2.4.6.6. Wo in der Welt gibt es wenig Korruption

Das Ergebnis dieser Überlegungen? Die geschilderte korruptive Unsolidarität können wir heutige Menschen uns nicht mehr erlauben, jedenfalls nicht im weltweiten Maßstab, nicht in einer wirtschaftlich-technisch globalisierten und immer noch hoch aufgerüsteten Welt. Es sind die aus der Unsolidarität erwachsenden Gefahren und nicht etwa individualethische Bedenken, die uns dazu zwingen, die weltweit grassierende Korruption auf ein möglichst geringes Maß herunter zu schrauben, bzw. nicht-korruptives Verhalten weltweit zu pflegen und zu unterstützen, schließlich zur internationalen Norm zu machen. Denn statt bloß zu fragen, wo die »böse« Korruption herkommt und wer ihre größten »Sünder« sind, sollte man besser der Frage nachgehen, wo es heutzutage wenig oder fast keine Korruption gibt und wie das zu erklären und vielleicht auch herbeizuführen ist. Gehen wir zunächst der ersten Frage nach: Wo in der Welt gibt es wenig Korruption? Nach einer internationalen Statistik gibt es einige geographische Kerngebiete oder politisch zu definierende Sonderbereiche, in denen Korruption kaum vorkommt oder eher selten ist. Ich stelle diese Staaten zu ein paar Gruppen zusammen, und die vorangestellten Zahlen geben ihren Rangplatz in der Korruptionsskala an, von ihrem negativen Pol (keine bis geringe Korruption) angefangen:

    1. Finnland      
    2. Dänemark      
      3. Neuseeland    
    4. Schweden      
      5. Kanada    
    6. Island      
    7. Norwegen      
        8. Singapur  
          9. Niederlande
      10. Großbritannien    
          11. Luxemburg
          12. Schweiz
      13. Australien    
      14. USA    
          15. Österreich
        16. Hongkong  
          17. Deutschland

Meine Einschätzung dieser Rangreihe: Es sind in den ersten Plätzen die fünf skandinavischen Staaten, dann Großbritannien zwischen vier Staaten, die ehemals englische Kolonien waren und weiterhin englischsprachig geblieben sind, dann zwei ehemals englisch dominierte Hafenstädte, die beide sich inzwischen zur internationalen Megalopolis weiterentwickelt haben, aber einige britische Traditionen weiterführen konnten, dann vier eher kleinere mitteleuropäische bzw. alpine Staaten und schließlich Deutschland. Dies sind die ersten 17 von insgesamt 90 Staaten, die in Hinsicht auf das Ausmaß an Korruption eingeschätzt worden waren. Interessanterweise korreliert diese Rangreihe positiv mit verschiedenen anderen Rangreihen, z.B. mit der geringen Zahl an tödlichen Unfällen im Straßenverkehr, mit geringer Säuglingssterblichkeit, mit guter Schulbildung und mit relativ hohem finanziellen und personalen Einsatz für die Entwicklungshilfe etc.

Die aufgezählten Cluster werfen einige Fragen auf, z.B. die ganz allgemeine Frage: Wie kann das, was in Nigeria als selbstverständlich gut gilt, nämlich die Korruption, in Finnland und anderen skandinavischen Ländern so gering ausgeprägt, ja vielleicht sogar verpönt sein? Und weiter: Gibt es vielleicht so etwas wie eine zirkumpolare Bereitschaft zur Solidarität miteinander in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit einer Natur, die durch strenge und lange Frostperioden dazu zwingt, gemeinsam Vorsorge zu treffen, um gemeinsam »gut durch den Winter zu kommen«? Außerdem: Viele der aufgezählten Staaten sind Anrainer der großen Meere, sind von Seefahrern international zur Geltung gebracht worden. Seeleute mussten seit jeher über lange Wochen und Monate gut zusammenarbeiten, um gemeinsam den Zielort zu erreichen bzw. gemeinsam den gewünschten wirtschaftlichen Erfolg der Seefahrt zu schaffen, und um nicht gemeinsam im Sturm oder an Felsenklippen unterzugehen. Eine gewisse Verlässlichkeit und Solidarität vom Kapitän bis zum Schiffsjungen konnte zu solchem Erfolg beitragen. Die vom englischen oder britischen Mutterland abhängigen Kolonien haben u.a. die englischen Traditionen des »fair play« im Sport und vielleicht auch des geduldigen Schlangestehens ohne Vorzugsbehandlung zum Verteilen knapper Ressourcen übernommen. Oder ernsthafter: die sicher funktionierende Praxis der politischen Gewaltenteilung, ein relatives Gleichgewicht zwischen Regierung und Opposition mit der Möglichkeit der Ablösung der einen durch die andere, die Pressefreiheit, die von Protestanten im Protest gegen römisch-katholische Hierarchien und Glaubenszwänge erkämpfte und von Aufklärern verteidigte Religionsfreiheit, all dies zusammen konnte zur Minderung und Verhütung der Korruption beigetragen haben.

