10.2.4.6.3. Anspruchshaltungen und Ausnutzungstendenzen

Zur allgemeineren Begründung der hier vorgebrachten Hypothese werde ich nun einen kleinen Exkurs in die Psychologie machen, mit Überlegungen zur Entwicklung von Mutter- oder Eltern-Kind-Beziehungen im allgemeinen und insbesondere bezogen auf später als "Soziopathen" diagnostizierte Menschen. Man kann davon ausgehen, dass es leicht ist, jemanden ganz lieb und nett zu finden, der oder die einem gerade etwas Gutes tut. Dieses momentane Gefühl hat aber nur wenig zu tun mit der eigenen beständig positiven Zuwendung zu jemandem und mit dem verlässlich liebevollen Verhalten, das man als Lieben im Sinne einer "schenkenden Tugend" versteht. Ein Kind empfindet natürlich sehr deutlich und zugleich als sehr angenehm das Liebsein seiner Mutter und es will sogar immer noch mehr davon haben. Aber kann es als kleines Kind schon seine Mutter lieben? Dann müsste es ja darauf bedacht sein, ihr nicht zuviel abzufordern, sie nicht zu überfordern, ihr nicht auf den Nerv zu gehen, sie nicht mit beispielsweise lautem Schreien in der Öffentlichkeit unter Druck zu setzen und zu erpressen! Derart seine Mutter zu lieben ist ein Säugling überhaupt noch nicht imstande (das muss er auch noch gar nicht können!), und auch ein Kleinkind muss es erst allmählich lernen. Es lernt dies nicht schon dadurch, dass es im Geliebtwerden das Liebenkönnen seiner Mutter erfährt und sich dann an ihrem Modell orientiert, obwohl es natürlich einem Kind gut tut und auch förderlich für ein Kind ist, geliebt zu werden. Aber ein Kind, dessen Wünsche immer nur dann befriedigt werden, wenn es mit Quengeln und schließlich Schreien die Erfüllung einfordert, lernt dabei zunächst eben nur dieses Quengeln, Schreien und imperative Einfordern. Es kommt noch gar nicht auf den Gedanken, selber einem anderen Menschen, noch nicht mal seiner Mutter, etwas Gutes zu tun, jedenfalls nicht in der Weise, dass es sich das vornehmen und dann bewusst tun könnte. Wenn ein Säugling seiner Mutter oder einer anderen Beziehungsperson "etwas Gutes tut", dann auf eine noch nicht bewusste, sogar ungelernte Weise, z.B. mit seinem Lächeln (ohne der Mutter zuliebe lächeln zu "wollen"!), mit seiner Niedlichkeit (von der er selber noch keine Ahnung hat!), mit seiner Zufriedenheit nach dem Gestillt- und Gesäubertwerden, mit seinem Strampeln im warmen Wasser beim Gebadetwerden, mit seinem entspannten Schlaf, mit seinem Gedeihen. Neben seinem ersten spontanen, manchmal noch auf eine Gesichtshälfte begrenzten In-die-Gegend-Lächeln und später seinem bezaubernden Zurücklächeln und gezielten Anlächeln gibt es beim Säugling auch schon so etwas wie eine erste Nachahmung von Mütterlichkeit (auch Väterlichkeit!), z.B. wenn das fast schon satte Kind beim Gefüttertwerden selber nach dem vollen Löffel greift und ihn in den daraufhin "hungrig" geöffneten Mund der Mutter schiebt. Will das Baby damit "Gutes tun"? Wohl nicht, es spielt einfach, und zwar ein frühes soziales Spiel mit Rollenwechsel, und es tut dies vor allem dann, wenn es dafür in der Mutter eine Mitspielerin gefunden hat. Aber es kann dabei auch erfahren, dass dies seiner Mutter Spaß macht, eben wenn sie mitspielt (mit "hmmm!", "lecker!", wenn sie sich genüsslich die Lippen ableckt usw.) und sich über das Gefüttertwerden sichtlich freut. Diese Rückmeldung der "guten Tat" des Babys trägt natürlich entscheidend dazu bei, solch spielerisches Baby-Verhalten zu verstärken (= seine Häufigkeit zu erhöhen), wobei in Kauf zu nehmen ist, dass das Füttern dann mehr Zeit kostet und überall mehr Breichen-Spuren hinterlässt.

