2.4.8.1.6. Ernstnehmen irrealer Extremalisierungen

In ihrer Realitätsferne versäumen die Patienten, erstens auf der Ebene einer - Kommunikation ermöglichenden - Sprachlogik irgendwelche Widersprüche zu erkennen und kritisch anzugehen, und zweitens etwas sprachlich Behauptetes an der Realität zu messen und ggf. in Frage zu stellen. Diese beiden Punkte sollen im Folgenden näher erläutert werden. Erstens: Schizophrene nehmen extremalisierte Behauptungen ernst. So ist "der Begriff gut‹ für (sie) wesentlich mehr als eine sprachliche Floskel. Sie nehmen ihn als absolut gültig und realisierbar, (nehmen ihn) auch als persönliche Verpflichtung ernst" (S. 64). Sie denken vielleicht: "gut‹ zu sein muss doch etwas Gutes sein, und sehr (immer, absolut, extrem) gut zu sein ist noch besser, ist das Allerbeste!" Sie verhalten sich wie brave Schüler und nehmen die an sie herangetragenen Konzepte wörtlich (S. 145), oder wie gehorsame Diener, denen schlimmste Konsequenzen drohen, wenn sie nicht genau das aufnehmen ("glauben") und tun, was ihnen aufgetragen wurde. Dem ganz entsprechend nehmen Schizophrene auch den Begriff des "Bösen" ernst und machen das, was für den seelisch Gesunden eine nicht sehr verbindliche Forderung ist, die man auch umgehen kann ("een Ooge riskier ick!"), zum unbedingt gültigen Verbot: dann ist Sexualität und Aggressivität im Kern und immer und für Alle etwas Böses. Nicht nur hohe Ideale, sondern auch schlichte Kultur-Klischees werden von den Patienten ernster genommen, als sie es verdienen (S. 94). Das reicht bis in das Ernstnehmen von Aberglauben und Esoterik, ohne die für den seelisch Gesunden naheliegende "augenzwinkernde" Relativierung, ohne das "cum grano salis" (mit einem Körnchen Salz), ohne ein "so tun als ob". Schizophrene neigen dazu, behauptete Positiva ("Ideale") je für sich und unkorrigiert in ihre Gedankenwelt aufzunehmen, sie voneinander isoliert zu halten und als gleichermaßen verbindlich anzusehen. Die Patienten werden von der Gesamtheit der Ideale oder einer Auswahl daraus wie von einem pathogenen "Memom" bestimmt, das ähnlich wie ein Computer-Virus ohne besondere Vorkehrungen nicht mehr abgewehrt werden kann, weil es selber solche Abwehr aufhebt und zerstört. Nur im engeren Sinnzusammenhang können sie das Aufgenommene sprachlogisch weiterdenken, vor allem in Richtung auf Extremalisierungen wie "absolut, all-, unendlich, höchst etc.", wobei schon die bloße Extremalisierung zum Eigenwert wird, und von den Kranken nicht mehr als Übertreibung verstanden werden kann. Die spezifische Qualität des von ihnen extremalisierten Wertes, das bloß Gute, das einfach Schöne, das naheliegend Richtige verlieren sie dabei aus den Augen, und Querverweise, Vergleiche, Güterabwägungen und Kompromisse werden versäumt und gelingen nicht mehr.

Zum zweiten Punkt, der Irrealität des Ideals der Schizophrenen, führen die Autoren aus: "man (fühlt) beim Lesen des Materials deutlich ihre tragische Realitätsferne ... Die Antworten der Patienten enthalten nicht den kleinsten Hinweis auf mögliche Wege zu einer auch nur teilweisen Verwirklichung der Ideale. Im Gegenteil ... der Glaube betrifft das Paradies auf Erden, berücksichtigt aber in keiner Weise Wege und Methoden einer Realisierung ... (der) krasse Gegensatz (des Ideals) zur eigenen dürftigen Wirklichkeit (wird) von einigen Kranken so deutlich wahrgenommen, dass sie die Frage als schmerzlich und grausam empfinden, aber durch die Antwort demonstrieren (sie) dennoch, dass sie weiterhin intensiv an eine ideale Welt glauben" (S. 102). Auch wenn die Glaubensforderungen und kulturellen Klischees mit keiner realisierbaren Lebensform zu vereinbaren sind, bleiben die Schizophrenen dabei, in introvertierter Abgeschlossenheit solche Konzepte "zu hegen und zu pflegen" und "rein und prägnant" zu erhalten (S. 145), ohne sich um praktische Mittel zu ihrer Realisierung zu bemühen. Sie suchen keine Brücke zwischen Ideal und Wirklichkeit, sie versuchen erst gar nicht, das ideale Positive in Realsituationen "zu übersetzen", die Ideale an der Wirklichkeit zu überprüfen und mit ihr abzugleichen. Die Ideale bleiben vielmehr abgehoben von der Realität, unabhängig vom realen Kontext, ohne Handlungsbezug, ohne Gesamtintegration, mit einem Wort: unrealistisch, ja sogar versponnen und phantastisch. Was in einer Welt abstrakter Gedanken durch Isolierung davor bewahrt werden konnte, auf logischen Zusammenhang und ggf. Widersprüchlichkeit hin überprüft zu werden, kann sich in Konfrontation mit einer "widerständigen Realität" sehr schnell als illusorisch erweisen. Und wenn darüber hinaus der so fehlorientierte Kranke sich auf eine Realität einzurichten hat, die von den seelisch gesunden Menschen, ihrer "normalen" Orientierung gemäß, gestaltet wurde, so ist auch der Konflikt des Schizophrenen mit der sozialen Umwelt unvermeidlich (S. 144).

