2.4.7.4. Kitsch als manipulative Übertreibung

Wer von "Übertreibungen" spricht, gerät leicht in den Verdacht, dass er mit erhobenem Zeigefinger das rechte Maß der bürgerlichen Mitte gegen Extreme und Extremisten aller Arten zu verteidigen sucht. Das liegt mir fern, und deshalb beginne ich meinen Rundgang durch die Welt der manipulativen Übertreibungen mit der (klein)bürgerlichsten unter ihnen, mit dem Kitsch. Ich stütze mich dabei zunächst auf das von Gerd Richter vorgelegte "Kitsch-Lexicon von A bis Z" (Bertelsmann, Gütersloh, 1972; die Hervorhebungen in Zitaten aus diesem Buch wurden von mir vorgenommen. H. Sch.). In diesem auch bibliophile Leser ansprechenden Buch beschränkt sich Richter nicht darauf, sich ästhetisch anspruchsvoll von kleinkariertem Kitsch zu distanzieren, sondern er geht verständnisvoll auf ihn ein und verdeutlicht ihn in all seinen Facetten. Unter Verweis auf Walther Killy "Deutscher Kitsch, Versuch über den literarischen Kitsch", Vandenhoeck + Ruprecht, Göttingen, 1961) bietet Richter auf S. 11 eine erste Charakterisierung an: "Ein Kriterium des Kitschs ist die Häufung bestimmter stilistischer oder kompositorischer Elemente. Alles tritt im Übermaß auf, wird im Übermaß angewendet ... Also ist im Kitschwerk das Edle nur und ausschließlich edel, das Gemeine nur und ausschließlich gemein, das Süße nur süß ... Von allem wird die zehnfache Dosis gegeben". Im Unterschied zum Kunstwerk sei das Kitschwerk eben ein Werk der eher "billigen" Effekte, wenn auch, wie Walther Killy schrieb, gelegentlich im "gehobenen Stil", wo "alles aufgeboten (wird), was gut und teuer ist". Natürlich meint hier "billig" den Geschmack, und "teuer" nur den manchmal übertrieben hohen Preis!

Aus den vielen sehens- und lesenswerten Beispielen des "Kitsch-Lexicons" greife ich als erstes das Kapitel "Süßer Kitsch" heraus. Der grundlegende Sachverhalt ist ein ganz natürlicher, dem Kitsch vorgelagerter: "Alles, was klein und niedlich ist, rührt die Herzen" (S. 221) und gegen die zärtliche Liebe einer Mutter zu ihrem Baby ist zunächst gar nichts einzuwenden. Auch Männer kennen solche Gefühle. Zum süßen Kitsch wird so etwas erst, wenn es allzu "süß" dargestellt wird, wenn natürliche Empfindungen durch übertreibende Darstellung pervertiert werden (S. 222). Dazu genügt schon das auf extreme Süßigkeit getrimmte Abbild, das alles Kleine, Putzige, Neckische, Niedliche und Süße in sich vereinigt, und dazu noch kleiner als ein ohnehin schon kleines Kind ist: "Was Wunder also, ... , dass die Miniatur eine bevorzugte Dimension des Kitschigen ist" (S. 221). Der Kitsch-Produzent geht dabei "auf Nummer Sicher": er setzt altbewährte Mittel massiert ein. Viel hilft viel, und warum sollte man nach Neuem suchen, wenn sich das Alte gut verkauft! Das macht die Klischeehaftigkeit manchen Kitschs aus: wie schon das französische Wort cliché (= Abklatsch) zum Ausdruck bringt, geht es um unschöpferische Nachbildungen. Die wegen ihrer bewährten Wirkungskraft überkommenen und eingefahrenen Darstellungsmuster sprechen immer wieder den gleichen schlichten Geschmack an. Das lässt den Kitschproduzenten in die Nähe konservativer Schichten des unteren Mittelstandes kommen, aber nur äußerlich. Er verkauft gern, was seinen Konsumenten so gefällt: Illusionen, Träume, Versprechungen, aber er tut dies mit eher nüchterner Berechnung und ggf. gutem finanziellen Erfolg, der ihn in die feine Gesellschaft katapultieren kann. Heiratsschwindler sind Meister solcher Übertreibungen, insbesondere im berechnenden Einsatz von Koseworten, Liebesschwüren und Eheversprechungen, die jeden (vernünftigen) Widerstand des Opfers einlullen. Auch bei ihnen geht es nicht um emotionale Wahrheit oder gar um guten Geschmack, sondern um die erstrebte Wirkung. Deshalb sind großzügige Komplimente und Elogen wirksamer als die Kargheit eines Norddeutschen, der nach einem von der Gastgeberin selber zubereiteten sehr schmackhaften Festessen als höchstes Lob gerade mal ein "schmeckt nicht schlecht!" für sie übrig hat. Südländer sind da viel einfallsreicher und kommen damit auch besser an.

