2.4.10.6.8. Hitlers Entwicklung zum Demagogen

Nach alledem bestand bei Hitler speziell im Monologisieren eine von seiner Kindheit an gut belegte Kontinuität seines Erlebens und Verhaltens, die nur zeitweise von außen unterbrochen wurde, aber auch dann noch in „virtuellen Monologen“ von ihm weiter gepflegt werden konnte, und an die er unter für ihn wieder günstigeren Bedingungen wieder anknüpfen konnte. Voraussetzung dafür war nur, dass Hitler eine Gelegenheit fand, verbal expansiv einen Kontakt mit einem Menschen aufzunehmen, der als Minimalobjekt gerade noch zur Rolle als Adressat von Hitlers Rede taugte, und keinen Anspruch stellte, selber reden zu wollen, der jedenfalls den schwadronierenden Hitler nicht unterbrach. Solche Bedingungen konnte Hitler vor seinem Aufstieg über lange Zeit weder vorfinden noch herstellen. Diese Zeit nutzte er aber als „Moratorium“ (= Aufschub) im Sinne von E. H. Erikson („Stufen der Entwicklung“); er verhielt sich nach der Devise „und haltet euer Pulver trocken!“. So war Hitler über die Zeit der Arbeitslosigkeit und des Krieges nur ein „Führer in Latenz“, in Wartestellung wie ein Raubinsekt in der Puppe, bis er sich als der „entpuppen“ konnte, der er schon immer sein wollte und als den ihn die Welt dann kennen lernen musste. In aktuellerer Wortwahl formuliert war Hitler über lange Jahre ein „Schläfer“ etwa in dem Sinne, wie ein zuvor unbescholtener Student muslimischer Herkunft neben seinem Studium auf dem Wege der (Selbst-)Indoktrinierung sich in einen Fanatiker umwandelt, der sich schließlich in Terror-Aktivitäten als todesbereiter islamistischer Kämpfer bewährt, aber vor seiner selbstmörderischen und zugleich massenmörderischen Tat sich nur seinen engsten Vertrauten und Mitkämpfern als künftiger Attentäter offenbart hatte.

Es dauerte eine Zeit, bis Hitler wieder Gelegenheiten fand und später sogar herstellen konnte, die ihm erlaubten, von neuem an viel früher erworbene Neigungen, Kompetenzen und persönliche Ressourcen anzuknüpfen. Gemessen an dem, was man von einem Menschen mit abgebrochener Realschul-Ausbildung, nicht begonnener Berufsausbildung, erst recht keiner „akademischen“ Karriere, und von einem Langzeit-Arbeitslosen erwarten kann, war Hitler in seinem mündlichen und auch schriftlichen Ausdruck ja eher gut; er konnte frei reden, in seinem Vortrag auf Bedürfnisse seines Publikums eingehen und dabei improvisieren und seinen Text variieren. Wenigstens in dieser Hinsicht war er um Klassen besser als der spätere Bundespräsident Heinrich Lübke!

