1. Autoritäten, die an den Gesetzen eines Rechtsstaates orientiert sind, z.B. der König in einer konstitutionellen Monarchie, und insbesondere frei gewählte Repräsentanten einer Nation, z.B. ein deutscher Bundespräsident, haben in der Regel wenig oder gar keine Angst vor Verschwörern. Charakteristisch für den ersten Fall ist die Königin Margarethe von Dänemark: sie konnte es sich erlauben, ohne Bewacher-Eskorte mit ihrem Fahrrad in Kopenhagen einkaufen zu fahren, weil sie sich ihrer Akzeptanz durch das dänische Volk und ihres Schutzes durch die örtliche Polizei und die Öffentlichkeit sicher sein konnte. Sie vertraute ihren Untertanen, und diese waren in einem Mindestmaß loyal gegenüber ihrer Königin.
2. Am meisten Angst vor Verschwörern haben dagegen alleinherrschende Diktatoren, vor allem wenn sie selber mittels einer Verschwörung (eines konservativen Staatsstreichs von oben, eines Putschs einer Offiziersgruppe, einer fundamentalistischen Revolution von unten) an die Macht gekommen waren, genauer: die Macht ergriffen oder an sich gerissen hatten. Progressive Staatsstreiche oder Revolutionen, die sich an den Bedürfnissen des Volkes orientieren, haben dagegen zunächst weniger das Aufkommen von Verschwörungen zu befürchten. Dennoch gilt: Usurpatoren der Macht trauen jedem anderen das zu, was sie zuvor selber getan hatten, nämlich sich mit anderen zu verschwören. Und so haben sie Angst vor Verschwörern und Verschwörungen.
3. Diktatoren haben auch allen Anlass zu solchen Ängsten, denn gegen einen übermächtigen und brutalen Alleinherrscher bleibt für die von ihm Unterdrückten manchmal als letztes Mittel, sogar als Mittel der Wahl, nur die Verschwörung: der notwendigerweise heimliche und verschworene Widerstand (etwa im Sinne des "Rütli-Schwurs") und schließlich der Gegenangriff derer, denen ihre Freiheit so viel wert ist, dass sie bereit sind, dafür ihr Leben einzusetzen, um den Diktator zu entmachten oder notfalls zu töten. Selbst Menschenrechtler können so weit gehen, einen Tyrannenmord nicht nur zu entschuldigen, sondern als akzeptabel und sogar als geboten anzusehen. Ich selber habe eine hohe Achtung vor Verschwörern, für die der Tyrannenmord die ultima ratio ist und die danach handeln. Es gibt literarische und historische Beispiele für solche gebotenen Verschwörungen: so z.B. der von Hermann Melville in seinem Buch "Moby Dick" geschilderte Versuch einer Meuterei gegen den verrückten Kapitän Ahab, der dann allerdings nicht gelang, und die Meuterei im Film "Die Caine war ihr Schicksal", wo sich ein ebenfalls verrückter Kapitän gegen die Mannschaft stellt und so die Verschwörung provoziert. In solchen Fällen ist Zivilcourage geradezu gefordert, aber nur wenige Menschen, nur starke Charaktere bringen sie wirklich auf. Für die meisten Menschen scheint es immer noch zu gelten, dass ein Widerstand gegen die Kommandogewalt prinzipiell verboten ist, ohne dabei zu bedenken, ob denn die Kommando- oder Staatsgewalt rechtmäßig ist. Deshalb sollte klar gemacht werden: es gibt ein Recht der Angehörigen eines Volkes, sich gegen einen Diktator und Tyrannen zu wehren, sich gegen ihn zu verschwören und ihn notfalls zu töten. Dies bleibt vor allem dann als letzte Möglichkeit, wenn der bloße öffentliche Protest gegen einen Diktator und seine Ideologie nur zur Verschärfung seiner Alleinherrschaft führt.
4. Doch wer ist wirklich ein Tyrann? Denn es könnte einer zum Tyrannen erklärt worden sein, nur um ihn mit gutem Gewissen ermorden zu können. So sprachen Gegenreformatoren von der "Tyrannei" der Aufklärung, und Revolutionen gegen Alleinherrscher können bekämpft werden mit dem scheinheilig vorgebrachten Ziel, eine künftige Diktatur der Revolutionäre zu verhindern. Und manchmal stimmt es sogar, dass die Revolutionäre von gestern die Diktatoren von morgen sind! Dann sind freiheitlich gesinnte Menschen gehalten, sich ein zweites Mal zu verschwören, diesmal gegen die "revolutionären" Alleinherrscher, die sich zuvor gegen die "konservativen" Alleinherrscher verschworen hatten!
