnte ich ähnlich fragen: Wer kennt schon das ganze Strafgesetzbuch, wer hat in den Jahren nach der Fahrprüfung wirklich noch die gesamte Straßenverkehrsordnung in ihrem Wortlaut im Kopf? Wie war das z.B. mit der "abknickenden Vorfahrt"? Wo doch gerade gar keiner entgegenkommt?

Der seelisch Gesunde nimmt weltanschauliche Begriffe und Glaubenssätze nicht so ernst. Sinnfragen können ihn in der Regel nicht lange beschäftigen. Er geht gern bald zur aktuellen Tagesordnung über, wendet sich seiner sozialen Realität zu, in der beispielsweise das große C (C wie christlich) der CDU/CSU nun wirklich nicht mehr wörtlich genommen wird, in welcher der Sozialismus sich immer weiter vom Marxismus entfernt, und "Volksdemokratien" (Volksvolksherrschaften?) rein gar nichts mit demokratischer Selbstbestimmung und freien Wahlen zu tun haben müssen. Der "Normale" verwendet solche Abstrakta, die ja eigentlich etwas Bestimmtes bedeuten sollten, oft als bloße Eigennamen, und weiß schon ungefähr, wen oder was er so nennen soll. Bei Gotthilf Fischer denkt man ja auch nicht daran, dass Gott ihm, dem Fischer, helfen sollte (etwa beim Vorsingen oder Dirigieren!)! Der Gotthilf heißt einfach so! Der seelisch Gesunde grübelt auch nicht so leicht über den eigentlichen Sinn eines Wortes oder eines Gedankens, der ihm beim Praktizieren seines Glaubens ins Ohr oder auf die Zunge gerät. Er kann, wenn das so üblich ist, ein Glaubensbekenntnis laut mitbeten oder auch leise mitmurmeln, ohne die einzelnen Worte und Sätze in ihrem Sinn ("...niedergefahren zur Hölle...") genauer zu erfassen und ernst zu nehmen. Vielleicht denkt er dabei an etwas ganz Anderes, betrachtet gerade das festliche Ornat des Priesters oder läßt sich von seiner volltönenden Stimme ansprechen. Ohne sich wirklich mit dem Glauben auseinander zu setzen, kann er, wenn er mit Glaubensinhalten konfrontiert wird, augenzwinkernd leise Zweifel anmelden, wie wenn einer in Gegenwart von Erwachsenen den Kindern vom Osterhasen oder vom Klapperstorch erzählt, an die er selber schon lange nicht mehr glaubt. Im Unterschied zum noch kindlichen Glauben und Gehorsam gibt es ein "erwachsenes" Umgehen mit Orientierungsangeboten, mit einer an Selbstverständlichkeiten orientierten adaptiven Handlungssicherheit, die in Notsituationen auch bisher befolgte Regeln aufheben kann: ehe sie ihre Kinder verhungern läßt, wird eine Mutter auf sich nehmen, gegen das 7. Gebot ("Du sollst nicht stehlen!") zu verstoßen. Es ging eben nicht anders. Bei höherem eigenen Anspruch kann die Integration der Orientierungsangebote zur differenzierten eigenen Gesamtorientierung, die gemeinhin "Weltanschauung" genannt wird, versucht werden und auch gelingen.

