2.4.9.3. Es gibt realistische Befürchtungen, die politisch ausgenutzt werden

Es gibt immer wieder schlimme Not, Naturkatastrophen, Kriege, Seuchen, Armut und Hunger, die "apokalyptischen Reiter". In ihrer Hilflosigkeit suchen die Notleidenden nach Gründen und noch mehr nach Schuldigen für ihr Elend. Sie gehen dabei auf Erklärungsmuster zurück, die ihnen die religiöse Tradition, der Aberglaube oder aktuell umlaufende Gerüchte liefern. Die in realer Not begründeten Verschwörungsängste können auch in seelisch gesunden Menschen aufkommen bzw. propagandistisch aufgebauscht und sogar erzeugt werden. Dann werden den notleidenden Menschen Erklärungen angeboten, a) von den eigenen Herrschern, die für die Notlagen selber verantwortlich waren, aber davon abzulenken versuchen, indem sie revolutionäre Verschwörer dafür verantwortlich machen, und b) von deren Kritikern und innerstaatlichen Gegnern, die selber nach der Macht streben, und dies wiederum als Reaktion auf konservative Verschwörungen zu legitimieren versuchen. Beide Gruppen neigen dazu, alles Elend und alle Not auf das Wirken anderer, fremder, böser Mächte zurückzuführen, auf schädliche Einflüsse äußerer Feinde oder von Verschwörern im eigenen Land, und so produzieren sie Verschwörungsideologien. Die noch Mächtigen und die mit ihnen konkurrierenden Usurpatoren bieten sich jeweils selbst als Helfer in der Not und sogar als Erlöser von allem Übel an. Dass sie zu diesem Zweck die angeblichen "Verschwörer" und ihre "Helfershelfer", in Wirklichkeit ihre bloßen Gegner, mit allen, auch terroristischen Mitteln zu vernichten suchen, wird von ihnen mit der Gefährlichkeit der Verschwörer begründet und ideologisch legitimiert.

Ich habe an anderer Stelle (2.2.5.1. Jüdische und christliche Verschwörungsmythen) die religiösen Hintergründe von Verschwörungsverdächtigungen ausführlich diskutiert. Inzwischen sind die Ängste vor religionsfeindlichen Verschwörern weitgehend von anderen Ängsten abgelöst worden. Heute sind es nicht so sehr die Glaubensfeinde, die sich gegen die Menschen verschworen haben, sondern anonyme Mächte, die mit ihren Geheimdiensten überall präsent sind, oder die mit radioaktiver Strahlung und Umweltgiften sogar künftige Generationen bedrohen. Darauf bezogene Ängste sind nicht einmal so irrational, sondern können in realen Gefahren begründet sein. Tschernobyl war tatsächlich eine Katastrophe, und einige der großen Chemie-Unfälle (z.B. in Seveso in Italien, und ein anderer in Indien) sind uns noch in schlimmer Erinnerung. Aber es waren Unfälle, keine Verschwörungen. Aber auch heute noch kann der eine oder andere Mensch tatsächlich Anlass haben, sich vor einem Geheimdienst zu fürchten, wenn er etwa gegen die Interessen eines Staates oder einer mächtigen Institution handelt, und auch die Rache (Vendetta) der Mafia kann lebensgefährlich sein.

Von Gewalt, Not und Unterdrückung am meisten betroffen sind aber weiterhin die Armen, Schwachen und Hilflosen. Wenn sie sich in ihrer Existenz bedroht fühlen, neigen sie dazu, dafür andere Menschen verantwortlich zu machen. Oft mit gutem Recht, denn neben einer schicksalhaft zufälligen oder einer selbstverschuldeten Not gibt es auch eine Armut als Folge davon, dass diese Menschen rücksichtslos ausgenutzt, ausgebeutet und geradezu ausgeraubt worden waren. Hilflos fühlen sich somit vor allem diejenigen, die tatsächlich unterdrückt und hilflos gemacht worden sind. Je ohnmächtiger der Mensch, um so unüberwindlicher erscheinen ihm seine Unterdrücker. Dann bietet sich der Ausweg an (und die Unterdrücker helfen gerne, diesen Ausweg zu finden), alle Not und alles Elend auf das Wirken anderer und fremder böser Mächte zurückzuführen, auf schädliche Einflüsse von außen und auf deren Fünfte Kolonnen im Herrschaftsbereich der Unterdrücker selbst. Eine Hilfe erwarten sie dagegen von ihren Unterdrückern selbst, die sich auch gern als Helfer in der Not anbieten und als Erlöser von allem Übel darstellen. Es werden somit nicht die eigenen Herrscher und damit die eigentlichen Täter als Verursacher von Not und Elend erkannt, sondern an allem schuld sind deren Widersacher oder irgendwelche dunklen Mächte (die Ungläubigen, der Teufel, die Juden, die Freimaurer, das "Kapital", die Sozis). Die repressive kirchliche, staatliche und heute auch wirtschaftliche Macht findet leicht Sündenböcke - zur Not erfindet sie einfach welche! - die beschuldigt werden, für alles Negative verantwortlich zu sein. So werden die Unterdrückten zusätzlich zu Opfern von Ideologien, mit denen der jeweilige Herrscher von seiner eigenen Machtbesessenheit und Brutalität auf die alles Übel verursachenden Staats- und Glaubensfeinde ablenken kann. Sehr anschaulich schildert das der Autor und Karikaturist James Thurber in seiner Fabel von den "Kaninchen, die an allem schuld waren". Solche Sündenböcke können auch zu gefährlichen Verschwörern erklärt werden: das kann die Notleidenden und die Verrückten sogar überzeugen und sie dazu einladen, selber bei der Verfolgung von "Sündenböcken", z.B. angeblichen jüdischen "Brunnenvergiftern" mitzumachen, statt sich gegen die eigenen Diktatoren zu verbünden, von denen sie gegen die "Sündenböcke" aufgehetzt worden waren, so auch gegen Menschen, die sich wegen ihres Andersseins, ihrer Verrücktheit als besonders dafür geeignet anbieten.