Ich sollte nun aber mit neuen Überlegungen ansetzen. Wenn es bisher so schien, dass ich die Korruption, diese höher entwickelte Form solidarischen Verhaltens, billigen und verteidigen würde, möchte ich jetzt doch ganz ausdrücklich der Frage nachgehen, was heute, für unsere schon weitgehend globalisierte Menschheit, gegen die Korruption spricht, und zwar wegen ihrer in Hinsicht auf die Menschheit schädlichen Folgen. In Ansätzen hatte ich dies schon angedeutet: die Verteidigung der eigenen Familie oder Sippe kann andere Familien oder Sippen, Nachbarn oder Fremde benachteiligen oder in Bedrängnis bringen; die Auserwähltheit des eigenen Stammes kann mit der Vernichtung der fremdstämmigen Bewohner eines gelobten Landes verbunden sein; die Solidarität derjenigen, die einander Gefälligkeiten erweisen können, weil sie ohnehin die Besitzenden sind, kann die Armen noch weiter vom Zugang zu den Reichtümern unserer Welt abkoppeln. Abstrakter formuliert: die Binnensolidarisierung einer Gruppe kann mit ihrer De-Solidarisierung mit den Außenstehenden verbunden sein, kann sich als schädlich für die Gesamtgesellschaft erweisen. Denn alle diejenigen, die nicht zur »Familie« im engeren oder weiteren Sinne gehören, sind im Verhältnis zur eigenen Bezugsgruppe bloß »kollateral«, eine zu vernachlässigende Nebensache.
Korruption führt zum Noch-gleichgültiger-Werden gegenüber den Interessen derer, die keine Gefälligkeiten erweisen können, weil sie außer ihrer nackten Existenz kaum etwas zu bieten haben. Und das Leben eines armen Schluckers ist in einer Korruptionsgesellschaft nicht viel wert. Korruption vergrößert sogar noch die Differenz zwischen reich und arm, zwischen den Insidern und den Outsidern, zwischen den Habenden (»Haves«), die etwas zu bieten haben, und den Habenichtsen (»Havenots«), denen es an allem fehlt, außer vielleicht an einer größeren Zahl hungriger Kinder. Die Armen haben daher auch nichts, womit sie jemanden bestechen könnten, und andererseits lohnt es sich überhaupt nicht, sie bestechen zu wollen, denn was könnte man schon mit ihrer Hilfe besser als ohne sie erreichen? Nützlich werden könnten sie am ehesten mit ihrer Beteiligung an einem Pogrom, an Plünderungen, an einem Beutezug, an einer selbstmörderischen Irrsinnstat mit Aufopferung des eigenen Lebens. Menschen waren schon immer bereit, für ihr Seelenheil einiges zu opfern, auch ihr eigenes Leben und das ihrer Nächsten. Aber so weit muss man gar nicht gehen: Man kann sie auch dazu bewegen, beispielsweise für einen größeren, zusammengesparten oder ausgeliehenen Geldbetrag einen buntbemalten Plastik-Elefanten zu kaufen, der dann feierlich als Gott Manescha im Ganges versenkt wird, um dem Opfernden die nächste Wiedergeburt zu ersparen. Umgekehrt kann der opferbereite Gläubige auch zu Opfern angehalten werden, um nach dem Tode doch weiterleben zu können. Was ihm versprochen wird, und wofür er dann opfert, das hängt natürlich davon ab, was man ihm zur Rettung von allem Übel anbietet und ihm schmackhaft machen kann. Es gibt also Möglichkeiten, auch die Armen zu mobilisieren und dann von ihren zwar bescheidenen, aber durch die große Zahl der Gläubigen doch massenhaften Opfern und Leistungen zu profitieren: man muss nur versuchen, sie durch Mission, Propaganda und Werbung dafür zu gewinnen, daß sie ihr weniges Geld (ggf. auch das, was sie vom Staat zum Lebensunterhalt bekommen haben) nur für bestimmte Religionen, Parteien oder Firmen (und deren Markenwaren) ausgeben. Dazu ist dem Monopolisten, der solche Abschöpfung betreibt, jedes Mittel recht, jede Lüge, jede Vortäuschung falscher Tatsachen, jedes uneinlösbare Versprechen! Auch Werbegeschenke sind Bestechungsversuche, und zwar besonders infame, denn die Kosten der Werbung muss schließlich der Verbraucher selber bezahlen!
Also schon rein gesamtwirtschaftlich gesehen ist Korruption von Nachteil: sie verteuert Leistungen und Waren, läßt sie ggf. gar nicht zustande kommen; dann verdienen sich gewissenlose Leute dumm und dämlich am »Verkauf« von Leistungen, die sie gar nicht erbracht haben und dies auch gar nicht vorhatten. Somit ist die Korruption gegenüber den Menschen, die nicht von ihr profitieren, insbesondere gegenüber ihren Opfern, grob und rücksichtslos ausnutzerisch, wenn sie jede sich bietende Gelegenheit sucht und entdeckt, ohne Gegenleistung staatliche Finanzierungen zu erschleichen. Selbst wenn Korruption aufgedeckt wird, führt das nicht notwendigerweise zur Wiedergutmachung an den Betrogenen. Denn die um ihr Geld gebrachten Einzelnen und auch die staatlichen Einrichtungen können ihr vergeblich gezahltes Geld nicht zurückfordern, wenn der Betrüger sich mit Konkurs und vorbereiteter Flucht mit dem veruntreuten Geld aus dem Staub gemacht hat. Den Letzten beißen dann die Hunde!
