Als katholisch erzogenes Kind hatte Adolf nicht nur Gelegenheiten, sich vom predigenden Gemeindepfarrer imponieren zu lassen, sondern er konnte bei besonderen Anlässen auch andere katholische Geistliche bestaunen, z.B. den Weihbischof bei der Firmung und andere auswärtige Geistliche etwa im Rahmen einer Fastenpredigt. Nach solchem Predigtgottesdienst konnte der größer gewordene Adolf vor seinen Spielfreunden selber Pfarrer spielen und ihnen eine begeisternde Predigt halten. So ist die hitlersche Redepraxis zumindest in Ton und Diktion wohl von der Buß- und Fastenpredigt abzuleiten, und ein im Einschätzen von gesprochener und geschriebener Sprache sehr kompetenter Zeitgenosse, der Romanist Viktor Klemperer ("Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten", Aufbau-Verlag, Berlin, 1995) charakterisierte Hitlers Stimme als die "eines fanatischen Predigers ... (mit) pastoraler Gesalbtheit".
Das nächste Modell monologischen Redens, an dem Hitler sich orientieren konnte, war der Lehrer, der hinter dem Pult stand wie der Pfarrer in der Kanzel, der aber im Unterschied dazu auf dem ohnehin schon erhöhten Podest vor der Tafel beim Erklären auch hin und her gehen konnte, und dabei (wiederum wie schon der Pfarrer) so lange alleine reden durfte, wie er wollte. Kinder durften damals nur dann etwas sagen (manchmal auch im Chor!) wenn sie vom Lehrer eigens dazu aufgerufen worden waren, oder wenn sie sich mit erhobenem Zeigefinger gemeldet hatten und dann auch tatsächlich drangenommen wurden. Unter den Lehrern gab es damals sicher auch einige, die eine ganze Schulstunde lang ganz alleine reden konnten, ohne Unterbrechung, sogar länger als der Pfarrer in der (relativen kurzen) katholischen Predigt. Während dieser langen Schulstunde musste Adolf schweigen. Dafür hat er sich als Erwachsener aufs Ärgste gerächt!
Aber während des Schweigenmüssens in der Unterrichtsstunde konnte Adolf auch recht ungestört seinen eigenen Gedanken und Phantasien nachgehen; dann konnte er, orientiert an den Büchern, in denen er während er seiner Freizeit schmökerte, abenteuerliche Pläne schmieden, was er selber nach der Schule unternehmen wollte: Abenteuer erleben etwa wie Karl May alias Old Shatterhand, der übrigens auch ein Meister der wirkungsvollen Rede war und manche Probleme schon durch die Überzeugungskraft seiner Argumente lösen konnte, indem er die edelsten Motive seiner möglichen Helfer ansprach oder es sogar schaffte, seine Gegner umzustimmen, sie zu überreden oder hinters Licht zu führen. So etwas konnte Adolf mit seinem Kumpanen spielerisch nachvollziehen und damit weiter einüben.
Schließlich gehörten auch Hitlers Truppenführer im 1. Weltkrieg in diese Reihe monologisierender Autoritäten. Sie waren keineswegs geneigt, mit ihren Mannschaften über das Für und Wider des Krieges und eines bevorstehenden Angriffs zu diskutieren, sondern ließen ihre Leute zum Appell antreten und schweigend die Befehle entgegennehmen. Manche Offiziere waren besonders begabt darin, mit begeisternder Rede in ihren Soldaten Kampfesmut und Siegeszuversicht zu wecken.
Ich fasse zusammen: Die in diesem Abschnitt genannten Personen oder Personengruppen, nämlich Vertreter bestimmter Berufe, waren in der Regel dominante Männer, die dazu neigten oder sogar verpflichtet waren, in Monologen auf ihre Zuhörer einzuwirken. Aloys Hitler brachte Stammtisch-Tiraden und häusliche Standpauken vor, Priester predigten ihrer Gemeinde, Lehrer hielten Unterrichtsvorträge, Truppenführer hielten militärische Ansprachen, und in all diesen Fällen vermieden die Redner, ihren Zuhörern die Möglichkeit für Fragen, Kommentare oder gar Widerspruch einzuräumen. Sie machten die ihnen anvertrauten Menschen, die ihre Gesprächspartner hätten sein können, zu Zuhörern, zur schweigenden Gemeinde, zur bloß rezeptiven Schulklasse, zu einer auf Befehle wartenden militärischen Einheit. Diesen passiven Zuhörern trugen sie etwas vor, was sie selber in ihrer eigenen Ausbildung von ebenso monologisierenden Autoritäten übernommen und als zu reproduzierende Wahrheiten weitgehend auswendig gelernt hatten. Weder sie selbst noch ihre Zuhörer hatten die Chance, durch eigenes und im Gespräch mit anderen gemeinsames Denken unabhängige Positionen zu erarbeiten. Sie selber hatten nicht gelernt, eigenen Zweifeln nachzugehen, und sie erlaubten dies auch nicht ihren Zuhörern.