In der Nähe des süßen Kitschs finden wir den Roman-Kitsch, wie er beispielhaft von Hedwig Courths-Mahler produziert wurde. Gerd Richter zitiert ausführlich aus ihrem Roman "Zwei Frauen" (S. 230 ff.) und kommentiert diese Texte kritisch: "Und wieder ist es charakteristisch für die Klischeehaftigkeit auch bei der Zeichnung von Gefühlen, mit welchem Wust von süßlichen Worten die Autorin diese Liebe beschreibt", und weiter auf Seite 234: "Es sind immer wieder die gleichen hochtönenden und dennoch nichtssagenden, pathetischen oder neckischen, bedeutungsschweren oder verniedlichenden Floskeln, die, im Übermaß verwendet, dennoch nichts verlebendigen und nichts bedeuten, sondern allenfalls Attrappenfiguren in Klischeesituationen umschreiben". Selbst einer der größten deutschen Dichter, Gotthold Ephraim Lessing, war in seinen Jugendjahren nicht vor einem Ausgleiten in die Bereiche des Kitschs bewahrt: "Sein bürgerliches Trauerspiel >Miss Sara Simpson< ... eröffnet in Deutschland die Reihe der sentimentalen, moraltriefenden, weinerlichen Rührstücke, in denen zum ersten Male der Bürger als ein edler, der Edelmann als ein schurkischer, minderwertiger Mensch erscheint" (S. 154). "Lessing ... traf damit genau die Zeitstimmung und das Herz des Publikums! Hinzu kommt, dass - vor allem mit der Strömung des Pietismus - die Zeit ohnehin wieder für das Gefühl, das schwelgerische, ausschweifende Gefühl, geöffnet war, eine Gegenreaktion gegen die in diesem Jahrhundert der Aufklärung, des Rationalismus allzu vorherrschende Vernunft!" Nach einer kurzen Inhaltsangabe folgt dann die Einschätzung von Gerd Richter: " ... subjektive Ehrlichkeit und Gefühlsaufrichtigkeit ... rechtfertigen nicht die Überdosis an Sentimentalität, die ausschweifende Tränenseligkeit, die weinerliche Gefühlsduselei, mit denen eben auch "Miss Sara Simpson" allzu reichlich von ihrem Schöpfer versehen worden ist". Was allerdings heutige Verfasser von Heimatschnulzen in Theater und Kino verbrochen hätten, sei weit schlimmer!