Schon im Wiener Männerheim (1912/13) neigte Hitler dazu, seinen Schicksalsgenossen lange Vorträge zu halten, „ – ob sie ihm zuhören wollten oder nicht – über die Wunder der Wagnerschen Musik ... und die Monumentalbauten Wiens“ (Ian Kershaw: Hitler 1889 – 1936. DVA, Stuttgart, 1998, S. 91/92). Sein Jähzorn „habe jederzeit aufflackern können, insbesondere bei den häufigen politischen Debatten. Die unerschütterlichen politischen Ansichten Hitlers seien allen offenkundig gewesen“ (S. 94). Ähnlich verhielt er sich auch in München, wo er ab Mai 1913 lebte. In einem „Milieu der Stammtischphilosophen und Weltverbesserer in Eckcafés, der Spinner und halbgebildeten Alleswisser ... erfuhr er den aktuellen Stand der politischen Entwicklung, geriet bei der geringsten Provokation in Wallung und bot allen Umsitzenden seine heftig verteidigten Ansichten an ... Über „Diskussionen“ in Cafés und Bierkellern ging Hitlers politisches Engagement während der Münchner Zeit nicht hinaus“ (S. 122), und weiter: „Hitler praktizierte seine Form des Bohemien-Daseins – in Cafés herumzulungern, in Zeitungen und Zeitschriften zu schmökern und auf die Gelegenheit zu warten, den Umsitzenden eine Kampfrede über ihren politischen Irrweg zu halten“ (S. 123). Auch im Krieg 1914 – 1918 erwies Hitler sich als Fanatiker: „Seine Kameraden wussten, mit ... defätistischen Kommentaren konnten sie Hitler immer provozieren. Sie brauchten nur zu behaupten, Deutschland werde den Krieg verlieren, und schon schoss es aus Hitler heraus. Beharrlich schloss er mit den Worten: ‚Für uns kann der Weltkrieg nicht verloren sein’“ (S.133). Diese und andere Belege zusammenfassend meint Kershaw, dass Hitlers Tiraden im Männerheim von Wien, in den Münchner Cafés und an der Front, die zu dieser Zeit im besten Fall als Beispiele von Hitlers Exzentrizität geduldet wurden, sich später als sein bestes Kapital herausstellten (S. 176).

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fand Hitler auf seinem nunmehr beginnenden Wege in die Politik neue Objekte, oder besser: Opfer, für sein monologisches Agieren. Er war nach dem militärischen Zusammenbruch nicht schon gleich wieder in ein wenig attraktives ziviles Leben zurückgekehrt, sondern blieb, länger als andere Kriegsheimkehrer, in seiner letzten militärischen Einheit in Bayern. Vom Regiment „List“ wurde er Anfang Juni 1919 zu einem Kurs über „staatsbürgerliches Denken“ abkommandiert, der von einer Aufklärungs- oder Propagandaabteilung der Reichswehr veranstaltet wurde. In den Diskussionen nach den Vorlesungen fand er in anderen Teilnehmern ein neues Auditorium für seine Monologe. Er fiel dabei den Veranstaltern als rhetorisches Naturtalent auf und wurde daher im August 1919 zu einem Münchner Regiment versetzt, um dort in einem „praktischen Redner- und Agitationskurs“ dafür ausgebildet zu werden, die aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten und anscheinend politisch labilisierten Soldaten im nationalistischen und antibolschewistischen Sinne zu beeinflussen, quasi wieder auf den „rechten“ Weg zu bringen. Auch dort registrierte man sein populäres Auftreten, die leicht fassliche Art seiner Darstellung und seinen leidenschaftlichen Fanatismus.

Mit dieser Redebegabung bewährte er sich auch als Starredner der noch jungen NSDAP in immer effektvoller arrangierten Parteiveranstaltungen. Er konnte die im Bierkeller oder Hofbräuhaus zunächst nur neugierig zusammen gekommenen Zuhörer regelrecht begeistern. Nach seiner Vorstellung sollten sie eben nicht nur zuhören, sondern ihm auch zustimmen, ihn bestätigen, klatschen und jubelnd begeistert sein, etwa wie die Kunstbeflissenen, die in Konzert und Oper von der Musik und dem Gesang hingerissen werden, vielleicht auch tief bewegt und gerührt wie die Gläubigen, die in der Kirche der Predigt oder dem Orgelklang lauschen. Hitlers Rolle war insofern vergleichbar der eines Bußpredigers, der die vorher noch ungerührten Kirchgänger zu Massenerweckungen bewegen konnte. In seinem Buch „Mein Kampf“ (S. 390) schildert Hitler, wie er einen ersten derartigen Erfolg selber erlebt hatte: „Ich sprach 30 Minuten, und was ich früher, ohne es irgendwie zu wissen, einfach innerlich gefühlt hatte, wurde nun durch die Wirklichkeit bewiesen: ich konnte reden!“. Hitler spürte und nutzte auch zunehmend bewusster seine demagogische Wirkung auf die in immer größerer Zahl sich versammelnden Zuhörer, NS-Anhänger und Parteigenossen, vor allem seine Macht über eine begeistert applaudierende Masse. In ihr wurden gegnerische Zwischenrufer vom Saalschutz, der späteren SA, bald mundtot gemacht, wenn sie sich überhaupt noch getraut hatten, ein kritisches Wort zu sagen.

