2.4.8.1.9. Widersprüchlichkeit, Realitätsferne und Aufgabencharakter der Ideale selbst

Im folgenden will ich mich wieder und weiterhin von den Autoren Kreitler belehren lassen. Auch sie weisen auf die Widersprüche zwischen den extremen Idealen hin, die in einigen Religionen und Weltanschauungen offenbar systemimmanent sind. Wo Moralgesetze einander widersprechen, wo erhebliche Gegensätze zwischen Sollen, Sein und Schein bestehen, da ist die Orientierung schon von den mangelhaften Wegweisern her erschwert, selbst in ebenem, gangbarem und fast schon von sich aus übersichtlichem Gelände, um das schon vertraute Bild wieder aufzugreifen. Schon die unvereinbaren Gegensätze zwischen den Idealen erschweren jede Orientierung und jede reale Maßnahme zu einer eventuellen Verwirklichung der Ideale (S. 94), und sie wachsen sich zu unlösbaren innerseelischen Konflikten aus bei denen, die sich danach richten wollen. Nach dem Hinweis auf die Widersprüche zwischen den Idealen legen die Autoren eine noch größere und kritische Betonung darauf, dass oft die Ideale mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun haben. Es sind Wegweiser und Landkarten wie von anderen Sternen, vielleicht von himmlischen Gefilden, aber nicht von unserer Erde. Dass die extremen Ideale der Religionen und Ideologien, insbesondere der in der einen oder anderen Weise monistischen, selber schon den Mangel haben, nicht genügend realitätsbezogen und damit orientierungstauglich zu sein, wirkt sich bei den ohnehin desintegrierten und realitätsflüchtigen Kranken nur noch besonders desorientierend aus. Statt ihnen eine angemessene und nützliche Hilfe zum Zurechtfinden in einer von ihnen wahnhaft verzerrt wahrgenommenen Umwelt zu vermitteln, verstärken extreme Ideale in ihrer Irrealität sogar noch die Desorientiertheit der ohnehin seelisch schwer gestörten Menschen, z.B. dadurch, dass sie den Kranken Anlass zu noch weiterer Extremalisierung ihrer Zielsetzungen geben, was ihre individuelle Realitätsbewältigung zusätzlich beeinträchtigt. Insgesamt wird deutlich, dass die Widersprüchlichkeit und die Realitätsfremdheit einiger herrschender Kulturkonzepte in der für Schizophrene typischen Fehlorientierung nur noch krasser in Erscheinung treten.

Darüber hinaus sind die extremalisierten Ideale weit entfernt von dem, was einer Mehrheit von Menschen einer Kultur zur Orientierung in dieser realen Welt dienen könnte. Es sind Ideale für Engel, aber nicht für unseresgleichen. Sie sind auch weit entfernt von dem, woran Politiker sich halten sollten, die mit der Verantwortung für ihr Land und die dort lebenden Menschen betraut worden sind. Es bleibt den seelisch gesunden Menschen nur noch, solche Normen nicht ernst zu nehmen und sie im Alltag oft sogar außer Acht zu lassen und sie höchstens am Sonntag gedankenlos nachzubeten. Ein solcher Umgang mit Idealen, die zur Orientierung untauglich sind, ist aber für Schizophrene nicht mitvollziehbar. Die Kranken "wandern daher in der von den Gesunden gestalteten und dauernd umgestalteten Welt (unter Führung) einer Landkarte, die dieser Welt nicht entspricht. Falsch orientiert, gehen sie in die Irre; und wenn sie es merken, ist der Schrecken über ihr Verirrtsein so groß, dass sie wirklich irre werden" (S. 145). Solche Fehlorientierungen bringen die Schizophrenen noch zusätzlich in Konflikte mit ihren seelisch gesunden Mitmenschen, die weniger auf Fremdorientierung angewiesen sind und sich trotz religiöser oder weltanschaulicher Vorgaben dennoch selber in der Realität zurechtfinden können. Aber es ist nicht nur diese Differenz zwischen der schizophrenen und der seelisch gesunden Art, mit extremalisierenden Normen umzugehen, die sich bei den Schizophrenen zusätzlich verschärfend auswirkt. Auch ohne solche Konflikte der Kranken mit ihren Mitmenschen sind schon die Extremalisierungen selber pathologisch und zugleich pathogen für Schizophrene.