Im Zuge einer unrealistischen Selbstüberforderung kommen bei den Schizophrenen notwendigerweise auch als konflikthaft erlebte innerpsychische Differenzen zwischen dem insgesamt überhöhten Anspruch und den unzureichenden eigenen Möglichkeiten auf. Jede Diskrepanz zwischen dem viel zu ernst genommenen Ideal und irgendeiner faktischen Nicht- oder bloßen Teilerfüllung läßt das Ergebnis des eigenen Tuns als dürftig und enttäuschend erscheinen (S. 94). Das wiederum hat in einem selbstverstärkenden Teufelskreis eine Abwertung des eigenen Selbst und sogar der Realität zur Folge. Das Streben, der beste Mensch der Welt zu sein, und die eigene Unfähigkeit, dem idealen Gutsein völlig zu entsprechen, bewirken dann, dass in dem so Strebenden ein unabweisbares und andauerndes Gefühl der eigenen Schlechtigkeit aufkommt. So stellte sich in der Befragung heraus, dass etwa 90% der Schizophrenen sich selber für den schlechtesten oder zumindest für einen ganz besonders schlechten Menschen hielten. Bloß denkbare Extremalorientierungen eignen sich nun einmal nicht zur situationsangemessenen Begründung eigenen Handelns, und darüber hinaus muss "die deutliche Vorstellung des schönen Ziels die persönliche Realität noch ärmlicher und elender erscheinen lassen" (S. 104), als sie ohnehin schon ist, was schließlich zur totalen depressiven Selbstentwertung oder aber, was nicht besser ist, zur Flucht aus der Realität führt. Der Konflikt zwischen Idealisierung und Realismus kann sich dann bis zur entschiedenen Gegnerschaft zwischen dem Kranken und seiner sozialen Umwelt verschärfen, worunter der Schizophrene in seiner meist schwachen sozialen Position in der Regel am meisten zu leiden hat. Ähnlich wie die Autoren (S. 156) vermute ich, dass das Ernstnehmen so mancher Ideale zu allen Zeiten gefährlich war, und zwar für den in dieser Weise Handelnden oder auch Nicht-Handelnden selber ebenso wie für seine möglichen Gegner und Opfer. Denn neben dem Ideal des "Weisen auf dem Kaiserthron", das nur in Ausnahmefällen wie bei dem römischen Kaiser Mark Aurel einmal annäherungsweise realisiert war, gab es auch die Realität des Verrückten in einer ihm durch Erbe oder andere Umstände zugefallenen Machtposition. Ob nun im engeren heutigen Sinne schizophren oder nicht, haben Herrscher wie der römische Nero zu ihrer Zeit viel Schlimmes angerichtet und viel Leid über ihre Untergebenen und Gegner kommen lassen.

Neben dem Leidenmachen, also den für andere Menschen (lebens)gefährlichen Folgen von schizophren extremalisierten Idealen, ist besonders das Selber-Leidenmüssen eine erwartbare Konsequenz einer solchen Fehlorientierung. Im Unterschied zum neurotischen Konflikt zwischen Trieb ("Es") und strengem Verbot ("Über-Ich") kann es bei den Schizophrenen zu unaufhebbaren Dissonanzen zwischen zwei oder mehreren extremen Denkvorschriften oder Handlungsanweisungen kommen. Diese können dann nicht mehr zur effektiven Orientierung dienen, sondern lassen den Menschen in eine Desorientierung geraten, die nicht einfach nur pathologisch, also durch Geisteskrankheit bedingt ist, sondern sich zusätzlich pathogen auswirkt, indem sie den ohnehin Kranken nur noch verrückter werden läßt. Ein Mensch, der ideale Forderungen und irreale Behauptungen sehr ernst nimmt, ist schon dadurch in seiner Orientierung in der sozialen und dinglichen Welt ganz erheblich behindert. Die Schizophrenen beißen sich dann leicht an für sie unlösbaren Problemen fest, statt wie die geistig Gesunden "zur Tagesordnung übergehen zu können". So hatten die Kreitlers beispielsweise den Eindruck, "dass die Schizophrenen sich bemühen, das Todesproblem zu lösen" (S. 114). Der Tod ist aber "ein Thema, das bei den meisten Menschen Angst auslöst, so (dass) angenommen werden (darf), dass die dauernde Aktualisierung eine permanente Angstquelle ist". Aber "in der weltanschaulichen Orientierung ist jede Frage, die weder befriedigend gelöst noch ignoriert werden kann, ein beunruhigender Faktor" (S. 123). So kommen die Autoren zu dem Schluss: "Bedenkt man, dass der Versuch, Fragen zu beantworten, auf die es keine (H. Sch.: keine zufriedenstellende und beruhigende) Antwort gibt, gelegentlich zu größeren Schwierigkeiten führt als der Versuch, die Frage überhaupt nicht zu stellen, so wird die psychopathologische Bedeutung (der Antworten) zur Todesfrage klar" (S. 114).