In ihrem Buch „Die weltanschauliche Orientierung der Schizophrenen“ (E. Reinhardt, München, 1965) haben die israelischen Autoren Hans und Shulamith Kreitler zur normalpsychologischen Grundlegung ihrer psychiatrischen Untersuchung einige Überlegungen angestellt über die Entwicklung von Orientierungen bei seelisch gesunden Menschen. Mit den beiden Autoren gehe auch ich zunächst von der Annahme aus (S. 132 f.), dass das Streben nach Orientierung in Raum und Zeit, auch über Situationen und Objekte, ebenso elementar ist wie die ungelernten ("instinktiven") Antriebe und die durch Lernen aufgebauten Handlungsweisen. Die angemessene Orientierung ist sogar in vielen Fällen eine zeitlich vorausgehende Vorbedingung für situationsgerechtes Verhalten. Zwischen Selbst und Umwelt (bzw. "Objekt") strukturieren die zur Orientierung dienende Wahrnehmung und das zielführende Handeln gemeinsam ein "Erlebensfeld", in dem das Verhalten einerseits vom "Triebdruck" motiviert und andererseits von einem "Zielzug" her orientiert und gerichtet wird (S. 135). In diesem Feld organisiert sich ein realitätsbezogenes und realitätsveränderndes (bzw. Realität nutzendes) Verhalten, das nicht einfach nur geschieht, sondern als Ganzes erlebt und zumindest vom Menschen mehr oder weniger bewusst gesteuert werden kann. Dabei beeinflussen sich beide Determinanten, der Antrieb und die Orientierung, ständig gegenseitig, so dass jeweils neue Konstellationen aufkommen können, in denen in gewissem Maße auch die Zukunft (gleich ob ungelernt oder durch Erfahrung antizipiert) das Erlebensfeld strukturieren kann. Schon bei höheren Tieren, erst recht beim Menschen, gibt es nicht nur bloße Folgen des eigenen Verhaltens in der Einwirkung auf die Umwelt, sondern auch schon Verhaltensziele, in denen Zukünftiges geistig vorweggenommen und zielführend angestrebt wird.

Beim Menschen ist eine solche Zielbestimmtheit des Verhaltens ganz augenscheinlich. Neben und nach ungelernten und vorsprachlich gelernten Zielorientierungen kommen bei ihm auch sprachlich vermittelte, insbesondere weltanschauliche und religiöse, Orientierungen mit ins Spiel. Sie setzen Ziele, die nicht nur durch ihre Attraktivität verhaltensbestimmend werden ("Verheißungen"), sondern sie stellen auch Forderungen, denen die Menschen nachkommen sollen und ggf. auch unter Zwang nachkommen müssen. In seiner gewissen Instinkt-Unabhängigkeit (A. Gehlen u. a.: der Mensch als "das nicht festgestellte Tier") ist der Mensch in seinem sozialen Leben auf die richtige Nutzung seiner eigenen Möglichkeiten zur Selbstorientierung angewiesen, und außerdem von sozial vorgegebenen Fremdorientierungs-Systemen abhängig, die ihm von der frühen Kindheit an sprachlich vermittelt werden, und die er dank seiner Denkfähigkeit selbst noch korrigieren und ausbauen kann. Insbesondere seine Abstraktionsfähigkeit ermöglicht ihm, aus vielen Einzelorientierungen so etwas wie eine mehr oder weniger bewusste und konsistente Gesamtorientierung abzuleiten. Hans und Shulamith Kreitler (S. 128) verglichen in einem einprägsamen Bild die individuell bewusste Weltanschauung mit einer Reihe von Wegweisern oder mit einer Landkarte, die den suchenden Menschen zu einem Ziel hinführen, und ich (H. Sch.) ergänze, auch aus einer schwierigen Situation herausführen können. Nun gibt es seit jeher unterschiedliche weltanschauliche Orientierungen, die entsprechend verschiedenartige Verhaltensweisen begünstigen oder fördern, begrenzen oder verhindern können.

In der Sicht der Kreitlers ist der seelisch Gesunde (das war in ihrer Untersuchung eine Vergleichsgruppe von Nichtpatienten) in der Lage, extreme oder paradoxe Formulierungen eines weltanschaulichen Inhalts "cum grano salis" ("mit einem Körnchen Salz") zu verstehen, also an den eigenen Erfahrungen über die Welt und die Menschen zu messen und ganz beiläufig zu korrigieren. Wir könnten ergänzen: Der Gesunde realisiert eher mal die Ausnahme von der Regel, kann selber mal Ausnahmen machen ("ab- und zugeben", "fünfe gerade sein lassen"), kann Kompromisse schließen und verbal hochgespielte Gegensätze abschwächen oder, wo das nicht gelingt, sie ignorieren. Eher als die Psychotiker sind die Gesunden in der Lage, die ihnen durch Erziehung übermittelte ideologische Orientierung immer wieder mal auf ihre Verlässlichkeit und Verwendbarkeit zu überprüfen und durch Korrekturen oder faktische Nichtbeachtung den realen Gegebenheiten anzupassen.