Heute können sich Kinder und Erwachsene an Modellen von ziemlich anderer Art orientieren: ihre Väter und Mütter reden in der Regel keine ganze Stunde lang ohne Unterbrechung, und auch die flexibel-intelligenteren unter ihren Lehrern tun dies nicht mehr, schon weil sie gar nicht mehr so viel unbestreitbares Wissen abrufbar parat haben, insofern nämlich ihre eigenen Überzeugungen gar nicht mehr so gefestigt sind. Schon in ihrem eigenen Vortrag kommen sie zwischendurch selber ins Zweifeln und unterbrechen ihre Rede zum Nachdenken, und sie stellen ihren Zuhörern (oder besser: Arbeitsgruppen und Teammitgliedern) selber Fragen und sind selber daran interessiert, das Urteil anderer zu erfahren. Unter solchen Bedingungen hält ein frei redender Mensch nicht so leicht eine ganze Stunde durch, zu monologisieren; da tauchen ihm selber schon wieder Frage- und Denkmöglichkeiten auf, die zur Folge haben können, seinen Monolog mit selbst eingeschalteten Überlegungen oder Rückfragen zu unterbrechen.
Aber zurück zu der Zeit, in der Adolf Hitler aufgewachsen war und damit zu den monologisierenden Autoritäten und ihrer jeweiligen Zuhörerschaft, ihrem "Auditorium". Solche fraglos akzeptierten Autoritäten wie kleinbürgerliche Haushaltsvorstände, wie Pfarrer, Lehrer und Offiziere, kamen nicht so leicht in die Verlegenheit, keine Zuhörer für ihre Monologe zu haben oder herbeischaffen zu können. Anders war es lange Zeit bei einem Adolf Hitler, der zwar schon früh den gleichen Anspruch hatte, wie ihn solche Alleinsprecher mit gewissem Recht geltend machen konnten, der aber über keine ihm unterstehende Zuhörerschaft verfügte. Denn wer außer seiner Mutter und seinen Spielfreunden war schon geneigt, ihm längere Zeit zuzuhören? Im Unterschied zu Schulkindern, die sich auch bei einem längeren Monolog des Lehrers nicht heimlich verdrücken können, und auch zu Soldaten, die sich der Ansprache des militärischen Vorgesetzten nicht entziehen können, und schließlich auch im Unterschied zur Kirchengemeinde, von der sich nur einige wenige Männer trauen, draußen vor der Kirche zu rauchen, oder in der gegenüberliegenden Kneipe so lange ein Bierchen zu trinken, bis die Ehefrau mit ihrem Kirchgang fertig ist, im Unterschied zum Zwang, sich Reden anhören zu müssen, können Kinder und auch Erwachsene in ihrer Freizeit sich dem Monologisieren eines Gleichrangigen entziehen: sie können weghören, sich über anderes unterhalten, zur Not auch wirklich weggehen, wenn es ihnen zu viel wird. Solche Zuhörerflucht muss auch Adolf Hitler erlebt haben trotz aller Bemühungen, irgendein Auditorium für seine Geschichten und Vorträge zu interessieren und es durch rhetorische Kniffe zu fesseln oder wenigstens längere Zeit festzuhalten. Beim Fehlen solcher "Monolog-Ergänzungs-Partner" blieb Hitler nur der Ausweg, sich in Tagträume zurückzuziehen, oder Musik zu hören oder Texte zu lesen, aber immer nur das zu lesen bzw. im Gedächtnis zu behalten, was seine eigenen Monologe zu begründen oder zu ergänzen geeignet war oder was er in seine Tagträume einbeziehen konnte. Auch bei berauschender Wagner-Musik lässt sich's trefflich träumen, und ausgewählte Textstellen eines Buches können darauf beschränkt werden, als Stichwortgeber zu fungieren. So können "Objekte", hier also insbesondere Monolog-Zuhörer in Zeiten, in denen sie nicht verfügbar sind, in der Phantasie ersetzt werden, und zwar den eigenen Monolog noch stimmiger ergänzend, als es in der sozialen Realität möglich ist: der phantasierte Partner "spurte" besser als der reale, er widersprach nie, er stimmte immer zu, anders als die widerständige Realität in Gestalt von realen Menschen, die vielleicht sogar Einwände vorbrachten oder gar nicht zuhören wollten.