5. Zum Vorbereiten und zur Durchführung einer Verschwörung gehört politisches Urteilsvermögen, aber auch jugendlicher Mut. Männliche Jugendliche verschwören sich gern: gegen einen unbeliebten Lehrer, gegen ihre eigenen Väter, gegen eine herrschende Partei oder Institution. Sie üben dabei das Neinsagen und das Ausdenken von Alternativen zum Abgelehnten, ähnlich wie sie auch die Gotteslästerung und andere Majestätsbeleidigungen riskieren, was dann als verschwörerisch geahndet werden kann. Die Jugendlichen können dann die Unterstützung durch entschlossene Erwachsene gebrauchen und auch die Opferbereitschaft der schon Alten, die ihr ohnehin begrenztes Leben für eine gute Sache aufs Spiel zu setzen bereit sind. Außerdem braucht man für eine Verschwörung die Bereitschaft und Fähigkeit zur Teamarbeit, dazu auch Verschwiegenheit, Verlässlichkeit und eine genügende Risikobereitschaft. Denn nicht jede Verschwörung gelingt. Hitler und Stalin konnten leider nicht umgebracht werden, und auch Saddam Hussein und Milošević haben bisher alle Absetzungs- und Ausschaltungsversuche überstanden. Eine sehr originelle Methode zur Entsorgung eines angehenden Tyrannen beschreibt James Thurber in seiner Kurzgeschichte "The greatest man of the world". Sie sollten die Geschichte mal lesen!
6. Diktatoren haben also genügend Anlass, sich vor Verschwörern zu fürchten. Sie schützen sich gegen Verschwörungen durch den Aufbau und rücksichtslosen Einsatz einer Geheimpolizei, die solche Verschwörungen rechtzeitig aufdecken und verhindern soll, und durch vorsorglichen Terror, der den prospektiven Verschwörern den Schneid abkaufen soll, und der ihre möglichen Unterstützer einschüchtern und die Verschwörer von ihnen isolieren soll. Diktatoren missbilligen und ahnden schon bloße Abweichungen von ihrer Parteilinie und herrschenden Lehre, und sie dulden auch nicht das Verhalten von Menschen, die nur vermeiden wollen, zum Mitläufer des Systems zu werden. Wenn Diktatoren einmal an der Macht sind, neigen sie dazu, bloße Abweichler oder einfach Menschen, die eine eigene Meinung vertreten, zu Verschwörern zu erklären, ihnen eine Verschwörung zu unterstellen. Warum wohl? Ganz einfach deshalb, weil sie es dann leichter als selbstverständlich hinstellen können, dass man solche sogenannten "Verschwörer" verfolgen und bekämpfen muss, sie festnehmen und gefangen halten darf, sie ggf. auch foltern darf, um sie zur Preisgabe der Namen sogenannter "Mitverschwörer" zu zwingen und darüber hinaus zu beliebigen Denunziationen anderer "Verdächtigter" anzustiften, und dass man sie schließlich töten muss. Mit "Verschwörern" kann man dies alles viel leichter tun.
7. Die rücksichtslose und fanatische Durchsetzung eigener Ziele kann einmünden in eine paranoide Entwicklung des Diktators, der schließlich sogar seine ältesten und engsten Mitstreiter verdächtigt, sich gegen ihn verschworen zu haben. So kann es dazu kommen, dass eine erfolgreiche Verschwörung, wenn sie einmal selber an der Macht ist, sich gegen ihr eigenes Anliegen wendet und anderen die Freiheit nimmt, für die sie selber so hart gekämpft hatte. Erfolgreiche Revolutionäre haben allen Anlass, nicht nur eine Konterrevolution von Seiten der Konservativen zu fürchten, sondern auch eine diktatorisch-konservative Wendung in der eigenen Führung. Der Diktator kann seine revolutionären Mitkämpfer zu Rechts- oder Linksabweichlern und schließlich zu Verschwörern erklären. Denn mit dem Begriff "Verschwörung" kann man umgehen wie mit den Begriffen "Diktatur" und "Ideologie". Man kann diese Sachbegriffe auch als Schimpfwörter verwenden, mit denen dann auch gute Absichten oder sogar gute Mittel geschmäht und verteufelt werden können. Diktatoren, Ideologen und Verschwörer sind dann immer die anderen!
8. Mit Geheimpolizei und Terror schüren die Diktatoren unter ihren Gegnern, aber auch unter bloßen Abweichlern oder auch nur Menschen mit eigener Meinung die Angst, sie könnten zu Verschwörern erklärt und dann als solche auch verfolgt, gefoltert und ermordet werden. Zumindest müssen als Verschwörer verdächtigte Menschen befürchten, dass sie inhaftiert, ausgewiesen oder vertrieben werden könnten. Das alles kann Menschen dazu bringen, wie die drei Affen der Legende irgendwelche Missstände nicht mehr zu sehen, nicht mehr auf die Klagen der Opfer zu hören, nicht mehr mit anderen darüber zu sprechen und schon gar nichts mehr dagegen zu tun. Ein vierter Affe wäre dann der, der seine Hände zum Gebet verschränkt oder in die Hosentaschen steckt! Man kann eben auch zu loyal gegenüber Gewaltherrschern sein, nämlich vor ihnen kuschen, statt sich gegen sie zu verschwören!
So weit mein Versuch einer allgemeinen Theorie der Verschwörung.