So kreidet Richter auch im Filmkitsch (S. 62) "die schamlose Massierung der Süße" an (S. 65), aber ebenso auch die Einschüchterung des Zuschauers durch das gehäufte Schlimme. Die schamlose Wirkungsmassierung sei immer ein Abzeichen des Kitschs. Wie süß waren doch schon die Madln in der Wiener Operette, bei Johann Strauß und noch mehr bei Franz Lehár und Emmerich Kalman, süßer geht´s nimmer! (S. 182 f.). Die Oper dagegen erstarrte immer wieder zu musikalischem Pathos und repräsentativem Pomp, und "keine andere Kunst (bot) so viel Möglichkeit zur Ostentation, zur Aufmachung und Ausstattung, zur Häufung und Steigerung der Effekte" (S. 184). Aus welchem Pietätsempfinden auch immer verzichtet der Autor hier darauf, auf das Wagnersche "Gesamtkunstwerk" hinzuweisen, das nicht nur in manchen Stabreim-Texten, sondern bis in den pompösen Rahmen der Bayreuther Festspiele Edelkitsch massiert. Wenn Wagner auch in seinen Kompositionen nicht auf Effektsteigerung bis gelegentlich an die Grenze des Kitschigen verzichtet hatte, so kann dies der ansonsten hohen musikalischen Qualität der Wagner-Opern keinen Abbruch tun.

Das 1872 bis 1876 erbaute Richard-Wagner-Festspielhaus war aber einigermaßen verschont geblieben vom Baukitsch der deutschen "Gründerjahre" nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. In dieser Zeit brach ein "penetrantes und sich bis zum Größenwahn steigerndes Repräsentationsbedürfnis ... aus, quoll über und ergoss sich ins flache Bachbett des Kitsches! Übertreibung, Übersteigerung, Überdrehung ist, wir sehen es immer wieder, eine der stärksten Kitschwurzeln - nicht etwa nur in diesen Gründerjahren, sondern eigentlich immer dann, wenn Machtbewusstsein, Prestigebedürfnis, menschliche Hybris überhaupt sich repräsentieren möchten ..." (S. 39).

Der Opern- und Baukitsch leitet schon vom übertrieben Süßen zum übertrieben Pathetischen über, wie es in der "Geschichtsverkitschung" im Vordergrund steht. Hierbei geht es um "idealistisch-propagandistische Verklärung" (S. 103) vor allem der Geschichte des eigenen Volkes, der eigenen Nation: "Geschichtsverkitschung beruht auf einseitig idealisierender Weltbetrachtung, auf ... Persönlichkeitskult ... - sie macht aus der (realen) Geschichte (eine) wie sie sein sollte ... die Helden sind allzu heldisch, die Taten allzu heroisch, die Gesinnung ist allzu idealistisch" (S. 104). Im "Patriotischen Kitsch" (S. 185) artet redlicher Patriotismus leicht in nationale Selbstgefälligkeit aus: "... in die hemmungslose Propagierung der eigenen Art und Rasse, und dies geht unvermeidlich Hand in Hand mit der Schmähung der "Volksfeinde", der "Nestbeschmutzer", derer, die anders sind!" Solche Verkitschung ist nicht auf Nationales begrenzt, sondern zeigt auch im "Ideologischen Kitsch" (S. 127 f.) "die Neigung zum überstiegenen Heroismus, zum Pathos, zur verlogenen ... Pose. Diktatoren schaffen, wenn sie die Macht übernehmen, ... ihren eigenen Baustil, der ihren Glanz und ihre Glorie für alle Ewigkeiten ausdrücken und erhalten soll, und meistens ist es ein geschmackloser, nur auf Pomp und Repräsentation abgestellter und mit der jeweiligen Mystifikation der Ideologie garnierter Bauschund" (S. 41/42). Und an späterer Stelle (S. 127) stellt Richter fest: "Fast allen diesen Manifestationen der Macht, diesen Monumenten der Ideologien, ist der Hang ... zum Überdimensionalen, Gigantischen, Heroischen zu eigen, sie sollen ... "Ewigkeitswert" haben".

Da liegt es nahe, diese Übersicht aus dem "Kitsch-Lexicon" fortzusetzen mit einem Beispiel für "Devoten Kitsch" (S. 59). Es ist ein vom "Berliner Lokal-Anzeiger" angebotenes Muster für Eingaben an seine Majestät den Kaiser, Adresse: Hier (resp. Berlin). Es ist undatiert, aber sicher irgendwann vor 1918 verfasst:

"Anrede: Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster, Allergnädigster Kaiser, König und Herr!"