Ein weiteres und von ihm sogar bevorzugtes Publikum für seine Monologe fand Hitler in seiner (von anderer Seite so genannten) „Chauffeureska“, nämlich in seinen Fahrern, Leibwächtern und persönlichen Bediensteten, die ihm treu ergeben waren und wegen ihres unbedingten Gehorsams („Unsere Ehre sei Treue!“) vornehmlich aus den Reihen der „schwarzen“ (politischen) SS rekrutiert wurden. Nachdem er als Führer und Reichskanzler an der Macht war, wurden die Besprechungen in der Reichskanzlei, auf dem Obersalzberg und im Führerhauptquartier von ihm als Gelegenheit genutzt, seinen Gesprächspartnern die eine oder andere seiner „Führerreden“ zu halten, der sie nur noch passiv zuhören konnten (Kershaw, S. 676). Beim späten Abendessen waren seine jeweiligen Gäste dazu verdammt, in den sogenannten Tischgesprächen, die in Wirklichkeit weitgehend auf Hitlers Monologe begrenzt waren, Hitlers Tiraden anzuhören. So waren während des Zweiten Weltkriegs im Führerhauptquartier die Teilnehmer an der abendlichen Tafelrunde genötigt, sein Auditorium zu sein, auch wenn sie selber schon völlig übermüdet waren und den Hitlerschen Monologen kaum noch folgen konnten.

In solchen Situationen, aber auch wenn Hitler mit ausländischen Staatsgästen zu verhandeln hatte, fielen oftmals Hitlers langatmige Vorträge auf, oder sein Wortschwall, der auf die Überwältigung des jeweiligen Zuhörers zielte. Kritische Zuhörer registrierten eher diese negativen Seiten seines Gesprächsverhaltens: dass er auch in Besprechungen und Verhandlungen zum endlosen Monologisieren neigte, dass der Wortschwall, mit dem er seine Gesprächspartner übergoss, nicht zu unterbrechen war, so dass er in einzelnen Fällen über Stunden allein das Wort führte. Er versuchte wenn irgend möglich die Unterhaltung zu dominieren und bestritt das „Gespräch“ über die längste Zeit selber. Er wollte nicht zuhören, sondern selber reden. Wenn er dies nicht konnte oder nicht wollte, blieb er oft in Schweigen gehüllt, wie auch ansonsten außerhalb seiner Monologe. So ist es auch verständlich, dass Hitler „während seines ganzen Lebens ... bemerkenswert wenige echte Freundschaften (schloss). Auch war er stets darauf bedacht, trotz seines andauernden Redeflusses seine wahren Gefühle zu tarnen“ (Kershaw, S. 104), was ihm aber nicht immer gelang.

Als Zuhörer weniger geeignet waren intellektuell anspruchsvolle und ggf. politisch einflussreiche Gastgeber, gleichrangige Teilnehmer an einer Gesprächsrunde, oder hochrangige ausländische Gäste, die eigene Interessen vertraten und darin auch von Hitler in einem Mindestmaß hätten estimiert werden sollen. Als Hitler einmal an der Macht war und er sich solche Eigenmächtigkeit erlauben konnte, weil niemand mehr es ihm verwehrte, hatte er sogar solch bedeutende Personen zu passiven „Zuhörern“ gemacht.

