2.4.8.1.4. Die ideale Welt

In einer sicher notwendigen Korrektur Freudscher Vorannahmen betonen die Kreitlers, es gelte auch für die Psychopathologie, dass "jenen Faktoren und Prozessen, welche die Orientierung bestimmen, diagnostisch und therapeutisch ebensoviel Bedeutung zukommt wie den Triebfaktoren" (S. 132). Das Verhalten eines Individuums kann von der Verhaltensnorm seiner Gruppe im Sinne einer wohlüberlegten Eigenorientierung abweichen. Eine solche Abweichung kann in einzelnen Fällen auch ein Symptom einer Verhaltensstörung sein, die dem so Gestörten selber zum Schaden gereicht und ihn in Konflikte mit seiner Umwelt bringen kann. Dann kommt die Frage nach den Ursachen solcher psychischen Störung auf. Dabei muss bedacht werden, dass bestimmte Eigenheiten der Weltanschauung selber, jedenfalls für dafür anfällige Personen, sich als Fehlorientierung störend und krankmachend ("pathogen") auswirken können.

Zur Klärung dieser Fragen führen die Autoren zunächst einige Experimente aus der Fachliteratur an, die deutlich demonstrieren, "wie wichtig die Orientierung als Faktor im psychopathologischen Geschehen ist" (S. 139). Darüber hinaus haben sie selber eine empirische Untersuchung an schizophrenen Patienten und mit gleicher Methodik an einer seelisch gesunden Kontrollgruppe durchgeführt, die zur weiteren Klärung der Zusammenhänge zwischen einerseits bestimmten Orientierungsangeboten (bzw. Versuchen der Selbstorientierung) und andererseits seelischen Störungen in der Art einer Schizophrenie beitragen können. Ein erstes Ergebnis war, dass "Schizophrene ... dort, wo klare und eindeutige (Verhaltens-)Regeln bestehen, durchaus imstande (sind), diesen Regeln gemäß zu urteilen. Auf dem Gebiet der weltanschaulichen Orientierung hingegen (bestehen) sehr hohe ... Korrelationen (= statistisch gesicherte Zusammenhänge) zwischen Krankheit (Schizophrenie) einerseits und von der gesunden Norm abweichender Orientierung ..."(S. 142). Das zeigte sich besonders in den Antworten auf die Frage 40 des Fragebogens, mit der die Schizophrenen und die psychisch gesunden Personen der Kontrollgruppe aufgefordert wurden, von ihren Vorstellungen einer idealen Welt zu berichten (S. 95). Auffällig war schon die Art, wie die Schizophrenen diese Frage aufnahmen, übrigens ähnlich auch bei anderen Fragen, die gleichermaßen auf die "letzten Dinge" hinzielten. Die ansonsten für viele Schizophrene kennzeichnenden Eigentümlichkeiten der Ausdrucksweise wie Wortsalat, Gedankenflucht, Kontaminationen (neue sprachliche Mischformen) etc. - sie waren auch bei den von den Kreitlers untersuchten Patienten in anderen Situationen reichlich vorhanden - traten in den Antworten der Patienten auf Weltanschauungsfragen überraschenderweise ganz zurück (S. 126). Vielmehr antworteten die Patienten schnell und leicht, "so als sprächen sie über etwas Selbstverständliches, über etwas, das dauernd in ihren Gedanken ist und das zu formulieren keine Schwierigkeit bereitet ... Ton und Formulierung der Patienten zeigten eindeutig Pathos und Begeisterung für das Thema. Was sie sagten, klang manchmal so, als würden sie aus einem Buch vorlesen ... Alle Patienten (glaubten) an die Möglichkeit einer idealen Welt und (hatten) sich mit ihr persönlich und in deutlichen Phantasiebildern auseinandergesetzt ... Die Antworten fast aller Schizophrenen (zeigten) eine Vergeistigung, die in keinem Verhältnis zu ihrer Bildung (in schulischer Hinsicht eher unterdurchschnittlich) und ihrem Alltagsverhalten steht" (S. 96). Schon dieser Befund bestätigt die psychiatrische und klinisch-psychologische Erfahrung, dass viele Schizophrene so etwas wie Laienphilosophen sind und sich gern und intensiv mit den "letzten Dingen" und den Grundfragen des Menschseins befassen.

