2.4.10.6.7. „Rehearsal“ und „mental training“

Ich stelle also die Hypothese auf, dass Adolf Hitler seine späteren Rollen als Agitator, "Trommler", Putschist, "Retter und Erlöser Deutschlands aus tiefster Not", Führer, Staatsmann und Feldherr nicht hätte verkörpern können, wenn er sie nicht schon vorher, gegebenenfalls sogar von Kindesbeinen an, in der einen oder anderen Weise eingeübt hätte, um sie nach nur vorübergehenden Rückschlägen später wieder mit Erfolg einsetzen und perfektionieren zu können. Falls es solche Kontinuitäten gab, mit einem Wechsel vom anfänglich offenen Agieren über einen Rückzug in Phantasien, bis wieder zur Realisierung im großen Maßstab, wie könnte ihre Fortdauer psychologisch begründet werden? Vielleicht können uns Begriffe und Theorien aus der Lernpsychologie und aus der Trainingsmethodik des Sports etwas weiter helfen.

Als erstes wäre der in der englischsprachigen Musik- und Theaterpraxis verwendete Begriff des "rehearsal" zu nennen: er bezieht sich auf das wiederholte Aufsagen eines Textes oder das mehrmalige Proben eines Musikstücks, um es sich einzuprägen und es schließlich vorführungsreif einstudiert zu haben. Dieser Begriff wurde von der angloamerikanischen Lernpsychologie eingeführt und später von der deutschen Psychologie unübersetzt übernommen, um Lernvorgänge im allgemeinen zu erklären und das Lernen praktisch zu verbessern. Das schließt auch ein, dass jemand sich etwas in einer Form einprägt, was er später in anderer Weise ausdrückt, was ihm jedenfalls so oder so verfügbar bleibt. So kann man etwas motorisch einüben (im Tun oder Sprechen) und dann in der Vorstellung wiederholen (still "memorieren"), um es bei der nächsten Gelegenheit auch wieder motorisch auszudrücken und weiter zu optimieren. Das zwischenzeitliche Üben "im Geiste" ist für den uninformierten Betrachter von außen kaum erkennbar, bestenfalls als "Dösen" oder "Träumen", und erst wenn es zu Leistungsverbesserungen geführt hat, wird deutlich, dass da in ganz stillen Minuten "in der Latenz" doch Wichtiges geschehen ist: Man kann sich etwas fest ins Gedächtnis einprägen und dann bei Bedarf wieder ins Gedächtnis rufen, was man "auswendig" gelernt hat. Die Engländer haben dafür die Formulierung "learning by heart", was zu verstehen gibt, dass man besser lernt (auch im Stillen!), wenn man mit dem Herzen dabei ist.

Als zweites erinnere ich daran, dass es selbst für hochaktive Extremsportler so etwas wie ein "mental training" gibt, bei dem beispielsweise der Ski-Abfahrtsläufer äußerlich weitgehend ruhig "im Geiste" die Abfahrtstrecke und seine eigenen Schwünge und Sprünge imaginiert, unter Konzentration auf alle Tore, Bodenwellen, Sprung-Gelegenheiten, vereisten Passagen und Tiefschneelöcher, die er beim Training kennen gelernt und eingespeichert hatte (ich selbst hatte mich nur einmal in meinem Leben über drei Wochen in der Kunst des Abfahrtslaufs einzuüben, aber so ungefähr kann ich mir das "mental training" des Hochleistungssportlers doch vorstellen!). Was in diesen Fällen methodisch zur Leistungsverbesserung eingesetzt wird, kann natürlich auch aus anderen Motiven, z.B. zum sozialen Rückzug oder zum kompensatorisch phantasierten Rechtbehalten gegenüber einer widerständigen Realität genutzt werden. Eine sehr weitgehende Ergänzung und schließlich sogar der Ersatz der Realität durch "Welten im Kopf" (so der Titel eines Readers über "Profile der Gegenwartsphilosophie", Rotbuch Verlag, Hamburg) birgt allerdings das Risiko der Psychose, wenn nämlich die so "stimmige" Phantasie gegen die widersprüchliche Wirklichkeit ausgespielt und ihr schließlich vorgezogen wird. Hitler blieb vor dem Verrücktwerden (fast?) bewahrt, weil er immer wieder auch halbwegs normal realistische Mitspieler fand und mit deren Unterstützung zumindest opportunistisch mit der widerständigen Realität umgehen konnte, jedenfalls so lange diese Realität seinen Phantasien recht zu geben schien!