Allgemeiner formuliert: einem Anderen etwas Gutes zu tun lernt ein Kind am besten, indem es dies in Nachahmung seiner Mutter oder einfach zufällig selber tut, und wenn dieses "Gutes-Tun" des Kindes durch ein Mitmachen seiner Mutter, durch den Ausdruck ihrer Freude und Dankbarkeit, oder durch eine gleichsinnige Erwiderung positiv beantwortet und damit bekräftigt wird. Einem älter gewordenen Kind kann man sogar sagen, dass man das, was das Kind gerade getan hat, wirklich lieb findet, sogar (noch später!), dass man so etwas gern einmal wieder haben möchte. Eine Mutter darf ihrem Kind gegenüber sogar Wünsche äußern, auch gegenüber ihrem Mann! Denn wie anders sollte ein Kind herausfinden, was der Andere gern haben möchte, außer dass der Andere ihm zu verstehen gibt, wie er sich freut oder dankbar ist, wenn das Kind beispielsweise ihm hilft, ihm etwas holt, etwas schenkt? Eine Mutter, die nur darauf aus ist, alle Wünsche ihres Kindes prompt zu erfüllen, kann bei einem sehr aktiven, expansiv fordernden Kind manchmal lange darauf warten, dass das Kind sich seinerseits um ihre Zufriedenheit bemüht. Kindliche Machos, Alleinherrscher und Diktatoren gewöhnen sich leicht daran, von ihrer Mutter bedient zu werden. Eine freundliche Gegenleistung anzubieten müssen die Kleinen erst lernen, und den Größeren muss man das notfalls abfordern - oder aber selber damit aufhören, sie in allem zu bedienen und all ihren Forderungen nachzugeben. Zum Liebenkönnen eines Kindes gehört nämlich auch, der Mutter zuliebe allmählich mehr und mehr auf ihre Präsenz und Dienstbarkeit verzichten zu können, und das nicht nur am Muttertag!

Ein Kind, für das außer seiner Mutter auch andere Beziehungspersonen wie der Vater und andere Erwachsene verfügbar sind und das damit verbunden einen Zuwachs an Sicherheit auch ohne durchgehende Präsenz seiner Mutter erfährt, kann dann allmählich immer besser ertragen, wenn seine Mutter mal für eine kurze und dann später immer längere Zeit nicht in seiner unmittelbaren Nähe ist. Die Mutter selber (aber das gilt später auch für andere Beziehungspersonen) muss dann auch - ganz allmählich häufiger und weitergehend - ihrem Kind zumuten, dass seine Wünsche nicht sofort, nicht bis zur totalen Befriedigung, nicht genau in der gerade vom Kind gewünschten Weise (und nicht nur durch die Mutter!) erfüllt werden. Solch ein zunächst nur vorübergehender und nicht zu krasser Befriedigungsaufschub erleichtert es dem Kind, allmählich auch mit einer sozialen Umwelt zurechtzukommen, die vielleicht gar nicht mehr so mütterlich-fürsorglich ist, und das kann auch der Mutter, die vielleicht inzwischen ein weiteres Kind bekommen hat und einfach auch andere Verpflichtungen und vor allem auch eigene Wünsche hat, das Leben leichter machen. Insofern heißt "seine Mutter lieben" auch, auf die Dauerpräsenz der Mutter (oder eines adäquaten Mutterersatzes) und auf die sofortige Erfüllung aller Wünsche (durch wen auch immer) allmählich verzichten zu lernen. Denn es tut einer Mutter und auch einem Vater wirklich gut, mal allein sein zu können, nicht schon wieder "springen zu müssen", und irgendwann mit der Fähigkeit und vor allem Bereitschaft eines größer gewordenen Kindes oder Jugendlichen rechnen zu können, das Notwendige selber zu tun.