Um die von den Kreitlers protokollierten Antworten der 18 Schizophrenen insgesamt inhaltlich einschätzen zu können, habe ich aus ihnen die Wörter ausgezählt, die besonders häufig vorkamen. Gestützt auf die Ergebnisse dieser Auszählung habe ich dann versucht, die häufigsten Wörter zu einer Gesamtaussage zu verbinden. Diese Aussage ist zentral von einer Negation bestimmt (56x): In einer idealen Welt gibt es kein(e/n) ...bzw. gibt es nicht (gar nicht, nicht mehr etc.) ...oder gibt es alles Mögliche, aber ohne ... : Hass, Zorn, Streit, Zank, Krieg; Mord, (er)morden, Verbrechen; Unterdrückung, Herrschaft, Gesetze, Polizei, Gesetzeshüter; (Todes)Angst, Furcht; Eifersucht, Neid. Auch noch einiges anderes Böses oder Schlimmes gibt es in der idealen Welt nicht ... , sondern (8x) ... aber (5x)..., also stattdessen gibt es für alle (32x) und für jeden (25x), und zwar gibt es ganz (6x), völlig (6x) und einfach (4x): das Gute etc. (7x), die Stille etc. (7x), die Liebe (6x), das Schöne (5x). das Glück (5x), das Verständnis oder Verstehen etc. (4x) und noch anderes Positives. Was die von den Kreitlers untersuchten Schizophrenen sich aber ganz anschaulich vorstellen und am meisten ersehnen, ist etwas irgendwie Paradiesisches (36x): darunter Tiere, etwa singende Vögel; Blumen, Bäume, Gärten, Wiesen, Grün; darin spazieren gehen, wandern, auch in der Luft schweben (2x!); Sonne, Licht, blauer Himmel, Berge, Meer; Nacktheit (4x!), wie kleine Kinder. Neben diesen Paradiesesphantasien sind wegen ihrer auffallenden Häufigkeit hervorzuheben und einander gegenüberzustellen die totalen Negationen und die positiven Extreme. Die Schizophrenen reagieren auf die Frage nach der idealen Welt also mit einem Alles-oder-Nichts-Denken, mit naiver Schwarz-Weiß-Malerei und mit dem krass übertriebenen Gegensatz zwischen total gut und total böse.

Besonders ausgeprägt ist diese Denk- und Sprechweise in den Protokollen Nr. 75 und 89, die ich deshalb im einzelnen und vollständig wiedergeben möchte. Protokoll 75: " Das ist eine Welt voll Grün, voll Bäumen und Wiesen, alles ist grün. Blumen. Ein schöner Platz. Und alle Menschen sind durch und durch gut. Es gibt keinen, keinen, keinen, keinen, der nur etwas Böses tun will. Das Gute strahlt von jedem aus und alle leben für die Liebe und durch die Liebe. Kein Mord, kein Diebstahl, kein Streit, keine Eifersucht, kein Hass. Alles ist still und die Leute gehen spazieren. Sie pflücken Blumen und steigen durch das Grün hinunter zum Meer. Wandern in den Bergen. Alle sind glücklich. Die Menschen sind wie Blumen". --- Protokoll 89: "In der idealen Welt kann jeder alle seine Wünsche erfüllen und alle Wünsche werden gut sein, vollkommen gut. Jeder Mensch kann mit jedem Tier sprechen und alle leben zusammen. Kein Verbrechen und keine Eifersucht. Jeder Mensch kann die vollkommenen Dinge sehen, so dass jedes Ding die Form des Zaubers bekommt. Es gibt keinen Zwiespalt zwischen den Welten im Innern des Menschen, zwischen den Welten der verschiedenen Menschen, zwischen der Welt des einzelnen und aller. Kein Abgrund... Jeder weiß, dass er in seiner Welt lebt, ganz in der seinen, aber diese Welt ist dennoch die Welt aller." - Es waren wohl solche Formulierungen, von denen sich die Kreitlers zu ihrem Kommentar hinreißen ließen: "Kaum eine Antwort, die nicht eine Weisheit enthielt, die manchem Dichter Ehre machen konnte" (S. 96).

