2.4.6.3. Zur Individualpsychologie der Korruption

Der Bestechende und der Bestochene haben eine menschliche Eigentümlichkeit gemeinsam: beide sind in erster Linie bloße Opportunisten. Sie nutzen jede Gelegenheit, die sich bietet, für ihren eigenen Vorteil, und nur wenn sie mit diesem ihrem Verhalten konfrontiert werden, kommt bei ihnen die bewusstere Frage auf: »Ja um Gottes Willen, warum sollte ich eine so gute Gelegenheit nicht nutzen? Wie käme ich denn dazu, etwas zu unterlassen, was mir etwas einbringt?« Dabei sind sie keineswegs nur egoistisch; sie können das opportunistisch Erlangte sogar gern an die eigenen Angehörigen oder an einen guten Freund weitergeben, vor allem wenn sie damit rechnen können, daß diese eine solche Freundlichkeit erwidern werden. Korrupte Opportunisten haben bei der Ausnutzung von Gelegenheiten wenig Unrechtsbewusstsein, verteidigen vielmehr ihre Handlungsweise mit einem chronisch guten Gewissen, sodass sie sogar bei offensichtlicher Korruption beteuern können, damit etwas Gutes beabsichtigt zu haben, gut jedenfalls für sich selbst, für die eigene Familie, für die Freunde, die Sippe, den Klüngel, die Partei, für Volk und Vaterland. Sie sind also in der Lage, ihr korruptes Tun mit den besten Absichten und Zielen zu begründen. Schlimm werden solche Rechtfertigungen, wenn sie darüber hinaus vorgeben, höchste moralische Gründe auf ihrer Seite zu haben, etwa daß ihr korruptes Handeln der höheren Ehre Gottes oder der Erhaltung von Recht und Ordnung dient. Corruption kann sich so hinter einem großen C (= christlich) in der Parteibezeichnung oder hinter einem Kreuz im Firmenzeichen verstecken. Hohe Ziele können nämlich zur Rechtfertigung von allem missbraucht werden, u.a. natürlich auch zur Rechtfertigung von Korruption. Korruptionsträchtig ist beispielsweise auch die weit verbreitete Praxis, mit anderer Leute Geld Gutes tun zu wollen, und dabei einen beträchtlichen Teil des Geldes für sich selber abzuzweigen, bis zu dem Extrem, die gute Absicht nur vorzutäuschen und die gesammelten Gelder gleich in die eigene Tasche zu stecken.