Im Unterschied zu faktisch desorientierenden Weltanschauungen und Religionen gibt es auch menschenfreundliche, tolerante, genussfreudige und wirklichkeitsbejahende Orientierungen, und wenn diese in einer menschlichen Gesellschaft Geltung erlangen, können lässig-freundliche, tatkräftige, bei Gefahr besonnene und wenn nötig entschlossene Menschen in ihr aufwachsen und leben. Ich möchte damit gar keine Rangordnung der religiös-weltanschaulichen Orientierungen verschiedener Gesellschaften aufstellen (im Zweifelsfalle ist ja "unsere" immer die beste!), sondern möchte nur darauf hinweisen, dass solche Orientierungen sich in Hinsicht auf ihre eher positiven bis eher negativen Effekte (für ihre Anhänger und ihre Gegner negativ!) unterscheiden. Zur Illustration des Gemeinten könnte ich wenigstens einen klar fehlorientierenden Glauben nennen: nämlich den, dass die genitale Verstümmelung der Mädchen und Frauen in Nordafrika und in einigen islamischen Ländern den Frauen oder auch nur den Männern oder den Familien gut tun könnte. Das Gegenteil ist nur zu offensichtlich. Ich denke schon, dass religiöse, weltanschauliche und einzelkulturelle Orientierungen sich gefallen lassen müssen, an den Menschenrechten gemessen zu werden. Vielleicht kann man sie nicht - von außen - ändern, aber man darf sie doch schlimm finden. Dabei ist zu bedenken: auch "die Menschenrechte" und "die Menschenpflichten" sind nicht das letzte Wort. Es gibt keine Generalorientierung durch einen ethischen Grundsatz (oder in Zehn Geboten), die immer richtig wäre, und es sollte auch besser keine geben (dies ist, wohlgemerkt, keine Generalorientierung!).

Auch die Goldene Regel des "do ut des" und ihre ergänzende Umkehrung: "Was du nicht willst, dass man dir’s tu, das füg auch keinem anderen zu!" gibt eher eine Grenze zum Negativen vor, als dass sie zwischen verschiedenen positiven Zielen Entscheidungshilfe leisten könnte. Ein Studienfreund von mir berief sich gern auf die "Goldene Regel" seines Psychoanalytikers: Immer wenn du unsicher bist, welche von beiden Handlungsmöglichkeiten du realisieren solltest, frage dich selbst, bei welcher Alternative du das bessere Gefühl haben würdest!" Das ist eine ganz gute Regel für einen entscheidungsunsicheren (zwanghaften) Neurotiker, aber sie wäre zugleich eine schlimme Rechtfertigung für einen rücksichtslosen Soziopathen, der vielleicht ein ganz gutes Gefühl dabei hat, jemanden zu quälen. Der Soziopath sollte besser seinen Interaktionspartner (speziell sein Opfer) fragen, ob er (bzw. es) wirklich mit dem einverstanden ist, was der Soziopath (der Täter) mit ihm tun will. Und das Opfer sollte dann die Möglichkeit haben, klar "nein!" zu sagen, zu flüchten oder Hilfe herbeizurufen, besser noch: es sollte schon bei kleineren Übergriffen den Kontakt abbrechen. Für den aggressiven Soziopathen sollte die Goldene Regel daher eher lauten: "Du sollst nichts tun, was deinem Partner Schmerzen oder Not bereitet und wogegen sich dein Partner wehrt!".

Es könnten aber eher 5 bis 7 Regeln sein, die einigermaßen verallgemeinerbar und grundlegend uns Orientierungshilfen geben. Jede Regel steht aber anderen Regeln gegenüber, und für alle diese Regeln sollte gelten (so als wären es gebietende und verbietende Personen): "Ihr sollt einander respektieren, außer eine von euch käme auf die Idee, alle anderen bestimmen zu wollen. Dann wehrt euch dagegen!".