Die seelisch gesunden Personen der Kontrollgruppe hingegen gingen mit der Frage nach der idealen Welt in der großen Mehrzahl ihrer Antworten ganz anders um. Aus ihren Protokollen habe ich nach verschiedenen Kriterien die folgenden Formulierungen zusammengestellt. Manche Personen der Kontrollgruppe empfanden offenbar schon die Frage nach der idealen Welt als eine Zumutung: "Also, was wollen Sie eigentlich von mir?" --- "Darauf kann ich nicht antworten" --- "Ich habe mir nie darüber den Kopf zerbrochen, niemals" --- "Es gibt genug Schwierigkeiten auch ohne solche Fragen" --- . Die Gesunden betonten, dass sie sich so etwas nicht vorstellen könnten und nichts darüber wüssten: "Also wirklich, das weiß ich nicht" --- "Ach, ich weiß nicht" --- "Ich kann mir derlei nicht vorstellen" --- "Für derlei bin ich nicht" --- "besonders schwierig vorzustellen" --- "Ich kann mir kein Phantasieleben vorstellen" --- "sehr, sehr kompliziert" --- "Ich habe niemals über das Paradies und die ideale Welt nachgedacht". Einige Personen der Kontrollgruppe distanzierten sich recht abfällig von solchen Vorstellungen: "Das ist natürlich ein Blödsinn, ein Kindermärchen" --- "Ich rede ja jetzt wie ein Kind, wie eine Fünfjährige" --- "denn es ist eine Frage für einen billigen Roman" --- "(das) verführt zu Illusionen" --- "Leere Phrasen!"

Sie könnten auch praktisch nichts damit anfangen: "Aber so kann man nicht leben" --- "Es gibt kein ideales Leben" --- "Das ist ganz überflüssig" --- "Das wäre schrecklich langweilig" --- "Der Mensch sollte sich so etwas nicht vorstellen, denn es schwächt ihn" --- "und kein Mensch sollte an derlei denken" --- "Aber wenn andere sich darüber den Kopf zerbrechen wollen, dann mögen sie sich eben den Kopf zerbrechen". Aber dann gingen einzelne doch noch der Frage nach: "Dabei ist nicht alles nach meinem Geschmack" --- "Vielleicht so: ..." --- "Warten Sie noch, ich weiß schon ...". Aber ihre Antworten waren weniger extremalisierend als vielmehr komparativ; sie zielten Verbesserungen an, und ihre Wünsche begrenzten sich auf ein näheres Umfeld, auf Einiges und Vieles, sie betrafen nicht Alles und Jeden, sondern Einzelne: "dass jeder Mensch weiß, welches Glück er sich wünscht. Dann wäre es etwas leichter" --- "wie ich lebe, mit einigen guten Freunden, ohne materielle Sorgen, bei gutem Wetter ... Das ist es. Schön, nicht wahr?" --- "und dass es eben in Ordnung ist" --- "eine große Farm mit vielen Pferden und Kindern" --- "viele schöne Dinge sehen und viele interessante Menschen treffen" --- "Mein Paradies ist jedenfalls so, wie ich jetzt lebe, mit einigen Verbesserungen" --- "Es müsste mehr Kontakt zwischen Volk und Regierung (sein)" --- "Der Rest - lasst die Leute leben!".

Bei der Beantwortung der Frage nach der "idealen Welt" kommt es somit im Vergleich zwischen Schizophrenen und seelisch Gesunden zu erheblichen Unterschieden, die eine sinnvolle Interpretation zulassen: der Schizophrene nimmt das in der Frage liegende Angebot überaus ernst, versteigt sich in idealisierenden Phantasien und verfällt in krass übertreibende Schwarz-Weiß-Malerei; der seelisch Gesunde dagegen sieht sich bei allem Wünschen doch weiterhin in seiner realen Welt, nur dass er sie sich als etwas besser vorstellen kann. Das lässt mich an die "Politik der kleinen Schritte" denken, wie sie der deutsche Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt propagiert hatte. Die Hoffnung auf eine ideale Welt ist bei den Schizophrenen offenbar viel häufiger vorzufinden und der Glaube, dass sie möglich sei, ist viel stärker ausgeprägt als bei den seelisch Gesunden.