Denn indem die Schizophrenen für sie unlösbare Probleme zu lösen versuchen und unrealisierbare Forderungen todernst nehmen, verzweifeln sie an jeder Möglichkeit der Realisierung und schließlich an der Realität selbst. Statt dessen versuchen sie nur noch, durch eine noch intensivere Phantasietätigkeit sich ihre innere Gedankenwelt stimmig zu erhalten. Sie ähneln darin introvertiert veranlagten Kindern, "die die Kunst des Tagträumens und der Phantasiebefriedigung bereits erlernt haben, (und) die ihre intellektuellen Energien auf die phantastische Ausgestaltung der Ziele ... konzentrieren" (S. 103). In noch viel höherem Maße bieten die Schizophrenen alle ihre geistigen Kräfte konzentriert auf, um die idealen Ziele selbst stimmig auszugestalten, statt über den Weg zu ihrer Realisierung nachzudenken (S. 103). Es ist also zu vermuten, dass insbesondere die Tendenz, an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer idealen Welt zu glauben, sich bei den Kranken zusätzlich desorientierend auswirkt, nämlich als eine die Krankheitssymptomatik verstärkende Rechtfertigung eines Rückzugs ins Irreale, wahnhaft Phantastische und Abgehobene. Die Autoren nennen das "die schizophrene Steigerung". Sie "besteht einfach darin, dass auf die Wahrnehmung eigener Unzulänglichkeit mit einer Intensivierung und Erhöhung des Ideals reagiert wird" (S. 65). Watzlawick nannte dies das Prinzip des "Mehr Desselben". Hierdurch wird ein Prozess eingeleitet, in dessen Verlauf die Distanz zwischen den eigenen faktischen Möglichkeiten und den irrealen Zielvorstellungen dauernd weiter wächst. Die ausschließliche Konzentration des Schizophrenen auf den imaginierten Idealzustand erweitert und vertieft den Abgrund zwischen der inneren und äußeren Wirklichkeit einerseits und den idealen Forderungen andererseits und bewirkt durch die kompensatorische Intensivierung des einen - auf Ideale bezogenen - Pols eine zwangsläufige Steigerung des Pathologischen (S. 103), "und so fort und fort, bis die Entfernung von der Realität so groß ist, dass sie in den Phantasien gar nicht mehr berücksichtigt wird, und bis die sich progressiv steigernde Enttäuschung nur mehr durch pathologische Symptombildungen gemildert werden kann". So verstärkt sich immer aufs Neue ein Circulus vitiosus, ein pathologischer Zauberkreis, der schließlich in der Bildung schizophrener Symptome eine zweifelhafte Stabilität erlangt. Die von den Autoren herausgearbeitete Weltanschauung der Schizophrenen wäre somit, wenn sie nicht nur pathologisch (krankhaft) ist, sondern durch unlösbare Konflikte zusätzlich pathogen (symptomverstärkend) wirkt, als Fehlorientierung zu bezeichnen. Wir sollten uns daher eingehender mit der Problematik befassen, ob es sich bei dem, was die Kreitlers so inhaltsreich und eindrucksvoll beschrieben haben, nur um "schizophrene" Orientierungsschwächen handelt, also um krankheitsbedingt übertriebene Ideologien bzw. Glaubensinhalte, oder aber um religiöse und ideologische Fehlorientierungen, die sich auch schon auf seelisch gesunde Menschen verwirrend auswirken können und für Schizophrene zusätzlich krankmachend oder zumindest symptomverschärfend sind. Anders gefragt: liegt es nur an der Verrücktheit des Schizophrenen, wenn er kulturelle Orientierungen so unrealistisch umsetzt und schließlich wahnsinnig übertreibend ad absurdum führt, oder liegt es vielleicht auch oder sogar vor allem an der Art dieser Orientierungen selbst? Denn der Verdacht liegt nahe, dass das Pathologische der extremen Ideale nicht nur an der Art liegen kann, wie die Schizophrenen sie verstehen (etwa gar "missverstehen") und zu befolgen versuchen. Es wäre zu kurz gegriffen, einfach den Schizophrenen die "pathologische" Umsetzung der Ideale anzulasten. Die Pathogenität mancher Ideale könnte ja auch in den religiös-weltanschaulichen Orientierungsangeboten selber begründet sein, die vielleicht ohnehin dazu angetan sind, die Orientierungsschwäche der Kranken bis zu einer ganz erheblichen Desorientierung und bis zu einem "In-die-Irre-geführt-werden" zu verstärken. Diesen so akuten und sogar virulenten Problemen möchte ich im Folgenden zunächst mit eigenen Überlegungen nachgehen.