Dass Schizophrene die Ideale so hochschätzen, hat nicht nur mit ihrem Ernstnehmen von extremalisierenden Behauptungen und mit ihrer Realitätsfremdheit zu tun. Es kommt dabei noch ins Spiel, dass sie sich allzu sehr darauf eingerichtet haben, vorwiegend fremdgesetzten Zielen nachzugehen, ohne sie in Frage stellen zu können. Dazu bemerken die Kreitlers, dass in vielen (vor allem dogmatisch durch heilige Bücher bestimmten) Erziehungssystemen "dem Kind Ziele gesteckt (werden), zu deren Erreichung es noch zu klein, zu schwach und zu unwissend ist. Das Sollen‹ wird betont, ohne dass das Können‹ genügend berücksichtigt wird" (S. 103). Dazu kommt, "wie häufig noch immer unseren Kindern von der Aufgabe des Menschen in der Welt erzählt wird und wie oft man ihnen Wege weist, die zur Erfüllung dieser Aufgaben ungeeignet sind" (S. 113). Diese Problematik wurde in der Kreitlerschen Untersuchung angerührt, wenn die Patienten nach der Aufgabe des Menschen in der Welt gefragt wurden (S. 104). Das Ergebnis ist nach den bisher diskutierten Befunden nicht mehr überraschend: "95% der Schizophrenen behaupteten sehr nachdrücklich, dass der Mensch unbedingt eine Aufgabe hat. 90% der gesunden Versuchspersonen distanzierten sich von einem solchen Glauben" (S. 105). Bemerkenswert ist schon, wie oft die Schizophrenen von der Aufgabe (im Singular!) sprachen, und etwa behaupteten, dass es eine Aufgabe gibt (S. 108). Das erinnert an die "Dassheit" der protestantischen Theologie: dass es Gott gibt und dass Christus wiederauferstanden ist und dass Christen daran glauben, wobei das "was" und "wie" ganz in den Hintergrund tritt. Dementsprechend sagten "etwa 25% der Schizophrenen ... direkt, dass der Mensch eine Aufgabe haben muss, weil man ohne Aufgabe nicht leben könne. (Sie) betonen also die Notwendigkeit der Aufgabe, unabhängig von ihrem Inhalt" (S. 109). Erst der Glaube an eine Aufgabe würde dem Leben einen Sinn verleihen (S. 111). Das Postulieren einer Lebensaufgabe, gleichgültig welchen Inhalts, ist aber nicht so selbstverständlich, wie es zunächst klingt, jedenfalls nicht bei den seelisch gesunden Versuchspersonen.