Im Text abwechselnd (attributiv): " ... allerhöchst ... allergnädigst ... huldvollst ... "

Schluss: "In unwandelbarer Treue und tiefster Ehrfurcht verharre ich, Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät allerunterthänigster Diener ..."

Gerd Richter kommentiert: " ... das Kitschig-Komische liegt in der übertriebenen Demut, der geheuchelten Bescheidenheit, der konstruierten Diskrepanz zwischen Untertanen und "Herr".." (S. 59). Ich möchte hinzufügen, dass die kriecherische Beweihräucherung einer "Allerdurchlauchtigsten und Huldstvollsten Majestät" kein Spezifikum aus der Zeit des letzten Hohenzollern-Kaisers war. Das "allerunterthänigste" Gehabe der Hofkamarilla des Kaisers Wilhelm II. wurde damals von politischen Gegnern und Kritikern mit Recht als "Byzantinismus" bezeichnet. Dieser Begriff meinte die Unterwürfigkeit und Schmeichelei gegenüber Höherstehenden, den Despotismus gegenüber Untergeordneten und das Intrigenspiel gegeneinander, wie sie aus der Zeit der oströmischen Herrschaft in Byzanz (→ Konstantinopel → Istanbul) in den "goldenen" Jahrhunderten zwischen 863 und 1045 n. Chr. überliefert wurden. In dieser Zeit kam es zu einer Stärkung des Absolutismus in Staat und Kirche und zugleich zur Ausbildung eines besonderen Hofzeremoniells, das bis in kleinste Einzelheiten geregelt war und die Proskynese, das sich Niederwerfen vor dem Kaiser zur Pflicht machte. Das gleichermaßen theatralisch gestaltete Auftreten des Kaisers hob ihn in mystische Sphären: es galt als Ausdruck des kaiserlichen Sendungsbewusstseins und insbesondere seiner Nachahmung Gottes ("mimesis theou"). In einer Durchdringung orientalischer Traditionen mit römisch-christlichen war es zu einem Ineinandergreifen von höfischem Zeremoniell und kirchlicher Liturgie gekommen. Der Kaiser als Stellvertreter Christi galt praktisch nicht nur als "gottgewollter Basileus", sondern als Gottkaiser selbst, und sein autokratischer Wille war politisch maßgebend. Die Eingliederung der Priesterschaft in den Staat schloss eine Gewaltenteilung aus. In hierarchischer Abstufung, die der Kaiser nach eigenem Ermessen änderte, waren Beamte, Militärführer und Hofschranzen an die Person des Kaisers gebunden. Jeder Amtsträger wirkte in einem dem Amt zugehörigen Gewand bei der Palastliturgie mit. Kommt uns das Geschilderte nicht irgendwie bekannt vor? Nicht aus dem damaligen Byzanz, sondern aus dem heutigen Vatikan? Wenn gegen diese Darstellung apologetisch eingewandt werden sollte, dem Byzantinismus wohne kein moralischer, sondern bloß harmlos-zeremonieller Sinn inne, dann ist dies wenig überzeugend, denn auch Zeremonien können schon in ihrer Form, nämlich bei grober Übertreibung der Herrscherwillkür und kriecherischer Selbstdemütigung der Untergebenen, schließlich unmoralisch sein.

