2.4.8.2.5. Positive Alternativen weltanschaulicher Orientierung

Mit der bloßen Religions- und Weltanschauungskritik ist es also nicht getan, denn es bleibt dann immer noch die Frage, woran man sich dann noch halten und worauf man sich dann noch verlassen kann, und was als hilfreiche Eigenorientierung und als gesellschaftlich notwendige Verpflichtung weiterhin sinnvoll ist. Es ist demnach dringlich, auch nach positiven Ansätzen sinnvoller Orientierung zu fragen, und das geht über das Relativieren altüberkommener Religion und Weltanschauung deutlich hinaus. Solchermaßen nicht-pathogene oder auch alternative Orientierungen gab es schon seit alters her. Sie brauchen daher nicht ganz neu erfunden, sondern nur auf unsere Zeit und je spezielle Situation hin adaptiert zu werden. Sie haben sich, schon wegen ihrer Einsichtigkeit und Attraktivität für realistische Erwachsene, in einem Mindestmaß in der menschlichen Geschichte erhalten, sogar in Konkurrenz mit den religiösen und politischen Extremalisierern, die in ihrer Machtbesessenheit schon zu allen Zeiten die Weltherrschaft anstrebten und inzwischen nahe dran sind, unsere irdische Welt zugrunde zu richten.

Woran können wir die nicht-pathogenen Orientierungen erkennen, wo können wir sie finden, wie können wir sie miteinander stärker ins Gespräch bringen und darüber hinaus in das allgemeine Bewusstsein derjenigen heben, die Orientierung suchen? Damit diese wenigstens erfahren können, was noch im Angebot ist, versuche ich, eine erste Suchhilfe zum Auffinden solcher alternativer Orientierungen zu geben: wir finden sie eher dort, wo sie von den Mächtigen aller Arten schlechtgemacht und wo ihre Anhänger bekämpft, vertrieben oder getötet werden, also unter Flüchtlingen, Dissidenten, Ketzern (aber Vorsicht: Ketzer können orthodoxer sein als die Rechtgläubigen, päpstlicher als der Papst!), unter Auswanderern und unter den Freigeistern der inneren Emigration. Wir finden sie auch unter Reisenden, Händlern, Seefahrern, Naturforschern, also unter Menschen, die sich ihre Neugierde und Offenheit für Fremdes erhalten haben, unter den Polyglotten, die sich nicht auf ihre eigene Muttersprache beschränken, unter den Übersetzern und Dolmetschern, Verhandlern, Schlichtern und Moderatoren, sogar unter Spionen und "Verrätern"! Wir finden sie unter den Geschichtenerzählern, die es mit "der" Wahrheit nicht so ernst und genau nehmen, weil sie viele Wahrheiten kennen und gern weitergeben, vor allem denen, die es hören oder lesen wollen; wir finden sie unter Künstlern, die sich weder das Sujet ihrer Kunst noch die Art ihres künstlerischen Ausdrucks vorschreiben lassen.

Ich habe solche Orientierungen auch bei Philosophen gefunden. Sie stellen sich mir als Glieder einer Ahnenreihe dar, ohne dass ich die Sicherheit hätte, dass die Nachkommen immer genügend von ihren Vorgängern "im Geiste" wussten. Ich gebe diese Ahnenreihe hier mit vielen Lücken in einer noch vorläufigen Aufzählung wieder, und beginne mit den altgriechischen Vorsokratikern, unter ihnen Xenophanes und Heraklit und die Atomisten Leukipp und Demokrit. Ich setze fort mit ihren Nachfolgern, vor allem Sokrates und Epikur, aber auch Plutarch, und mit dem Römer Mark Aurel. In die Ahnenreihe gehört auch die Weisheitsliteratur der alten orientalischen Religionen, z.B. aus dem Alten Testament (dem heiligen Buch der Juden) die Autoren des Hohen Liedes, des Buches Hiob, des Buches Kohelet ("Prediger") und des Buches der Weisheit, dazu auch noch manche Psalmen und Sprüche. Von den christlichen Denkern des Mittelalters nenne ich nur Wilhelm von Ockham und Nikolaus von Kues, und mit Beginn der Neuzeit gehört dazu der Geschichtenerzähler Rabelais, der Philosoph Michel de Montaigne, später auch David Hume, Voltaire, in Deutschland dann wieder (relativ spät erst!) Ludwig Feuerbach, in heutiger Zeit: Karl R. Popper, Ernst Topitsch, Odo Marquard, daneben auch der Pole Stanislaw Lem, der eben nicht nur ein berühmter Science-Fiction-Autor, sondern auch ein sehr moderner und kluger Philosoph ist. Diese Reihe ist alles andere als vollständig, sie hat sogar sehr nötig, ergänzt zu werden, ist vielleicht auch in dem einen oder anderen Falle zu korrigieren. Aber sie macht wohl genügend deutlich, was ich, im Bereich der Philosophie, unter einer alternativen Orientierung verstehe, von der ich meine, dass sie auch für Schizophrene nicht pathogen wäre! Inhaltlich geht es um eine Vielfalt von Anschauungen, zu denen auch das Bekenntnis zum Pluralismus, zum Realismus und zum Humanismus gehört, um erst einmal nur diese drei Stichworte zu geben.

