2.4.8.1.11. Krankmachende religiöse und weltanschauliche Fehlorientierungen

Darüber hinaus erschweren extremalistisch-realitätsfremde Orientierungen die psychologische Behandlung und Rückfallprophylaxe von Patienten, die an Schizophrenie erkrankt sind und denen nach wiederholten "Schüben" eine Chronifizierung ihrer Störung droht. Denn "die Fehlorientierung als Folge eines naiven Glaubens an eine platonistisch (von extremen Idealen) bestimmte Welt wirkt auf ... tiefere Schichten der Persönlichkeit ein" (S. 95). Man darf also annehmen, "dass der Mensch ... durch unadäquate Orientierung und vor allem durch das Festhalten an ihr ... sehr behindert und geschädigt wird" (S. 140). Es ist aber noch weiter zu fragen: Können "verrückte" Glaubenssysteme und Weltanschauungen auch seelisch gesunde Menschen desorientieren, wenn die Einflussnahme (etwa in der Form einer "Gehirnwäsche") nur massiv genug erfolgt oder aber wenn sie schon sehr früh, vorzugsweise über die Mutter des Kindes, zumindest aber in Kindergarten und Schule bzw. Kindergottesdienst einsetzt und ein Leben lang weitergeführt wird? Müssen daher Menschen erst eine gehörige Portion psychischer Gesundheit und seelischer Reife entwickelt haben, mit erwachsen-realistischer Urteilsfähigkeit, um gegen eine solche Indoktrinierung Widerstand leisten zu können oder immunisiert zu sein und sich stattdessen auf die eigenen Möglichkeiten zu verlassen, um in ihrer Welt zurechtzufinden? In diesem Zusammenhang erinnern die Kreitlers die Moralprediger und öffentlichen Meinungsmacher an ihre Verantwortung: "Dass auch manche Ethiker, Politiker und Kitsch-Industrielle (dem) nicht Rechnung tragen, macht sie, falls sie nicht selbst schizoid sind, zu Mitverantwortlichen an schizophrenen Verirrungen" (S. 95). Solche Folgen werden meist nicht bedacht, wenn sich Großsprecher auf religiös-weltanschaulichen Spielwiesen tummeln und ihre Mitmenschen mit schnell ausgesprochenen, aber kaum realisierbaren Normen, Geboten und Idealen überfordern.

Als Konsequenz aus ihren Befunden schlagen die Autoren nun vor, dass untersucht werden sollte, inwieweit die aufgezeigten Verhaltenseigentümlichkeiten der Schizophrenen auch oder vor allem durch Eigenheiten der Weltanschauung bedingt wurden (S. 128). Diese war, wie ich präzisieren möchte, von den Patienten in der Regel schon vor der akuten Erkrankung ("prämorbid") aus ihrer sozialen Umwelt aufgenommen worden, aber sie trug dazu bei, dass die schließlich schizophren Gewordenen in Hinsicht auf ihre Orientierung noch "verrückter" wurden. Außerdem waren diese Vororientierungen von einer Art, dass sie von den seelisch gesunden Personen der Kontrollgruppe negiert, abgewehrt, relativiert und uminterpretiert, insgesamt also "verarbeitet" werden mussten, um ein realitätsbezogenes Leben zu ermöglichen, was diese Gesunden dann auch mehr oder weniger gut schaffen konnten. Spricht das nicht alles dafür, dass diese Orientierungen selber schon zu sehr von der Realität entfernt, abgehoben und verstiegen waren, und insofern selber schon "verrückt" und daher "therapiebedürftig" oder zumindest als Orientierung fragwürdig und zur Korrektur oder Verwerfung anstehend? Nun könnte jemand einwenden, die hier angesprochenen Orientierungen seien ja "eigentlich" heilsam, und die Schizophrenen litten schlimmstenfalls unter nur in geringem Maße schädlichen "Nebenwirkungen" von etwas eigentlich Gutem. Aber dann bleibt die Frage, warum denn die seelisch Gesunden dieses eigentlich Gute so relativieren, abschwächen und uminterpretieren müssen, um es vertragen und verarbeiten zu können. Ich bleibe mit den Kreitlers dabei: ein Gutes sollte sowohl den seelisch Gesunden als auch den Schizophrenen gleichermaßen gut bekommen und auch ohne Abschwächung für sie nicht nur verträglich, sondern förderlich und wirklich heilsam sein. Unter dieser Prämisse wird eine ganze Gesellschaft mit ihren so gern als herrschend deklarierten religiös-weltanschaulichen Orientierungen zum Problem, und es ist zu fragen, wie ihre Pathogenität für Schizophrene einzuschätzen ist.