Wie kommt es nun, daß Menschen mit solchem Verhalten so erfolgreich sind, daß sie immer wieder Leute finden, die dieses Spiel mitspielen oder sich von ihnen täuschen und ausnutzen lassen? Das kann daran liegen, daß bestechende und auch bestechliche Leute auf den ersten Blick gar nicht als unangenehme Zeitgenossen auffallen und daß man ihnen das Unrechte ihres Tuns gar nicht ansieht. Sie können sogar ganz gut aussehen und als sympathisch erscheinen und im Umgang mit Menschen und natürlich mit Geld sehr gewinnend sein. Sie sind darin vergleichbar den Menschen, die von den Psychiatern früher als Psychopathen, dann als Soziopathen und danach als »antisoziale Verhaltensstörungen« diagnostiziert wurden. (Nur kurz zu dem letztgenannten Begriff: Können »Störungen« wirklich antisozial sein? Antisozial sind doch eher die Menschen!) Sie selbst aber erleben sich als ganz normal, und in der Tat können sie in verschieden Hinsichten gut funktionieren, besonders beim Bestechen und Sichbestechenlassen! Korrupte Politiker können oft einen recht guten Eindruck machen: sie können ganz gut aussehen, groß gewachsen und vielleicht auch stattlich, gut angezogen und gepflegt sein, im Kontakt mit anderen jugendlich vital bis altväterlich jovial, immer zum Lächeln bereit, aber auch fähig, sich stimmgewaltig zu Wort zu melden, mit gesunder Durchsetzungskraft ausgestattet, eigentlich recht unneurotisch. Der Verdacht, dass mit einem solchen Menschen etwas nicht ganz stimmt, kommt erst auf, wenn er seine Normalität und insbesondere Rechtschaffenheit zu sehr übertreibt, wenn er so sehr den Redlichen markiert, daß es einem fröstelt, z.B. wenn er häufiger sagt: »Ich sage Ihnen ganz offen und ehrlich«, oder: »Sie können mir glauben,...«, oder wenn einer »brutalstmögliche Aufklärung« verspricht. Brutal gegen wen? Gegen den, der über etwas aufgeklärt werden möchte, der also Aufklärung fordert? Der korrupte Politiker stellt sich jedenfalls als ehrlich und offen hin und er gibt sich große Mühe, in der Öffentlichkeit den Eindruck der »Redlichkeit« zu machen. Der Psychologe sieht solches Verhalten entweder als schlicht verlogen an oder er vermutet in ihm so etwas wie eine »Reaktionsbildung« (Sigmund Freud), d.h. also eine Umkehrreaktion gegen das eigentlich Intendierte, ein geflissentliches Betonen des eigenen Wohlverhaltens auch und besonders dann, wenn alle Zeugenaussagen und Sachbeweise für Korruption sprechen. Korrupte Menschen verfügen in der Regel über ein recht gutes Gedächtnis, ja sie verfügen sogar über ihr Gedächtnis, das sie nach Belieben an- oder abstellen können. Manchmal können sie sich an nichts mehr erinnern, außer an die juristisch begründete Möglichkeit der Aussageverweigerung und den dafür einschlägigen Paragraphen. Mit Beweismaterial konfrontiert geben sie gerade nur so viel zu, wie sie ohnehin nicht mehr abstreiten können, weil es schon objektiv erwiesen ist. Auch wenn sie in die Enge getrieben worden sind, geben sie dennoch nichts zu oder verweigern überhaupt die Aussage. Zur Aussageverweigerung arbeiten sie aufs engste mit Hausjuristen zusammen; sie können mit einem gewissen Verständnis auch dann rechnen, wenn sie vor Gericht mit Alten Herrn ihrer eigenen Verbindung zu tun bekommen.

Korrupte Politiker nehmen, wenn ihre Bestechlichkeit schon offensichtlich ist, alle mildernden Umstände für sich in Anspruch. Ihre Ausweichmanöver sind recht erfindungsreich; es werden verschiedene Strategien angewandt, die zusammengenommen einander widersprechen können, wie in der Geschichte von dem Mann, dem der Richter vorgehalten hatte, er habe einen Topf gestohlen. Der Angeklagte verteidigte sich: erstens hat er den Topf nicht gestohlen, sondern nur ausgeliehen, zweitens gehörte der Topf gar nicht dem Kläger, drittens war es auch gar kein Topf, sondern ein Eimerchen, und viertens muss der Soundso ihn geklaut haben, und fünftens kann sich der Angeklagte überhaupt nicht mehr daran erinnern (das ist eine etwas gekürzte Fassung einer solchen Argumentationsreihe). Korrupte Menschen sind Meister im Weißwaschen von schmutzigen Westen und schmutzigem Geld. Das hat den beabsichtigten Effekt, dass selbst ein hohes Maß an Korruption in der Öffentlichkeit wenig anrüchig ist, viel zu wenig! Warum wohl? Das liegt einerseits an den Täuschungsfähigkeiten des korrupten Politikers. So kann selbst der als korrupt entlarvte Politiker sich weiterhin als eigentlich guter Mann hinstellen und sogar in der Öffentlichkeit Mitleidsregungen wecken, wenn er sich darüber beklagt, zu Unrecht verdächtigt worden zu sein, ein unschuldiges Opfer einer Kampagne der politischen Gegner und einer gezielten Hetze der Medien zu sein. Er fühlt sich missverstanden, von seinen Gegnern schlechtgemacht, ja geradezu verfolgt, und solange er noch die Macht dazu hat, versucht er die Medien, die an der Entdeckung und Aufklärung der Korruption beteiligt waren, mit Gegenvorwürfen anzugreifen und zum Verstummen zu bringen.