Korruption führt auf Dauer zu einer insgesamt unsolidarischen Gesellschaft. Diese enthält zwar Inseln von Kumpanei, von Kameraderie und Seilschaften, von »Familien« und Interessengruppen, aber die sind schließlich gezwungen, sich und ihren extremen Luxus in Hochsicherheitsbereichen einzuigeln. Und sie müssen zu ihrem Schutz darauf bestehen, daß diejenigen unter den von ihnen Ausgenutzten, Armen und Gescheiterten, die ihnen gefährlich werden könnten, ihrerseits in Hochsicherheitstrakte, diesmal aber in der extremen Kargheit von Gefängnissen, eingeschlossen werden. Mit solcher Selbstabschließung und Fremdausgrenzung beginnen Entwicklungen, die im hinduistischen Indien zum Kastensystem geführt haben. Auch in den Kasten trennen sich Ranghohe (und oft zugleich auch Reiche) mit übertriebenem Standesbewusstsein von den Rangniederen, die wiederum oft auch die Ärmsten sind, so wie in Indien die außerhalb des Kastensystems, genauer in diesem System ganz unten stehenden, Kastenlosen oder Parias. Die strenge Absonderung einer Teilgruppe oder Gesellschaftsschicht aus einem bisher bestehenden oder in Zukunft möglichen Ganzen und die Selbstabschließung der Kaste nach außen geschieht durch mehrere zusammenwirkende Mittel: Im Mittelpunkt steht der gruppenspezifische religiöse Glaube mit seinen Riten, dazu kommt die Verpflichtung zur Endogamie (Verbot der als sündhaft betrachteten »Vermischung« mit Anderen) und die Kommensalität (das Gebot, nur mit Mitgliedern der eigenen Kaste zu essen und zwar nur die in dieser Kaste erlaubten Speisen). Das kann noch ergänzt und verstärkt werden durch bestimmte Haartracht und Kleidung, bestimmte Kopfbedeckungen und bestimmte Anlässe, diese entweder aufzusetzen oder abzunehmen, und durch bestimmte künstlich beigebrachte körperliche Male wie die Beschneidung, das Provozieren von Narbenbildung (»Schmiss«), das Anbringen von Tätowierungen etc., auch durch andere gemeinsame Sitten und Gebräuche bzw. kastenspezifische Verpflichtungen, denen jeder Einzelne nachzukommen hat. Die Zugehörigkeit zu einer Kaste wird in der Regel durch die Geburt bestimmt, kann aber auch mit einem bestimmten Beruf verbunden sein. Im »Kastengürtel«, der sich von Indien über Iran und den Nahen Osten bis ins nördliche Schwarzafrika erstreckt, gibt es endogame Berufsgruppen, die teils geachtet, teils wegen ihrer Zauberkraft gefürchtet sind: Wanderhandwerker, Schmiede, Musikanten, und Gaukler; eine verwandte Erscheinung waren die »unehrlichen Berufe« (Henker, Abdecker, Lederarbeiter, Straßenkehrer, Gaukler) in Europa, Japan, Polynesien und in vorkolumbianischen Kulturen Amerikas. Die Zahl der Kasten im heutigen Indien wird auf etwa 3000 geschätzt.
Aber auch in modernen Gesellschaften außerhalb des Kastensystems gibt es Selbstausgrenzungen bestimmter beruflicher oder anderer Gruppen, und zwar besonders dann, wenn diese die Möglichkeit sehen, Gesetze oder Gesetzeslücken zur eigenen Bereicherung und auf Kosten der übrigen Bevölkerung und des Staates grob auszunutzen. Das können besonders gut solche Gruppen, die »am Drücker« sind, also Spezialisten, die Leistungsmonopolisten sind und dadurch die Preise für ihre Leistungen hochtreiben, und durch gut organisierte Streiks sogar noch Staatsgelder für sich abzweigen können, auch mit Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit, die sich auf deren Leistungen angewiesen fühlt (weil sie von keinem anderen erbracht werden). Wer will schon selber Schmutzarbeiten verrichten, wer kann sich schon selber im Labyrinth hochtechnisierter Anlagen zurechtfinden, wer mag schon auf die Nutzung das eigenen Autos verzichten? Solche Engpässe können wiederum in einer korrumpierten Gesellschaft innerstaatlich und international von Monopolisten ausgenutzt werden, die z.B. einen Ölhahn auf- oder zudrehen können, was auch eine Form der Erpressung ist.