2.4.8.1.10. "Platonismus" oder Monotheismus? Ideengeschichtliche Quellen für Extremalisierungen

Erinnern wir uns an dieser Stelle an das, was sich schon bisher aus den Untersuchungen der Kreitlers ergeben hatte: Alle die für die Schizophrenen der Versuchsgruppe charakteristischen Extremalisierungen, die hohen Ideale wie etwa das Streben, der Beste zu sein, eine ideale Welt zu verwirklichen, absolut frei zu sein, und die gleichermaßen extremen Forderungen, einer zu leistenden Aufgabe im Leben nachkommen zu sollen, eine glanzvolle Karriere anzustreben, dabei aber zurückgezogen und bescheiden zu sein, sie fehlen zwar weitgehend in den Aussagen der seelisch Gesunden, sind aber dennoch nicht etwa "verrückte" Eigenschöpfungen der Kranken. Sie gehören vielmehr zu dem anerkannten Ideengut der jeweiligen Kulturen, spielen in der religiös-weltanschaulichen Erziehung der Kinder nach wie vor eine große Rolle, werden auch von den Festrednern und Meinungsführern offiziell propagiert und nehmen insgesamt im kulturellen Selbstverständnis einen hochgeachteten Platz ein (SS. 125, 142, 156). So ist die Hypothese berechtigt, "dass viele der schizophrenen Absurditäten und Eigenarten ein monströs vergrößertes und oft verzerrtes Spiegelbild gewisser Widersprüche unseres Kulturlebens sind" (S. 28). Schon in diesem "Normalbereich" weisen sie Übertreibungstendenzen auf, die von den Schizophrenen nur noch auf die Spitze getrieben werden. Als gemeinsamer Nenner desorientierender Ideologie erscheint den Kreitlers eine philosophische Grundauffassung, die sie als "Platonismus" bezeichnen. Dazu einige Erläuterungen: Der altgriechische Philosoph Platon (427 - 348 v.Chr.), Schüler des Sokrates, sah das Wesen der Ethik in der Gemeinsamkeit aller Tugenden, die von der praktischen Vernunft als für alle Menschen allgemeinverbindlich erkannt werden. Denn das gute Leben und die Glückseligkeit als Ziel eines jeden Menschen haben nach Platon ihre geistige Voraussetzung in der Erkenntnis der Ideen, insbesondere der Idee des Guten, und finden darin ihre Erfüllung. Ein solcher, in der engen Beziehung von Ethik und Metaphysik begründeter, ethischer Intellektualismus ist seitdem, in vielen Abwandlungen, von Philosophen vertreten worden und wird als "Platonismus" bezeichnet. Danach ist Tugend in ihrem Ursprung aus dem idealen Einen letztlich die Erkenntnis transzendentaler Ideen, gipfelnd in der Idee des Guten. Ein solcher Platonismus, eine Auffassung des Seins, die vor oder hinter der Wirklichkeit absolute Ideen voraussetzt und diese zu verwirklichen sucht, findet in den Anschauungen der gesunden Versuchspersonen keinen Platz (S. 67). Dagegen meinen die Kreitlers, dass es nicht erstaunlich sei, "dass es eine bestimmte Gruppe platonistischer Vorzugsschüler (H. Sch.: vielleicht besser "Musterknaben"!) gibt, die an den leeren Floskeln welkender Ideale hängen (und) eine weltanschauliche Orientierung aufbauen, die zu pathologischen Reaktionen führt" (S. 113). So leben insbesondere die Schizophrenen mit ihrem naiven Platonismus in der sehr unplatonischen Welt der seelisch Gesunden (S. 68), wie sie durch die von den Kreitlers untersuchte Kontrollgruppe repräsentiert wird. Insofern Schizophrene nach der gleichzeitigen vollkommenen Realisierung von absoluten Werten, vor allem des idealen Guten, streben, kann ihre Weltanschauung sehr wohl als Platonismus eingeordnet werden (S. 67). Für sie kann ein derartiger Platonismus sich zusätzlich als pathogen auswirken, denn Platonismen belasten ohnehin schon orientierungsschwache Menschen weiterhin mit extremalisierenden und dadurch im Effekt desorientierenden Normen. Nicht nur den Menschen, die schon anfällig sind für eine Schizophrenie, sondern auch den geistig Gesunden kann eine platonistische Grundorientierung nicht gut tun.