Ian Kershaw gibt in seinem Buch zwei eher anekdotische Vorkommnisse wieder, die Hitlers extrem monologisches, sogar schon monomanes Redeverhalten in einem krassen Licht erscheinen lassen. Der erste Fall ereignete sich in den 13 Monaten, in denen er nach seinem Putschversuch wegen Hochverrats in der Festung Landsberg inhaftiert war (bis zum 20. 12. 1924). Kershaw führt dazu aus (S. 299/300): „Glaubt man Otto Strasser ... dann hatte sein Bruder Georg während seines kurzen Aufenthalts in Landsberg eine ... Idee und schlug Hitler vor, seine „Memoiren“ zu schreiben, um die anderen Insassen von der Bürde der endlosen Monologe „des Herrn vom ersten Stock“ zu erlösen ...Wenn an der Geschichte nur etwas stimmt, dann dürften sie bitter enttäuscht gewesen sein, als Hitler dazu überging, seinen buchstäblich gefangenen Zuhörern täglich die gerade geschriebenen Abschnitte vorzulesen“. Der zweite Fall bezieht sich auf die ersten Jahre nach der Machtergreifung, also die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg (S. 672/673): „ ... (für Hitlers Gefolge) war – ob in der Reichskanzlei oder auf dem Obersalzberg – das Leben in seiner unmittelbaren Nähe ... mit ... beträchtlicher Langeweile verbunden... Wo er auch war, dominierte er die Unterhaltung. Bei Besprechungen duldete er keinen Widerspruch... Seine Adjutanten achteten spätabends vor allem darauf, dass keiner der Gäste unbeabsichtigt eines der Lieblingsthemen des Führers ... ansprach, denn das löste bei Hitler regelmäßig einen seiner endlosen Monologe aus, und alle waren dann gezwungen, bis in die frühen Morgenstunden auszuharren“. Kennzeichnend für sein monologisches Sprachverhalten war auch, dass später einer seiner persönlichen Adjutanten Tag und Nacht bereit sein musste, irgendwelche Einfälle, Gedanken, Einsichten oder Pläne des „Führers“ schriftlich aufzunehmen.

Im Rückgriff auf die weiter oben diskutierte Lebensgeschichte von Hitler kann man manche der später so auffälligen Beziehungen Hitlers zu seiner personalen Umwelt psychoanalytisch im Sinne einer Freudschen Übertragungs-Beziehung interpretieren. Er selber als der monologisch Vortragende identifizierte sich mit der aktiven Rolle seines Vaters, verschiedener Prediger und Lehrer, schließlich des Heilands selber, seine Zuhörer identifizierte er dagegen eher mit der passiven Rolle seiner Mutter, der Spielfreunde und Klassenkameraden, später der Soldaten einer Mannschaft. In dieser übertragungsartigen Einengung seines Erlebens konnte Hitler seine „Objekte“, und das war eigentlich immer wieder das gleiche oder für ihn sogar dasselbe Objekt, in gleicher Weise agierend manipulieren. Dies geschah von vornherein polarisierend, wobei Hitler sich selber eindeutig eine virtuell positive Rolle zuschrieb, seinem jeweiligen Gegenüber eher die schon etwas negativere Rolle des passiven, ja sogar erlösungsbedürftigen Zuhörers.

Positiv war für Hitler auch die Macht der Helden, die Pracht der heiligen Messe und des Orgelklangs, waren die großen Opern von Richard Wagner, die großen Bauten der Hauptstädte, und die Auserwähltheit der Christgläubigen konnte ersetzt werden durch die Auserwähltheit des deutschen Volkes und der arischen Rasse. Ebenso austauschbar waren die ungläubigen Heiden, die Juden, die Tschechen und andere Nichtdeutsche des kakanischen Vielvölkerstaates, die „mischrassigen“ Bewohner in den slumartigen Vorstädten der Metropolen, die Marxisten, aber auch die Kapitalisten, später auch die christlichen „Kirchen“ und schließlich alle, die nicht an ihn und seine Mission glaubten. Solche Austauschobjekte blieben bei allem Wechsel und aller Ergänzung dennoch in sich gleich. Und von Hitler her gesehen luden sie ihn entweder dazu ein, sich mit ihrer Positivität zu identifizieren und sie zu überbieten, oder aber sie als minderwertig abzulehnen oder schließlich zu vernichten.

Nach den charakterologischen Hintergründen und formalen Aspekten von Hitlers Neigung zum monologischen Reden sollten wir uns nun mit den Inhalten befassen, die er mit solcher Motivation und auf solche Weise seinen Zuhörern und Anhängern zu vermitteln versuchte.