In diesem Zusammenhang ist folgendes hervorzuheben: "Viele Schizophrene nennen als Aufgabe Verhaltensweisen und Lebensformen, die durchaus alltäglich sind ... (Sie) machen das Selbstverständliche zum Außergewöhnlichen, indem sie es Aufgabe‹ nennen" (S. 109). Da liegt die Frage nahe, wodurch ein alltäglich Selbstverständliches zu der Aufgabe werden kann. Was kommt hinzu, worin besteht der besondere Aufgabencharakter? Ich vermute, dass in diesen Fällen einer, der diese Aufgabe stellt, das Besondere daran ist, nämlich einer, der davon ausgeht, dass Menschen sich nicht selber bestimmen sollen und ohne Anweisungen sich auch gar nicht zurechtfinden können. Die "Aufgabe" soll wohl dazu dienen, den als unselbständig und abhängig verstandenen Menschen eine Richtung zu weisen (S. 111). Dazu passt die Tendenz der Schizophrenen, fremdgesetzte Forderungen unkorrigiert aufzunehmen und gelten zu lassen, ohne sie kritisch in Frage zu stellen und abzuwägen, und ohne sich dagegen wehren zu dürfen und die Fremdbestimmung selber ausschalten zu können. Und dazu gehört auch der jedem Psychiater vertraute Befund, dass viele Schizophrene ihr eigenes Verhalten als seltsam fremdbestimmt ("von Anderen gesteuert") erleben, bis zu dem Wahn, dass jemand, z.B. ein Verfolger, ihnen ihre eigenen Gefühle "gemacht" habe. Aber auch ohne solchen Wahn kann die Rede von der Aufgabe implizieren, dass es "ein höheres Wesen", dass es Gott gibt, der den Menschen Forderungen ("Gebote") stellt und vor dem man am Ende der Tage verantworten muss, ob man sein Leben richtig geführt, seine Aufgabe im Leben erfüllt hat. Eine Aufgabe zu erfüllen, bloß weil sie einem aufgegeben wurde, setzt allerdings ein hohes Maß an unbedingtem Gehorsam, ja sogar Hörigkeit voraus, eine naive Wortgläubigkeit und Beeindruckbarkeit durch die Manifestation von Macht, durch Drohungen und Verheißungen. Auf der anderen Seite ist das Wissen darüber, dass "die Aufgabe" besteht und dass man sie nicht voll und ganz erfüllt hat, ein unversiegbarer Quell von Schuldgefühlen. Das Bewusstsein, sie gar nicht erfüllen zu können, würde tiefe Depressionen aufkommen lassen (S. 111). Diese negativen Gefühle verstärken sich noch bei fehlender Übereinstimmung mit der sozialen Gruppe (S. 113) und besonders bei dem schlimmen Verdacht, nicht mehr mit der Gnade des Herrschers rechnen zu können, der die Aufgaben gestellt hatte.

Wenn ich hier über die Analyse des "Aufgabencharakters" den eingeführt habe, der allein in der Lage wäre, "den Menschen" ihr eigenes Leben als zu leistende Aufgabe hinzustellen, gehe ich in einem entscheidenden Punkt über die Argumentation der Autoren Hans und Shulamith Kreitler hinaus. Die Autoren, in Israel lebend und arbeitend, drücken sich da recht vorsichtig aus, aber sie erinnern immerhin daran, dass "vom Messiasglauben der Juden und Christen über Rousseau und den klassischen Marxismus bis hin zum modernen Kommunismus ... der Glaube an eine ideale Welt, ein Paradies auf dieser Erde, verwendet wurde" (S. 101). Ich brauche bloß noch zu ergänzen, dass auch der Nationalsozialismus die "Vorsehung", die "Auserwähltheit der arischen Rasse" und den "Endsieg" ins Spiel brachte, und selbst die "Grünen" sind nicht ganz frei von apokalyptischen Warnungen und Paradiesesmalereien. An anderer Stelle erwähnen die Autoren "die oft als infantil bezeichneten Heilsideen und lyrischen Paradiesesvorstellungen" (S. 103) und vertreten die These, dass "der Glaube an die ideale Welt zu jener ... Realitätsverachtung und Gegenwartsverneinung (führt), die als Massensymptom schon im Mittelalter beobachtet wurde" (S. 104). Und schließlich schreiben sie zusammenfassend über "unsere Beobachtung, dass die schizophrene Weltanschauung (H. Sch.: das bedeutet hier noch "die Weltanschauung der Schizophrenen"!) prominente Züge der üblichen idealistischen Erziehung und des allgemeinen Kulturbetriebs aufweist" (S. 144). Das von den Kreitlers häufiger gebrauchte Wort "idealistisch" wird etwas verständlicher, wenn man in der westlichen Welt dafür "christlich" einsetzt und in Israel das Wort "jüdisch" oder "rechtgläubig". Dann ist auch klar, wer der ominöse Aufgabensteller oder Auftraggeber ist: es ist Gott der Herr, der Monotheos.