Wenden wir uns nun der Frage zu: Warum übertreibt der Kitsch so sehr, bis zum Kitsch im Freistil: "Kitsch as Kitsch can!"? Eine ganz einfache Antwort liegt nahe: weil er beeindrucken möchte, beachtet und konsumiert werden möchte, im heutigen Regelfalle also: weil er gekauft werden soll. Kitsch-Literatur erreicht hohe Auflagen, kann mit einer treuen Leserschaft rechnen. Ihre Texte selber sind schon ein Mittel der Eigenwerbung, preisen sich mit ihren Übertreibungen selber an. Das macht die Nähe zwischen Kitsch und Werbung aus: auch die Werbung hat es mit den Übertreibungen. Sie ist kitschig schon im Präsentieren "süßer" Kinder, mit strahlenden Augen und weißgeputzten Zähnchen. Es dürfen aber auch spärlich bekleidete oder nackte Frauen sein, junge natürlich, mit allen Vorzügen ihres Geschlechts, manchmal auch maßlos übertriebenen. Nicht zu vergessen: Tierbabys dienen als Blickfang, mit großen Kulleraugen (siehe das Kindchen-Schema nach Konrad Lorenz). Von solchen Blickfängern (ggf. "überoptimalen Attrappen") abgesehen versucht die Werbung, die Vorzüge des Produkts ihres Auftraggebers bis ins Unglaubhafte herauszustreichen ("weißer gehts nicht") und benennt die Produkte mit Markennamen, die selber schon Übertreibungen sind: Ultra, Prima, Optima, Maxi-, Super, etc. Über Mängel, Nebenwirkungen und überhöhte Preise schweigt sie sich aus, Negatives seht sie nur bei der Konkurrenz, die sie aber nicht direkt schmähen darf, sondern nur noch vage verallgemeinernd: sie spricht dann von "herkömmlichen" Waren, die natürlich in jeder Hinsicht veraltet sind, am besten gleich weggeworfen werden sollten. Dabei sind die Konkurrenzprodukte nicht "herkömmlicher" als die von der Werbung gepriesene Ware selbst.

Ich will bei alledem einräumen, dass es manchmal einer übertreibenden Redeweise bedarf, um Menschen aufzurütteln, zum solidarischen Handeln zu bewegen, auch mal mit provozierenden Äußerungen. Jesus von Nazareth war in dieser Weise recht demagogisch, bei ihm ging es oft um die Extremalisierung von moralischen Forderungen, so etwa in der Bergpredigt. Aber übertriebene Drohungen und vor allem Verheißungen (Versprechungen), deren Erfüllung sich von Mal zu Mal auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt, erscheinen schließlich doch nur als verlogen. Die Übertreibungen in Richtung auf "All-" und "Höchst-"Vorzüge der Herren und auf die totale Nichtigkeit ihrer Untergebenen (Besiegten, Versklavten, Leibeigenen, Unterdrückten, Gläubigen usw.) sind schon nicht mehr belustigend oder auch nur harmlos. Mit dem selbstverherrlichenden Hochmut eines Mächtigen und seiner Vergötterung durch seine Anhänger ist nicht nur die (Selbst-)Demütigung ("Demut") der von ihm Abhängigen verbunden, sondern oft, fast automatisch, das Schlechtmachen seiner Gegner und Feinde. Sie erscheinen dann nicht mehr als einfach anders, sondern werden mit allen Mitteln religiös-politischer Hetze zu Unwesen, Brunnenvergiftern, Kindermördern, ja zu Teufeln gemacht. Ich kann mich noch an Bilder des in Schaukästen ausgehängten Nazi-Hetzblattes "Der Stürmer" erinnern: da versah man den "ewigen Juden" mit einer widerlichen Fratze, in der alle Negativ-Merkmale, die man seit alters her als "typisch jüdisch" vermeinte, in ein Bild verdichtet wurden, in einer Massierung, die in keiner Wirklichkeit vorzufinden war, die vielmehr ganz weitgehend dem "Teufel" des Christentums entsprach. Dasselbe kann man auch mit dem "typischen" US-Amerikaner praktizieren: im Unterschied zum kurzbeinig-plattfüßigen "ewigen Juden" ist der "Ami" eher langbeinig-schlaksig, sein Gesicht eher hager, mit dem Ausdruck von unüberbietbarer Arroganz und kalter Aggressivität, und natürlich den Revolver im Halfter schussbereit. Lucky Luke ist ein Waisenkind dagegen! So etwas kann sich schlichteren Gemütern tief einprägen. Ich beobachtete mal, wie jemand im Verlauf der Fernseh-Nachrichten auf den gerade aufgetretenen Ronald Reagan mit einem krass abfälligen "Iiiih!" reagierte, mit einem Ausdruck des Ekels, als hätte Reagan grüngelben Eiterschleim im Gesicht. Ich selber sah stattdessen einen mir schon bekannten ehemals mittelmäßigen Western-Darsteller im fortgeschrittenen Alter, sogar eher sympathisch in seiner freundlichen Art eines ganz netten, aber schon etwas tattrigen alterssteifen Opas. Das voller Ekel ausgerufene "Iiiih!" hatte für mich etwas vom "Sichbekreuzigen" des bigotten Katholiken vor einem, den er für den Antichrist hält (oder halten soll!), selbst wenn es in Wirklichkeit nur ein protestantischer Pfarrer im Endgehalt oder ein altmarxistischer Berufsrevolutionär war. Heutzutage werden, vor allem in Massenkundgebungen in der islamischen Welt, Abbildungen des Amerikaners oder des Juden, z.B. in der Gestalt von vogelscheuchenartigen Strohpuppen, in aller Öffentlichkeit vor dem Auge der Fernsehkamera verbrannt und ihre Asche triumphierend niedergetrampelt. Tempora non mutantur!