Bei den Kreitlers kann der von ihnen festgestellte Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Weltanschauung fast so verstanden werden, als habe ein pathogener Glaube diese Leute erst schizophren werden lassen. Dagegen steht, dass Schizophrene nicht nur in ihrer Rezeption einer Weltanschauung, sondern auch im Umgang mit ihren Mitmenschen zu ähnlichen Verhaltensweisen neigen. Auch hier kann ihnen leicht etwas in die falsche Kehle geraten, sie können ihrem Gesprächspartner das Wort im Munde rumdrehen und ihm etwas unterstellen, was er weder gesagt noch gemeint hat. Sinnbildlich Gemeintes ("in die falsche Kehle geraten", "im Munde umgedreht") kann dann vom Schizophrenen wörtlich genommen werden ("Wieso denn, ich hab mich doch gar nicht verschluckt!", "ich habe überhaupt nichts umgedreht!"), dagegen wird deutlich Ausgesprochenes, das in seinem Wortsinn für andere Menschen klar verständlich ist, vom Kranken in einem anderen Sinn verstanden (den der Sprecher nur ahnen kann, wenn sich der misstrauische Kranke darüber nicht äußern mag). So kann es einem im Umgang mit einem paranoid Schizophrenen ergehen: Alles, was man ihm sagt, wird von ihm im Sinne des Verfolgungs-(oder auch Erlösungs-)Wahns uminterpretiert; das freundlich gemeinte und jedenfalls harmlose Hilfsangebot wird ihm zum heimlichen Angriff eines gefährlichen Menschen, der mit den Verfolgern "unter einer Decke steckt", an ihren "Machenschaften" beteiligt ist. Der Schizophrene interpretiert insbesondere unklare oder uneindeutige Bemerkungen so, dass sie seinen Wahn zu bestätigen scheinen. Der Kranke selber kann sehr individuelle Vorstellungen und auch Sprechweisen entwickeln, mit denen er sich seinen Mitmenschen schließlich nicht mehr vermitteln kann: seine Rede wird "zerfahren" und von sprachlichen Neubildungen ("Neologismen") überfrachtet bis zur Unverständlichkeit.

Nur unter besonderem Aufwand kann ein Therapeut dennoch erreichen, in das Erleben und die Gedankenwelt des Kranken hineinzufinden und mit dem aus unserer Sprach- und Sinngemeinschaft "entrückten" Schizophrenen wieder eine tragfähigere Beziehung aufzubauen und bessere Kommunikationen aufzunehmen. Eine klare und einfache Ausdrucksweise des Therapeuten, in welcher der Inhalt des von ihm Gesagten und seine Mimik und Gestik miteinander übereinstimmen, kann es dem Kranken erleichtern, seinen Gesprächspartner und schließlich sich selber besser zu verstehen. Stimmige Orientierungen können Sicherheit verschaffen. Natürlich kann auch eine klare und vernünftige Orientierung schlimm missverstanden werden. Um so leichter geschieht dies bei ungenauen, z.T. in der Sache falschen, fehlweisenden Orientierungen, bei lückenhaften und entstellten Texten, die um so leichter noch zusätzlich fehlinterpretiert werden können. Die Einzelorientierungen eines Glaubens sollten daher wenigstens einigermaßen zueinander passen, um einander widersprechende Doppel- oder Mehrfach-Empfehlungen zur gleichen Sache zu vermeiden, die nur zur Desorientierung beitragen. Widersprüchliche Orientierungen können den unter Handlungsdruck stehenden Menschen sehr verunsichern, ihn bis zur verzweifelten Handlungsunfähigkeit immobilisieren, in Einzelfällen ihn sogar krank machen.

In Abhebung von Andeutungen der Kreitlers möchte ich aber betonen, dass auch eine ziemlich „verrückte“ Weltanschauung einen Menschen wohl nicht schizophren machen kann. Aber es ist richtig, dass Schizophrene besonders empfänglich sind für desorientierende Fremdangebote, die sie nicht realitätsgerecht verwenden können. Sie sind ja selber schon in einem bestimmten Sinne "desorientiert", zwar nicht so sehr, wie manche Alzheimer-Patienten ("Altersheimer"), in Hinsicht auf den Ort, die Zeit und die eigene Person, sondern vielmehr in Hinsicht auf die Grenzen zwischen Selbst und Welt: Sie erleben halluzinatorisch etwas als eine aus der Außenwelt herrührende Sinneswahrnehmung, was eigentlich (vom gesunden Menschen) bestenfalls als Gedanke, Einfall oder Trauminhalt "innen" erlebt würde, als etwas, was nicht der äußeren Wirklichkeit zugerechnet wird. Andererseits können die Patienten ihren eigenen Körper als von außen beeinflusst, hypnotisiert, bestrahlt erleben, wo für die Außenstehenden weder der Urheber, noch die Übermittlung, noch die Auswirkung einer solchen Beeinflussung zu erkennen ist. Bei solcher seelischen Verfassung, wo die Grenze zwischen innen und außen schwammig und löchrig wird, wo sich Innen und Außen sogar umkehren können, funktionieren Selbstorientierungen schlechter, und dann kann das Bedürfnis nach sichernder Fremdorientierung stärker werden. Es gibt daher bei Schizophrenen so etwas wie eine mit dem Krankwerden verbundene Sinnsuche, ein nachträgliches Plausibelmachen des so verwirrend Erlebten durch "Erklärungen" religiös-weltanschaulicher Art, und das macht sie so empfänglich für Orientierungsangebote, leider insbesondere für solche, die faktisch eher desorientierend wirken.