Gestützt auf die Begrifflichkeit des "rehearsal" und des "mental training" können wir jetzt der Frage nachgehen, ob und wie Adolf Hitler bestimmte Verhaltensweisen früh erlernt und über Jahre mit wiederholtem Praktizieren eingeübt hat, und ob (oder wie) er in einer Zeit, in der er fast in der Versenkung verschwunden war, diese Verhaltensintentionen dennoch in der Phantasie weiterbetreiben konnte, nämlich all das, was er schon als kleiner Junge ausprobiert hatte. Konnte er auf diese Weise auch über Hungerzeiten und "Durststrecken" etwas wach und lebendig halten, was er viel später im reifen Mannesalter (wieder) einsetzen und zur Hochform weiterentwickeln konnte? Hitlers Jahre im Wiener Obdachlosen-Heim und darauf folgend als Soldat („als einfacher Gefreiter“) im ersten Weltkrieg können im Sinne von E. H. Erikson als ein über die Schulzeit verlängertes Moratorium verstanden werden: als Aufschub des eigentlich schon fälligen Erwachsenseinmüssens. Hitler war in dieser Zeit noch nicht beruflich und familiär festgelegt, er konnte in seinen Phantasien, Träumen und Spekulationen noch alle möglichen Optionen durchspielen. Bevor die Welt in Gestalt von Zuhörern, Kumpanen, Anhängern und Unterstützern so richtig mitspielte, musste Hitler als Ersatz für seine Mutter und für seine Spielfreunde notfalls mit fiktiven Gesprächs- und Interaktionspartnern auskommen, oder mit in seiner Sicht defizienten Adressaten, die (noch!) nicht in der Lage waren, sein Spiel wirklich in seinem Sinne mitzuspielen. Darunter waren wohl auch einige, für die Adolf Hitler zunächst nur ein etwas größenwahnsinniger Spinner war. Aber solche fiktiven bzw. realen Interims-Kontakte konnten als "Warmhalte-Einrichtungen" für latente Verhaltensbereitschaften fungieren, und zwar 1. in eher passiver Art: z.B. im Tagtraum und im Phantasieren bei Wagner-Musik, und 2. etwas aktiver beim selektiven Lesen und Sammeln von Bestätigungen für seine vorgefassten Meinungen, und 3. wirklich aktiv im Nutzen von immer neuen Gelegenheiten, irgendwelche Zuhörer, die dann selber zur Passivität verurteilt waren, mit einem längeren Monolog einzudecken.

Hitler war aber schon von Kindheit an mehr Rollenspieler als Träumer. Er begnügte sich nicht auf Dauer damit, sich etwas Irreales oder Utopisches nur auszudenken, sondern er brauchte Zuhörer für seine Monologe und auch Zuschauer, denen er mit seinem theatralischen Agieren imponieren konnte, besser noch Statisten, die er mit Regieanweisungen zum Mitmachen in seinem Sinne bestimmen konnte. Schon als Kleinkind tat er sich ja groß damit, eine Jungenbande anzuführen, und später, als Jugendlicher, tönte er gegenüber seinem Freund August Kubizek von seiner eigenen zukünftigen Rolle (vergleichbar der des italienischen Rienzi in der Wagner-Oper) als „Retter Deutschlands“, und berauschte sich an der ehemaligen und zukünftigen Herrlichkeit des alldeutschen Reiches. Damals hätte man Hitler noch als Möchtegern-Erlöser abtun können, aber solche Verharmlosung war in späteren Zeiten nicht mehr möglich.