Die Sache scheint so weit klar zu sein. Ist aber auch der Begriff "Platonismus" angemessen? Mir scheint, dass damit dem alten Platon zuviel der Ehre angetan wird. Denn die bei den Schizophrenen vorfindbaren Extremalisierungen sind den Menschen unseres Kulturkreises - Israel gehört sicher dazu - nicht so sehr durch philosophische Spekulationen der alten Griechen, sondern in erster Linie durch die jüdisch-christliche Religion und Theologie nahegebracht worden, und das wissen auch die Kreitlers. Wenn man nämlich die in ihrer Extremalisierung einander ausschließenden ethischen Maximen der Patienten im einzelnen prüft, dann erweist sich das, was durch das Einanderausschließen der Extreme so absurd und übertrieben klingt, je für sich betrachtet als wohlgeachtete Teilaussage einer abendländischen Ethik (vgl. S. 67) von jüdisch-christlicher Prägung. Insbesondere die Forderung nach körperlich-moralischer Reinheit, aber auch das Überbetonen der eigenen Schlechtigkeit entspricht weitgehend einer naiven jüdisch-christlichen Moral. "Liest man die Antworten der Schizophrenen durch", so kommentieren die Autoren, "so kann man (glauben), dass man Teile einer geistlichen Predigt volkstümlicher Prägung hört" (S. 67). So kurz ist offenbar der Weg von jüdisch-christlicher Moral zu den unerfüllbaren Idealen der Schizophrenen! Der Monotheos, der auch von Christen immer noch Jahwe genannt werden kann, ist selber ein Ausbund an Extremalisierungen ("allmächtig, allwissend, allbarmherzig, ewig, allgegenwärtig" etc.). Die Forderungen seiner Anhänger, zum Teil durch Jesus von Nazareth noch verschärft, wurden später durch Katechismen schon den Kindern eingeimpft, und ihre Erfüllung bzw. Nichterfüllung wurde mit Beicht- und Bußpraxis streng kontrolliert. Wegen ihrer Unerfüllbarkeit vor allem im Bereich der Sexualität und Aggressivität (da müsste nur noch das Essen, Trinken und Atmen zur bußpflichtigen Sünde erklärt werden!) haben diese Gebote schon viele Generationen in schlimmste Gewissensnöte gestürzt. Dies alles dem alten Platon anzulasten, lenkt doch wohl nur (möglicherweise aus Angst vor Sanktionen) von der tatsächlichen Verursachung ab. Vielleicht sahen sich die Kreitlers noch nicht in der Lage, den jüdisch-christlichen Idealismus und Extremalismus direkter und offener anzusprechen. Immerhin forschten und lebten sie im Heiligen Land der Juden, Christen und Muslime, und diese einander so ähnlichen Monotheisten mögen solche Kritik nicht!

Das in den letzten Abschnitten Ausgeführte gilt aber auch für ganz andere, auch für nicht-monotheistische Kulturen, worauf die Autoren ausdrücklich hinweisen: "Das Problem besteht nicht nur im abendländischen Kulturkreis, sondern hat durchaus globalen Charakter. Margaret Mead (erfuhr) ... besonders viel über die Konzepte einer Stammeskultur, indem sie jene befragte, die als Außenseiter, als Sonderlinge und sogar als Kranke galten. Durch ihre Übertreibungen und ihr Ignorieren wurden gewisse Ideen und Ideale besonders klar ...gewisse Züge der japanischen Kultur (traten) am deutlichsten bei den internierten Schizophrenen zutage" (S. 144). Diese Feststellungen können verallgemeinert werden: "... (wer) sich mit den traditionellen Ideen identifiziert, ohne sie in der gegenwärtig üblichen Weise zu verarbeiten, (wird) einerseits zum Außenseiter, und (demonstriert) andererseits gewisse Formanten der Weltanschauung deutlicher als der normale Durchschnitt" (S. 145), in welchem Kulturkreis auch immer. Der Monotheismus lädt nur zu besonders unangreifbaren und ausweglosen Verabsolutierungen ein. Die Zahl der Schizophrenen wird dadurch im jüdisch-christlich-islamischen Bereich nicht höher, sie ist ohnehin weltweit etwa gleich. Aber es könnte im Bereich monotheistischer Glaubensrichtungen die Zahl der nicht-schizophrenen Fanatiker erhöht sein, die sich vom all-einzigen Gott vor die "Aufgabe" gestellt sehen, die ganze Welt zum wahren christlichen bzw. wahren islamischen Glauben zu bekehren, während die Juden in aller Bescheidenheit sich damit begnügen, als auserwähltes Volk diesen wahren Glauben schon längst selber zu haben, so dass sich für sie jede Mission erübrigt.