2.4.4. Orientierung im sozialen Kontext: Selbstverständlichkeiten

Die Älteren unter uns können sich vielleicht noch daran erinnern, und die Jüngeren kennen das Bild aus alten Filmen und Wochenschauen: Da gingen Männer auf der Straße, den Spazierstock in der Hand, im dunklen Anzug, unter dem Jackett ein weißes Hemd mit gestärktem Kragen und Krawatte, auf dem Kopf ein Hut, und das mitten im Hochsommer. Wenn sie Bekannten oder bestimmten Respektspersonen begegneten, nahmen sie zum Gruß den Hut ab. Die kleinen Mädchen machten zur Begrüßung einen "Knicks" (wie vor der Queen), die Jungen machten einen "Diener", eine mehr oder weniger tiefe Verbeugung. Das war ganz selbstverständlich so, und wer es nicht tat, fiel als unerzogen oder unhöflich auf. Daneben gab es den militärischen Gruß: die Hand wurde mit einer eckigen Bewegung an die Mütze geführt, die dann nicht abgenommen werden musste, oder sie wurde gar zum "Hitlergruß" ausgestreckt. In der Generation der Männer, die mit solchen Sitten und Gebräuchen nichts mehr zu tun haben wollten, entdeckten einige die Vorzüge der Baskenmütze. Die konnte man beim Grüßen aufbehalten. Aber nicht in der Kirche. Dort hat man die Kopfbedeckung selbstverständlich abgenommen, jedenfalls bei den Christen. Dagegen mussten die Männer in der Synagoge selbstverständlich eine Kopfbedeckung tragen; ggf. auch eine Baskenmütze; für hutlose Gäste gab es vielleicht Leih-Kippas. Die jetzige Generation trägt eine Kopfbedeckung, abgesehen von den modischen Baseballmützen, nur noch bei grimmiger Kälte (z.B. eine Wollmütze) oder beim Radfahren, nämlich einen Fahrradhelm. Vielen Radfahrern ist dies schon ganz selbstverständlich geworden.

Im Wandel der Zeit und im Vergleich verschiedener Kulturen erweist sich die Relativität und Begrenztheit solcher "Selbstverständlichkeiten". Unter ihnen könnten auch "alte Zöpfe" sein, die man schon längst hätte abschaffen müssen, verzichtbare Benimmregeln, hinterwäldlerische Verhaltensrelikte, abgesunkenes Kulturgut, von Volkskundlern archiviert wie die "Sitten und Gebräuche fremder Völker". Wir sollten alte Sitten aber nicht unbesehen verwerfen. Einige erscheinen mir als durchaus erhaltenswert, z.B. der Frau den Vortritt zulassen, und insbesondere in Gefahrsituationen sollte für die Rettung gelten: "Ladies and children first!". Es sollte auch weiterhin selbstverständlich sein, einen besiegten Gegner nicht noch zu quälen; Ritterlichkeit und "fair play" sind auch heute noch wünschenswert.

Inzwischen gibt es auch schon kulturenübergreifende internationale Standards, was man in großen Flughäfen und in Hotels der gehobenen Preisklasse erwarten kann und wie man sich selber dort zu benehmen hat: Selbstverständlich kann man sich in Englisch verständigen, findet sich mit der Vielzahl der Piktogramme zurecht, die uns mit stilisierten Bildern zu den verschiedenen Zielen führen. "Man" kann mit Telefon, Anrufbeantwortern, Scheckautomaten und anderen elektronischen Kommunikationsmitteln umgehen. Und morgens ist man frisch geduscht (statt wie früher einmal in der Woche in die Badewanne zu steigen!); und man pinkelt nicht ins Bidet. Es ist nicht zufällig, dass viele frühere und auch heutige Selbstverständlichkeiten Fragen der Hygiene und der Unfallverhütung betreffen. Es gibt hier Regeln, die wir immer und an jedem Ort beachten sollten, die nicht jeweils neu ausgehandelt werden müssen. So auch die Verkehrsregeln: Ich muss es mir nicht immer neu überlegen, ob ich diesmal bei "Rot" halte, ob die Kreuzung vielleicht doch frei ist und gar kein Polizist in der Nähe ist. Bei "Rot" wird gehalten! Plastikabfall gehört in den Müll, nach Möglichkeit in die Gelbe Tonne. Schon kleine Kinder können und sollten dies lernen, bis es ihnen "zur zweiten Natur" geworden ist. Wenn sie alleine in der Wohnung sind, sollen sie keine fremden Leute hereinlassen, keine! Beim Bootfahren an der Küste und auf großen Seen werden Schwimmwesten getragen, basta!

Solche Kurzformeln klingen vielleicht streng, aber sie sollen einfach nur als ganz entschieden verstanden und ganz selbstverständlich beachtet werden, können bei Gelegenheit auch ausführlich begründet werden. Vielleicht kommen wir mit der Zeit dazu, dass einige gute Sitten überall auf unserer Erde selbstverständlich gelten. Das könnte die Verlässlichkeit der Menschen untereinander erhöhen und den Umgang mit möglichst vielen Gleichgesinnten erleichtern. Wir brauchen dazu gar nicht die Festlegungen und Sanktionen des Gesetzbuches; was selbstverständlich ist, muss nicht erst über mehrere Instanzen eingeklagt werden. Auch wenn man als Autofahrer auf der vorfahrtberechtigten Hauptstraße im Stau weiterhin die Vorfahrt hat, kann es hilfreich sein, jeweils einen in der Nebenstraße gleichermaßen im Stau stehenden Wagen sich vor einem einfädeln zu lassen. Das sollte wirklich selbstverständlich sein!