Das Abgrundtief-Schlechtmachen richtet sich aber nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch gegen Angehörige des eigenen Volkes, sogar des eigenen Glaubens, nämlich wenn sie sich in mindestens einer Hinsicht von der Mehrheit unterscheiden und selber auf diesem Unterschied bestehen bleiben. Dann kann sich solche Hetze nicht nur als für die Minderheit unterdrückend, sondern als für sie schließlich lebensgefährlich und menschenmörderisch erweisen. Der Personenkult gegenüber Stalin und Hitler, die beide für Lobhudeleien empfänglich waren, diente in seinen maßlosen Übertreibungen nicht nur dem Machterhalt und der Machtvergrößerung dieser Alleinherrscher. Er hatte eine noch dunklere Seite in der Generalerlaubnis, die er diesen Machthabern verschaffte, die dann ihren Eigenwillen in größter Willkür und Rücksichtslosigkeit gegenüber "Untermenschen" jenseits und diesseits der Grenzen des eigenen Machtbereichs durchzusetzen versuchten. Zwar konnte man sich über den Gröfaz (den "größten Feldherrn aller Zeiten") insgeheim noch lustig machen. Aber tatsächlich brachten seine Feldzüge namenloses Elend über fast ganz Europa, und im Endeffekt auch über das eigene Volk.

Die verschiedenen Aspekte des Kitschs zusammenfassend frage ich nun: Was macht im Unterschied zum individuellen bzw. kollektiven Gefühlsüberschwang und zur Verdeutlichung des Gemeinten die im Kitsch so erfolgreich praktizierte eigentliche Übertreibung aus? Es ist wohl vor allem die Intention einer Person oder Gruppe von Personen, mit Extremalisierungen in einem Publikum oder Kollektiv Gefühlsbewegungen zu bewirken, „Gefühle zu machen“: Menschen zu verblüffen, zu begeistern, zu berauschen, zu verführen (zum Sexualverkehr oder auch nur zum Kauf von etwas, was eigentlich keinen Wert hat), einzuschüchtern, hilflos zu machen, oder aufzuhetzen und zu fanatisieren, in jedem Falle also zu manipulieren. Die in solcher Weise gezielte Übertreibung nutzt menschliche Schwächen aus, etwa die Beeindruckbarkeit kleiner Kinder, die Begeisterungsfähigkeit der jungen Männer, die Verführbarkeit der Frauen. Es ist daher notwendig, nicht nur den Akteur der Übertreibung, sondern auch sein Publikum und seine möglichen Opfer in den Blick zu bekommen.

