Bei der Diskussion von Möglichkeiten menschlicher Fehl-Orientierung soll im Folgenden unterschieden werden zwischen der Subjektseite, nämlich ob der sich orientierende Mensch seelisch gesund oder seelisch krank ist (und wie sich das auf seine Selbstorientierung auswirkt) und der Objektseite, also ob die bestimmte Weltanschauung oder der Glaube "gesunde" (engl. "sound") Orientierungen bereitstellt oder eher desorientierend wirkt, bis zu dem Punkt, dass solche Orientierung seelisch Kranke noch kränker werden läßt, oder aber ihnen sogar Gelegenheiten gibt, mit ihrem religiös oder weltanschaulich produktiven Wahn ganze Gemeinschaften oder gar Völker in die Irre zu führen, im Extrem bis in den kollektiven Selbstmord. Die individuelle oder manchmal auch kollektive psychische Störung ist aber keineswegs nur ein krankmachender Effekt „der Zivilisation“ oder gar „des Kapitalismus“, sondern sie kann schon in den einfachsten und frühesten Formen menschlicher Gesellungen vorgefunden oder rekonstruiert werden.
Selbst unter Jägern und Sammlern gab es seit jeher Menschen, die im üblichen Sinn "verrückt" waren: Außenseiter, Sonderlinge, einfach Menschen, die nicht so waren wie die Anderen. Wenn etwa der Angehörige einer Sammler-Jäger-Gruppe die Selbstverständlichkeit, dass man keinen Stammesangehörigen töten darf, übertreibt zum Verbot, man dürfe überhaupt keinen Menschen, also auch keine Feinde (oder gar: keine Tiere!) töten, dann liegt nahe, dass seine Stammesangehörigen ihn als verrückt ansehen: "Weiß er denn nicht, dass wir davon leben, Tiere zu töten (außer unserem Totemtier)? Tiere töten ist doch etwas ganz Anderes als fremde Menschen oder gar - alle guten Geister mögen uns davor bewahren! - Stammesbrüder zu ermorden!". Ähnlich "verrückt" kann man mit den so ubiquitär verbreiteten Sexualtabus umgehen. Natürlich gilt: Du sollst deine Frau nicht unter den Angehörigen deiner Familie oder Sippe aussuchen, sondern beim Nachbarstamm. Aber doch nicht bei den ganz Fremden (die bringen dich um!), oder gar unter den Tieren, das tut doch kein rechter Mann!
Schon seit jeher galten Menschen, die wir heutzutage als schizophren bezeichnen, als von einem Geist oder Gott besessen, als "außer sich". Wenn sie den Gruppenzusammenhalt und die Gruppensicherheit gefährdeten, konnten sie aus der Stammesgemeinschaft ausgeschlossen werden, ggf. rituell als "Sündenbock" vertrieben, verbannt, und das konnte den baldigen seelischen und körperlichen Tod bedeuten. Mehr oder weniger verrückte Menschen konnten aber, trotz oder wegen ihrer Verrücktheit, auch innerhalb ihres Stammes eine Nische finden, sogar bis zur bedeutenden Position als Schamane, als Spezialist für das In-Trance-geraten und Auf-Traumreise-gehen, und damit auch als berufene Deuter von Träumen, Gesichten (Visionen) oder als kompetent für die Deutung und Heilung der Besessenheit anderer Stammesmitglieder. Das macht es möglich, dass sie auch die "normalen" Menschen ihrer sozialen Gemeinschaft quasi mit ihrer Verrücktheit seelisch anstecken konnten, am ehesten dann, wenn sich ihr Wahn an das herrschende Wertsystem bestätigend anschließen konnte oder aber dieses in einer schlichten Umkehrung dennoch voraussetzte. So konnten schon die seltsamsten Exzentriker heilig gesprochen werden, wenn sie sich ansonsten zum allgemein verbreiteten Kirchenglauben bekannten, während seelisch völlig gesunde Menschen auf dem Scheiterhaufen landen konnten, wenn sie eben diesen Glauben leugneten.
Das Fatale ist, dass insbesondere unter Sektengründern und Revolutionären auch Menschen vorzufinden sind, die zu einer "verrückten" Glaubensauffassung neigen, ob sie nun im engeren Sinne schizophren sind (Stimmen hören, Wahnideen entwickeln) oder nur "ein bisserl spinnert" sind. Gerade diejenigen, die in ihren eigenen Orientierungsversuchen zu extremen Lösungen neigen, finden sich besonders häufig in Glaubensgemeinschaften oder Sekten, in denen schon extreme Glaubensinhalte gelehrt oder gelebt werden, und die dadurch für desorientierte und orientierungsbedürftige Menschen besonders attraktiv werden können. Diese haben oft so etwas wie ein Gespür für "verrückten" Glauben, den sie entweder unverändert übernehmen oder durch weitere Übertreibung fast ad absurdum führen können. Aus diesem Kreis kommen aber auch Leute, die ihren Glauben "reformieren", von Verfälschungen "reinigen", auf die "eigentlichen" Grundlagen zurückführen wollen. Sie können es schaffen, einige Gläubige ihrer Herkunftsreligion von der neuen, anderen, "eigentlich" richtigen Sicht zu überzeugen und sich mit ihnen vom "verdorbenen", "entarteten", "fehlgeleiteten" Mutterglauben abzuspalten und damit eine neue Sekte (d.h. eine "abgesonderte" Glaubensgemeinschaft) zu begründen.
Wir sehen: so wie dem Individuum seine Orientierung gelingen oder auch misslingen kann, so kann auch ein Glaube (oder eine Weltanschauung) eher orientierend oder eher desorientierend sein für den Gesunden, und erst recht für den Kranken mehr oder weniger hilfreich, bis zur krassen Fehlorientierung nicht nur von Individuen, sondern auch von Gruppen oder sogar ganzen Völkern. Augenscheinlich gibt es verquere weltanschauliche Orientierungen, die irrationale Ansprüche oder Ängste fördern, und damit die Lebensfreude und -tüchtigkeit in einer menschlichen Gemeinschaft mindern können und im Einzelnen sogar einen konstitutionell stabilen und zur Herzlichkeit fähigen Menschen zum schlimmen Fanatiker indoktrinieren können. Ganze Völker haben sich schon von Glaubensgründern verrückt machen lassen. Die etwas nüchterneren und verträglicheren Nachbarn wundern sich dann: Was ist nur mit denen los? Sind die allesamt verrückt geworden? Die spinnen, die Römer! Im Ernst: ganze Völker können von "verrückten" Ideologien fehlgeleitet sein und wie das Deutsche Volk unter Hitler alles Mögliche tun, was zu Millionen Opfern unter ihren "Feinden" führt, oder was dann doch ihren eigenen Untergang befördert oder herbeiführt. Menschliche Gesellschaften können mit einer militaristischen Ideologie kriegerisch erfolgreich sein bis zu dem Punkt, an dem sie sich tot gesiegt oder wenigstens die ganze Welt gegen sich aufgebracht haben. Nach der Niederlage des Systems und dem Zusammenbruch der eine Zeit lang herrschenden völkischen Wahnidee ist es dann wie ein Aufwachen aus einem Albtraum, wie ein Zusichkommen nach einem Dämmerzustand, wenn der kollektive Wahn nun ersichtlich von keinem mehr ernst genommen wird und dann auch sehr schnell seine Macht verliert.