2.4.8.1.5. Der beste Mensch? Wie soll er leben?

Ähnliches zeigte sich auch in den Antworten der Schizophrenen auf die Frage 39 (... der beste Mensch auf der Welt ...). Denn nachdem den Autoren in Gesprächen mit ihren Patienten aufgefallen war, dass in deren spontanen Äußerungen öfter vom besten Menschen der Welt oder vom schlechtesten Menschen die Rede war, sprachen sie diese Thematik in der Frage 39 direkt an. Daraufhin äußerten alle Schizophrenen in der einen oder anderen Weise den Wunsch, der beste Mensch der Welt sein zu wollen, z.B."...Wenn ich fern bin von den Menschen, bin ich immer der beste Mensch der Welt und das will ich auch. Aber wenn ich mit den Menschen bin, bin ich der Allerschlechteste". Unter den Antworten der Gesunden fand sich dagegen keine einzige, die in dieser Art interpretiert werden konnte (S. 59). Die Autoren halten als Gesamtergebnis fest: " ... zusammengefasst und als Ganzes überblickt, zeigt unser Material eine so einheitliche Struktur, dass man es als Gestalt bezeichnen darf". Kennzeichnend ist " ... vor allem der ... deutliche Hang der Schizophrenen zu naivem, dabei starr extremem Idealismus; naiv wegen des Glaubens an das Vollkommene und seine Realisierbarkeit, starr durch die unbedingte Beibehaltung der Gegensätze, und extrem durch die Verabsolutierung des Ideals" (S. 143). Dies läßt es als berechtigt erscheinen, von einer weltanschaulichen Fehlorientierung der Schizophrenen zu sprechen.

Das zeigte sich auch in den Antworten der Schizophrenen zu anderen Fragen, und zwar weil die Patienten darin übereinstimmten, dass sie jeweils sehr gegensätzliche Positionen gleichermaßen überzeugt vertraten, ohne selber deren Widersprüchlichkeit zu bemerken und anzusprechen. So verkündeten die Kranken einerseits, dass im Prinzip alles erlaubt sei und Triebe frei befriedigt werden dürfen und dass das so sein solle (S. 69), während sie andererseits, in anderem Kontext, ebenso entschieden betonten, dass strenge Moralgebote unbedingt zu befolgen seien. Zunächst zum Ideal der absoluten Freiheit: Eine von daher begründete Ablehnung von Geboten und Verboten (S. 76), die Forderung nach Abschaffung aller Verbote und das Postulieren eines Anspruchs auf absolute Freiheit zeigt sich ganz direkt in den Antworten der Schizophrenen auf die Frage 20, nämlich ob der Mensch frei sei und was sie darunter verstünden. Bei ausnahmslos allen Patienten wurde die Forderung nach absoluter Freiheit, und dies expressis verbis, geäußert S. 80): "...(wir haben) keinen Schizophrenen gesehen, der nicht den Anspruch auf absolute Freiheit geltend gemacht und an seine Verwirklichung geglaubt hätte" (S. 86). Mit dem Wort "absolut" können Schizophrene offenbar alles ursprünglich Gute auch bei noch so einseitiger Extremalisierung weiterhin als positiv auffassen. Die Schizophrenen glauben fest an das Ideal der Freiheit und fordern ihre absolute Verwirklichung selbst dann, wenn sie meinen, hierfür mit Hospitalisierung in einer psychiatrischen Klinik bezahlen zu müssen (S. 83). Mit einer solchen Verabsolutierung des Ideals der Freiheit kann allerdings fast jedes Verhalten motiviert und gerechtfertigt werden (S. 84). Denn dieses Freiheitsideal, nicht klar unterschieden von der Annahme der Willensfreiheit, ist in seiner nebulösen Breite vielfach ausnutzbar (S. 85/86). Es dient zur "moralischen Rechtfertigung des Unmoralischen", es ist "die Zauberformel, die aus Triebzwang Willensfreiheit macht", und ich (H. Sch.) ergänze: es kann nicht nur jede Selbstherrlichkeit und Willkür von "frei" wollenden Herrschern rechtfertigen, sondern auch die ihres Ebenbildes, des allmächtigen Gottes!