So gesehen ist nicht die Korruption eine Ausnahme und Abweichung vom normgerechten Verhalten, sondern das Fehlen oder das geringe Ausmaß von Korruption ist eine erklärungsbedürftige, aber auch einer Erklärung zugängliche Ausnahme, die durch das Zusammenwirken mehrerer, je für sich eher seltener Umstände zustande kommen konnte. Weitere Rahmenbedingungen für ein geringeres Ausmaß an Korruption sind vielleicht:

Diese Merkmale könnten aber auch schon Folgen eines geringen Korruptionslevels sein. Insgesamt könnten Menschen weltweit daran arbeiten, auch in den anderen Ländern der mittleren und unteren Bereiche auf der Korruptionsskala solche Rahmenbedingungen für Nicht-Korruption allmählich zu verbessern und ihre positiven Folgen zu nutzen.

Korruption könnte wohl auch kontrolliert und vermindert werden durch Maßnahmen, die den möglichen Naherfolg der Korruption mindern: Korruption kommt weniger leicht auf, wenn politische Entscheidungen einzelner Personen nur geringe finanzielle Auswirkungen haben, und vor allem wenn die darüber entscheidenden Personen davon nicht übermäßig profitieren können. Der Streitwert einer juristischen Entscheidung bzw. die Größenordnung einer wirtschaftlichen oder finanziellen Transaktion sollte nicht zu unmäßig hohen Einkünften des Vermittlers führen. Es sollte daher der Vermittlungsgewinn prozentual um so geringer ausfallen, je höher der zu vermittelnde Gesamtwert ist. Denn auch bloß 1% vom Streitwert oder Investitionsvolumen einer Milliarde sind schon 10 Millionen, und dies mit einem Telefongespräch oder einer Unterschrift »verdient«!

Was ist darüber hinaus zu tun? Man muss versuchen, der Korruption den Charakter der Selbstverständlichkeit zu nehmen. Dazu könnte, wie gesagt, auch eine Begrenzung des Streitwertes, des Honorars oder der Vermittlungsgebühr helfen, am besten mit einem Prozentsatz, der um so geringer wird, je höher der Gesamtwert ist; natürlich muss ein solches Honorar um einiges höher als ein höchster Stundenlohn sein! Finanzielle Transaktionen jeder Art sind öffentlichkeitspflichtig, müssen in Bilanzen aufgeführt sein, müssen schriftlich und vor Zeugen festgehalten, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Man sollte wieder preußische »Sekundärtugenden« pflegen (warum eigentlich »sekundär«? Bei den konfuzianischen Chinesen galten sie als primär!): Sparsamkeit, Höflichkeit, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Redlichkeit, Pflichtbewusstsein etc. Die Freudsche Tendenz, solche Tugenden als »anal verklemmt« zu diagnostizieren und zu diffamieren, ist wohl aus der Gegenposition eines gewissen österreichischen Schlendrian her zu erklären. Schon Kinder sollten dazu angehalten werden, sich für ihre Zukunft als finanziell verantwortlich handelnde Erwachsene den Finanzminister Eichel als Vorbild zu nehmen, und solange sie noch klein sind, sollten sie nicht darin bestärkt werden, ihren Eltern mehr abzubetteln, als diese bezahlen können. Redlichkeit und Verlässlichkeit sind hohe Tugenden, die man nicht als genetisch vererbte Kompetenz mitbringt, sondern die in langwierigen Lernschritten erworben werden müssen. Man sollte Zivilcourage hochachten, z.B. auch die Fähigkeit, in Leserbriefen an die OP, in Wortmeldungen auf öffentlichen Veranstaltungen, im sich Beschweren und im Gang zum Kadi zur Durchsetzung des Rechts beizutragen.

Man sollte auch verhindern, daß Gruppen sich selbst abschließen und sich selber gute Rationalisierungen verschaffen, um den Staat bzw. ihre Mitmenschen grob ausnutzen zu können. Hohe Ziele sind in Frage zu stellen, denn es könnte sich erweisen, daß die guten Mittel wichtiger sind als die höchsten Zwecke; gute Mittel können sogar einen als böse diffamierten Zweck rechtfertigen, während der höchste Zweck keineswegs böse Mittel heiligen darf! Die Nächstenliebe, wörtlich verstanden, kann nicht ein höchster Wert sein. Es ist eher nötig, die biologisch begründete Liebe zu seinen Nächsten etwas zu begrenzen und stattdessen stärker die Solidarität mit den etwas Ferneren und schließlich auch mit den Fernsten zu pflegen. Denn es ist ohne eine solche Ermunterung gar nicht so einfach, der Versuchung zu widerstehen, nur an die eigenen Leute zu denken, und sich stattdessen auch um Menschen zu kümmern, die einem nicht so nahe stehen, oder gar um Tiere und schließlich sogar Pflanzen, mit denen wir nur noch ganz entfernt verwandt sind, nämlich insofern wir alle, Menschen, Tiere und Pflanzen, zusammen zum Reich des Lebendigen gehören und nur gemeinsam unser Weiterbestehen sichern können.