Ohne die gesuchte Gesamtorientierung im einzelnen abzuleiten (damit befasse ich mich ja in der Gesamtheit der hier von mir vorgelegten Beiträge), will ich doch einige ihrer Grundzüge wenigstens andeuten. Ich beginne mit dem Realismus. Um auf die kartographische Analogie zurückzukommen, wäre zu fragen: sollte man nicht als erstes versuchen, das Gelände (die realen Gegebenheiten) genauer zu erkunden, um erst auf dieser Basis dann auch bessere "Landkarten" ausarbeiten und anbieten zu können? In ihnen wären dann in der Art einer "Legende" auch einige Benutzerregeln aufzuführen: Symbole für verschiedene Arten von Gegebenheiten, Hinweise auf Spezialkarten für bestimmte Hinsichten, auf Detail- und Übersichtskarten. Auch praktische Hinweise wären nützlich, wie z.B. vor langen Wanderungen die Kondition zu überprüfen und zu verbessern, sich richtig auszurüsten, das Gelände in Etappen allmählich zu erkunden, bei Gelegenheit andere Wanderer zu fragen. Wieder allgemeiner formuliert gilt es, in der Selbst- und Fremdorientierung mit Vorsicht und Rücksicht vorzugehen, umsichtig zu handeln, die Umgebung und schließlich die Welt in verschiedenen Hinsichten zu erkennen, anderen Menschen gegenüber die eigenen Absichten deutlich zu machen und Nachsicht gegenüber den Fehlern der anderen zu üben. Dass es in dieser Aufzählung immer wieder um eine je verschiedene Sicht ging, ist nicht zufällig. Denn zur Selbstorientierung ist es als erstes notwendig, sich genügend umzuschauen und nicht einfach stur in einer Richtung weiterzugehen. Um aber andere orientieren zu können, sollte man deren Ziele und Handlungsmöglichkeiten einigermaßen gut einschätzen können. Schließlich ist Orientierung immer auch kommunikativ: es gilt dabei, Kompromisse mit anderen und mit sich selbst zu schließen, übertriebene Gegensätze abzuschwächen, die konfligierenden Güter sorgsam gegeneinander abzuwägen, das Unabänderliche hinzunehmen oder auch nur zu ignorieren. Zur Orientierung gehört auch gegenseitige Toleranz, vor allem dem Fremden und in manchen Hinsichten Anderen gegenüber; gegenseitige Unterstützung in der Lebensbewältigung, Solidarität mit denen, die mehr Hilfe brauchen als sie selber Hilfe oder Bezahlung geben können, Rücksicht auf die Nachkommenden, nachhaltige Tradierbarkeit der Orientierung auch über mehrere Generationen.

Die gesuchten Orientierungen sollten in einem gewissen Maße kulturkreisübergreifend und in andere Sprachen und Denkweisen übersetzbar sein, ggf. unter Nutzung der einen oder anderen "lingua franca", z.B. des Englischen, das schon als internationale Verkehrssprache akzeptiert ist. Die in der Orientierung verwendeten Begriffe sollten möglichst selbstexplikativ sein, d.h. sich selber erklären wie die weltweit aus sich selbst verständlichen Piktogramme der großen Flughäfen und Metropolen. Statt selber zum Streit um materielle Ressourcen oder zur Konkurrenz um geistige Auserwähltheit aufzuhetzen, sollte die gesuchte Orientierung eher vermittelnd und schlichtend wirksam werden, unter Rekurs auf allgemeine Menschenrechte und Menschenpflichten, und in praktisch-politischer Hinsicht in Verbindung mit allseits anerkannten globalen Institutionen. Vor dem Hintergrund solcher Globalisierung wäre dann die eigene Kultur ein den in ihr lebenden Menschen nächstliegendes Beispiel für eine sowohl kulturkreisspezifische als auch -übergreifende Orientierung, natürlich in aller Welt immer noch zum Besseren hin korrigierbar. Das waren viele gute Wünsche, aber mit dem Wünschen kann ja das Ändern einen Anfang nehmen!