Vom Massenpublikum könnte man wie von einer Person sprechen, dass es nämlich etwas geboten bekommen möchte, etwas Besonderes, Aufregendes, Überraschendes, Anrührendes, etwas irgendwie Geiles („geil“ noch im alten sexuellen Sinn des Wortes, aber besonders „geil“ im dem Sinne, wie die heutigen Jugendlichen das Wort verwenden: ganz phantastisch toll !). Die Eingängigkeit und leichte Aufnehmbarkeit des Übertriebenen lässt es als besonders geeignet erscheinen für soziale Bewegungen und auch für Moden und Kaufmotivierung. Allein dass etwas neu und anders ist, kann seine Attraktivität ausmachen, aber es muss auch etwas von Steigerung darin zu erkennen sein. Das hat nicht erst in der heutigen Zeit zu einer gewissen Rekordsucht beigetragen, bis zur begehrten Eintragung ins Guinness-Buch der Rekorde! Das kann auch eine besondere Schwierigkeit oder Lebensgefährlichkeit sein, ein hohes Risiko, vielleicht auch eine besondere Unverfrorenheit und Unverschämtheit. Das fasziniert die Massen: es muss um Leben und Tod gehen, wie schon bei den antiken Gladiatorenspielen, oder – in Abschwächung – bei den Rennen der übermotorisierten Boliden, in denen es doch jedes Mal zu einem Crash und tödlichen Unfall kommen ... ... ... könnte! Runde um Runde, und es ist – gottlob! – immer noch nichts passiert. Aber auch Freeclimbing an senkrechten und überhängenden Wänden, Marathonläufe mit Todesfällen, Boxkämpfe bis zur Bewusstlosigkeit des Gegners nach dem „Knock out“, so etwas ist richtig spannend. Dagegen hat man sich an die Fallschirmsprünge von Jürgen Möllemann fast schon gewöhnt, außer: dass er mal vergessen könnte, den Fallschirm anzuschnallen! (Das habe ich Jahre vor seinem Freitod so hingeschrieben).

In den Extremsportarten steht hinter der Übertreibung schon nicht mehr nur das kühle Kalkül des Selbstverkäufers, sondern manchmal auch schlichte Angeberei. Es gibt Menschen, die auch dann noch mit ihren Rekordversuchen angeben, wenn den Zuschauern ihre Wichtigtuerei schon zuviel wird. Auch Selbstbeweihräucherung kann für Andere unerträglich werden. Cassius Clay alias Muhammed Ali hatte diese Grenze manchmal schon überschritten: „Ich bin der Größte!“ Aber er war tatsächlich über lange Zeit der Beste seiner Gewichtsklasse, er konnte boxen! Man muss es auch dem Möllemann einräumen: er kann tatsachlich Fallschirmspringen, und es gehört schon Mut dazu, sich so vom Flugzeug ins Leere fallen zu lassen. Manche Angeber übernehmen sich aber dabei und versprechen mehr, als sie halten können. Sie provozieren so lange, bis ein Mächtiger ihnen Einhalt gebietet oder einen von ihnen sogar ans Kreuz schlägt! Sie machen sich mit ihrem Agieren zu viele Feinde, ohne noch mit zuverlässigen Freunden rechnen zu können. Und unter den Freunden könnte auch ein Konkurrent oder ein Verräter sein.

Nicht jede Weltanschauung neigt zur Extremalisierung und Übertreibung. Aber mag manche Beweihräucherung eines Landesherren auch harmlos sein, so wird es doch gefährlich, wenn machthungrige „Führer“ größenwahnsinnige Ziele anstreben und rücksichtslos durchsetzen. Wir erinnern uns: Politiker des vergangenen Jahrhunderts versprachen den Sieg (z.B. des Proletariats) oder die nationale (völkische, geistige, religiöse, rassische) Erneuerung, und was hat das an Millionen Toten und Vertriebenen gekostet. Heutzutage versprechen sie, etwas weniger extrem, den wirtschaftlichen Aufschwung, den "blauen Himmel", "blühende Landschaften". Solche "populistischen" Versprechungen rentieren sich selbst dann in Wahlergebnissen, wenn sie anschließend nicht eingehalten werden, und meist auch gar nicht eingelöst werden können.