2.4.10.6.5. Monologe vor Zuhörern

Ich will nun versuchen, einige der schon gesammelten Befunde und daraus abgeleiteten Hypothesen in einem neuen Zusammenhang aufzugreifen, um auf diese Weise eine weitere Linie der Kontinuität in Hitlers Leben plausibel zu machen. Sie wird besser verständlich, wenn wir dazu als erstes noch einmal kurz auf Adolf Hitlers Vater Aloys zurückkommen. Hitler selber schildert seinen Vater als streng, und so ist anzunehmen, dass Aloys seinem Adolf mehr als einmal eine Standpauke gehalten hatte und als Familienüberhaupt auch seiner Frau (Adolfs Mutter) gesagt hatte, "wo's lang geht". Im Temperament ein leicht aufbrausender, im häuslichen Leben recht autoritärer, in der Sicht seines Sohnes Adolf sogar ein böser Vater, war Aloys seiner Gesinnung nach eher ein aufgeklärter liberaler Staatsbürger, dabei auch antiklerikal in einer freigeistigen Art. Sein Schwadronieren über die Pfaffen als vom päpstlichen Rom aus „ultramontan“ gesteuerte Kirchenleute, sowie an ihren politischen Parteigängern, wird er wohl nicht auf Stammtischreden begrenzt haben, sondern er wird sich darüber auch zu Hause geäußert haben, und dies ist wohl auch eine frühe Wurzel von Hitlers zunehmender Distanz zu den christlichen Kirchen, wenngleich der Katholizismus seiner Mutter sicher früher und tiefer prägend gewesen ist, worauf ich noch zurückkommen werde. Aber ein ganz bestimmter Einfluss von Aloys auf Adolf blieb für diesen zeitlebens bedeutsam: wie schon sein Vater Aloys entwickelte sich auch Adolf zu einem, der allein das Sagen hatte, der das große Wort führte und alles zu bestimmen suchte. So war Adolf schon als Kind ein kleiner Macho, der sich verbal durchsetzen konnte und sich später zu einem Chauvi weiter entwickelte. Zwar hatte Hitler als Schüler und in seiner etwas lang hingezogenen Pubertät eine Gegenposition zu seinem Vater eingenommen, aber das schließt keineswegs aus, dass er sich schon vorher mit seinem Vater in Hinsicht auf dessen verbale Expansivität identifiziert hatte.

Hitler war nicht einfach nur vom Temperament her durchsetzungsfähig, sondern er konnte dazu auch eine spezifische Begabung nutzen: auch er war redebegabt und konnte schon als Kind erfolgreich argumentieren und gegenüber seinen Spielkameraden und wohl auch gegenüber seiner Mutter das letzte Wort behalten. Um ihr gegenüber seine Wünsche durchzusetzen, lernte er auch zu schmeicheln und ihr nach dem Munde zu reden, und dabei half ihm sein sprachlicher Einfallsreichtum und sein bemerkenswert gutes Gedächtnis. Lassen wir Hitlers Karriere als Redner mit dem relativ frühesten Vorläufer beginnen, und stellen uns vor, wie Hitlers Mutter Klara den wichtigtuerischen Geschichten ihres kleinen Adolf freundlich zuhört, so wie viele Eltern dies tun, wenn ihr kleiner Sprössling das von ihm Erlebte oder auch nur Gehörte (vielleicht nur halb Verstandene) in so drolliger Weise wiedergibt, dass man an sich halten muss, um nicht laut darüber zu lachen (was den Kleinen doch sehr beschämen könnte). Was könnte Adolf ihr erzählt haben? Vielleicht quengelte er über seinen zu strengen und laute Strafpredigten haltenden Vater, über irgendwelche Verwandten oder Nachbarn, die sich über den kleinen Klugscheißer Adolf lustig machten. Seine Mutter aber nahm sicher alles, was er sagte, geduldig und ganz wohlwollend auf. Es ist mir aus der Literatur über Hitler nicht erinnerlich, ob er schon als kleiner Junge seine Mutter mit kindlichen Angebergeschichten eingedeckt hat. Aber ich gehe davon aus, dass sie ihm in diesem Falle amüsiert und zugleich geduldig zugehört hat, ohne jeden Versuch, diesen kindlichen Aufschneidereien etwas entgegenzusetzen oder in ein klärendes Zwiegespräch einmünden zu lassen. Von daher kann ich mir einen prahlerisch-dauerredenden kleinen Hitler ganz gut vorstellen. Halten wir fest: ein kleiner Junge, der sich schlecht behandelt fühlt, beklagt sich darüber in einem ausdauernden Lamentieren bei seiner geduldig zuhörenden und mit tröstenden Worten und Gesten sein Selbstbewusstsein wieder aufbauenden Mutter. Wohlgemerkt: die Mutter hörte zu und der kleine Junge schimpfte über einen immer so laut schimpfenden Vater. Sein Vater Aloys dagegen war keineswegs bereit, sich Adolfs Gerede lange anzuhören, und er dachte gar nicht daran, eine ihm zugeschriebene Rolle als Zuhörer anzunehmen, denn zu Hause war er weiterhin der Familienvorstand, der selber Vorschriften machte und Reden hielt.

In diesem Drei-Personen-Spiel zwischen Adolf, seiner Mutter und seinem Vater war der letztere aber gar nicht immer anwesend, sondern trat oft nur fiktiv, als beklagte und beschimpfte Person auf, als einer, der dann, wenn er mal da ist, so streng erzieht. Von diesen drei Personen sind zwei Personen (Freud sprach von "Objekten") in der Folgezeit austauschbar, nämlich die nachgiebig-liebe Mutter und der streng-böse Vater, während die dritte Person, der anfangs kleine Adolf, weiterhin im Spiel bleibt und mit dem Größer- und Älterwerden die Erstobjekte durch Nachobjekte ersetzt: einerseits in Personen, die wie die Mutter geliebt und ausgenutzt werden können, andererseits in solche, die wie der Vater imponieren, die gefürchtet und irgendwann auch gehasst werden. Wir werden später sehen, dass diese Objekte weiterhin austauschbar bleiben, dass also die erlebten Personen wechseln konnten, während das Spiel zu Dritt, in das sie von Adolf Hitler einbezogen wurden, eine hohe Kontinuität bewahrte bis zu Hitlers Tod. Wer folgte auf die Mutter? Es muss jemand gewesen sein, der (oder es waren welche, die) für Aufschneidereien eines kleinen Jungen ein offenes Ohr hatte(n). Zunächst waren es wohl seine kleinen Spielkameraden, jünger und braver als er selbst, denen er mit seinen "Räuberpistolen" imponieren konnte, die unter seiner Führung mit ihm draußen herumstromerten und die er in von ihm selbst ausgedachte und angeleitete Spiele einbeziehen konnte. Schon dabei galt das "Führerprinzip", das übrigens in den meisten Banden kleiner Jungen gilt: einer hat das Sagen, und die anderen folgen ihm, und etwaige Diskussionen und sogar Abstimmungen haben bekanntlich höchstens den Effekt, dass ein anderer Junge dann das Sagen hat. Und wer folgte auf den Vater? Zunächst konnte es wohl ein Anführer der Jungen einer anderen Bande sein, der dort den Räuberhauptmann und obersten Bestimmter spielte. Aber in seiner eigenen Gruppe war es unbestritten der kleine Adolf, der selber schon in Phantasie und Spiel als der Größte und als Führer agierte, und schon dazu neigte, monologisch seine eigenen Spielideen durchzusetzen.