In krasser Unvereinbarkeit mit diesen Freiheitsansprüchen stehen die von denselben Patienten in gleicher Entschiedenheit vertretenen strengen Moralgebote: die Schizophrenen lehnten entweder im allgemeinen oder jedenfalls für sich selbst jede Eifersucht, Aggressivität und Sexualität unbedingt ab, negierten also "gerade jene Emotionen, die untrennbar mit zwischenmenschlichen Beziehungen verbunden sind" (S. 69) und die vom ansonsten vertretenen Freiheitsanspruch her eigentlich erlaubt wären. Aber während der Freiheitsanspruch im Abendland (Israel gehört dazu!) erst seit der Aufklärung eine weitgehende Akzeptanz fand, kann sich das Verbot von Aggressivität und Sexualität auf weit ältere religiös tradierte Wertorientierungen berufen. Ihre Wurzeln reichen bis in das vorchristliche Judentum zurück, und spätestens seit Paulus werden aggressive und sexuelle Antriebe im Christentum als sehr negativ gesehen. Viele Schizophrene, auch jüdischen Glaubens, haben diese Wertorientierung aus dem übernommen, was ihnen in Laufe ihrer Entwicklung erzieherisch vermittelt wurde (S. 78). Weil die Schizophrenen danach streben, Vollendung zu erreichen und der beste und reinste Mensch zu sein, befolgen sie die triebfeindlichen Verbote schon mit einem vorauseilenden Gehorsam, indem sie sich erst gar nicht auf sündenträchtige Kontakte mit anderen Menschen einlassen. Das Freiheitsideal kommt ihnen in diesem Kontext offenbar nicht in den Sinn. Hans und Shulamith Kreitler heben deutlich hervor: " ... (es) besteht eine direkte Proportion zwischen der weltanschaulichen Strenge, mit der Aggressions- und Sexualitätsverbote anerkannt werden, und der Unbedingtheit, mit der Freiheit gefordert wird. Absolute Güte und absolute Freiheit gehören unbedingt zueinander" (S. 84); dass sie inhaltlich im Gegensatz zueinander stehen, tritt für den Schizophrenen völlig zurück gegenüber der Gemeinsamkeit, dass sie formal beide absolut sind und dass sie von ihnen "ohne Rücksicht auf Verluste" entschieden gefordert und agiert werden.

In abgeschwächter Form finden wir die gleichzeitige Behauptung von miteinander unvereinbaren Idealen in den Antworten der Schizophrenen zu der Frage 35 ("Wie soll der Mensch leben?"), ähnlich auch zu Frage 32 und Frage 19. Die Patienten antworteten einerseits mit der "Behauptung, man müsse möglichst bescheiden und unauffällig leben", andererseits mit dem "Wunsch, eine große und eindrucksvolle Karriere zu machen" (S. 86). Die Vorstellungen von großer Karriere und bescheidener Lebensführung schließen sich allerdings fast ebenso aus wie das Ideal von absoluter Freiheit und die strengen Moralgebote (S. 94). Wenn dann noch das Ideal der Vollkommenheit vertreten wird, und dies alles trotz der unvereinbaren Widersprüche vom Patienten als Orientierung akzeptiert wird, dann geschieht dies offenbar aus dem einfachen Grunde, weil diese einander ausschließenden Forderungen je für sich in der Gesellschaft als Ideale gelten. Und anscheinend können all diese Ideale schon als Ideale nur vollkommen ideal sein, zumindest in der Sicht der Schizophrenen! Es fällt diesen offenbar schwer, auch nur auf eines der Ideale zu verzichten oder es zu relativieren, denn sie neigen dazu, grundsätzlich alles als Ideal Behauptete zu glauben und alles Geforderte zumindest tun zu wollen, auch wenn sie es gar nicht können. So hängen sie gleichzeitig an zwei oder auch an mehreren miteinander unvereinbaren Idealen, einfach weil diese als höchste Werte hingestellt worden sind.