2.4.10.4. Darwinismus und „Sozialdarwinismus“ als Grundlagen der Nazi-Ideologie?

Inhaltsverzeichnis

2.4.10.4.1. Darwinismus als vermeintlicher Ausgangspunkt
2.4.10.4.2. Über „reine“ Rassen und Sprachen und ihre Mischungen
2.4.10.4.3. „Sozialdarwinismus“ als historischer Vorläufer der Nazi-Ideologie

2.4.10.4.1. Darwinismus als vermeintlicher Ausgangspunkt

In Hitlers Ideologie, in dieser sehr persönlichen Mischung von missverstandenen Orientierungen, spielt die von ihm völlig fehlinterpretierte Darwinsche Evolutionstheorie, missverstanden vom christlichen Glauben und von nationalen Machtansprüchen her, eine besondere Rolle, weshalb ich hier gründlicher auf sie eingehen möchte.

Das pseudo-darwinistische Missverständnis der nicht von Darwin, sondern von Herbert Spencer (1820 – 1903) geprägten Formel „survival of the fittest“, nämlich als vermeintlichen „Kampf ums Dasein“, als Vernichtungskampf der Stärksten untereinander um den Endsieg und die Weltherrschaft, ist eine biologistische Fehlinterpretation, die nichts mit wissenschaftlicher Biologie zu tun hat. Insbesondere die Rede vom „Kampf ums Dasein“ hat zwar zunächst zur Rechtfertigung von Hitlers religiös-politischem Auserwähltheits- und Alleinherrschaftsanspruch beigetragen, sie dient aber inzwischen als Vorwurf gegen die Naziideologie zur Selbstentlastung der Christen, die ihm mit Auserwähltheits- und Erlösungsversprechen und vor allem mit dem Judenhass vorausgingen.

Bevor ich näher auf den vermeintlichen Sozialdarwinismus der Nazis eingehe, sollte ich, damit wir wissen, wovon eigentlich die Rede ist, in einem Exkurs auf Charles Darwin selbst zurückkommen, nämlich auf seine hervorragenden wissenschaftlichen Entdeckungen und ihre wiederholte Bestätigung und moderne Weiterführung zur neodarwinistischen Evolutionstheorie. Es ist dabei zunächst auszugehen von einem begrenzten Umfang lebensfördernder Ressourcen und Bedingungen und einem ebenso begrenzten Zugang zu ihnen. Es sind zunächst abiotische Bedingungen: Sonnenlicht, Wasser, Kohlendioxyd und Kohlenwasserstoffverbindungen, auch Stickstoff, Phosphor, Schwefel, und die Metalle Kalzium, Kalium, Magnesium und Eisen, um nur die wichtigsten zu nennen. Diejenigen Pflanzen, die solche Ressourcen am besten finden und ausnutzen, bleiben übrig (survival of the fittest) und vor allem vermehren sich besser und nachhaltiger als ihre Konkurrenten im Biotop. Das Überleben der besser Angepassten betrifft nämlich nicht nur die nächsten paar Generationen, sondern realisiert sich über geschichtlich lange Zeiten, auch nach späteren Katastrophen und etwa Seuchenzügen. Es ist also keine Rede davon, dass die erfolgreicheren Pflanzen andere Pflanzen umbringen müssten, um zu überleben. Die meisten Pflanzen interessieren sich gar nicht für andere Pflanzen. Es geht nur, in moderner Fassung, um das erfolgreiche Zusammenspiel von Mutation, sexueller Rekombination der Erbanlagen und Selektion, diese wiederum bezogen auf ökologische Nischen, die von Organismen neu erschlossen werden können oder auf die sie auf Dauer begrenzt bleiben können (Annidation). Das gilt entsprechend auch für die Tiere, die sich heterotroph, also von anderem Leben, meist von Pflanzen ernähren, natürlich auch für Raubtiere, die von Beutetieren leben. Sie sind aber keineswegs auf deren Vernichtung aus, denn das wäre sträflich, und auch der Kampf gegen Nahrungskonkurrenten und der Versuch, diese vorsorglich zu vernichten, würde nur Kraft und Zeit kosten, die für Nahrungssuche und Partnersuche und Betreuung der eigenen Nachkommen viel besser verwendet werden kann.

Darwin selber hatte als empirisch forschender Zoologe natürlich gewusst, dass die allerstärksten Raubtiere nach ihrem Vernichtungskampf und totalen Sieg über die anderen Raubtiere verhungern oder, wenn sie anschließend auch noch alle Pflanzenfresser aufgefressen hätten, sogar Vegetarier werden müssten. Eigentlich weiß das jeder und auch Hitler hätte wissen können, dass sich zwischen bestimmten Raubtierarten und ihren jeweiligen Beutetieren, nach einem Hin- und Herschwanken der Populationsgrößen, ein Gleichgewicht einpendelt. Die meisten Raubtiere brauchen nämlich lebende, nicht tote oder gar ausgestorbene Beutetiere, ebenso wie die ihnen als Beute dienenden Pflanzenfresser lebende und noch nahrhafte Pflanzen brauchen, und die Pflanzen wiederum nicht ohne Sonne, Wasser und Mineralien auskommen. Von auf Vernichtung zielenden Kämpfen zwischen verschiedenen Arten oder gar Rassen kann in all diesen Fällen nicht die Rede sein. Sie kommen nur in Ausnahmefällen vor, etwa wenn zwei Populationen verschiedener Arten um eine sehr seltene und zugleich besondere Umweltnische konkurrieren und das Vertreiben des Konkurrenten oder die Flucht vor dem Konkurrenten nicht möglich ist.

Darwin hat in seiner Evolutionstheorie sogar der liebevollen Fürsorge für die noch hilfsbedürftigen Jungtiere (so bei Vögeln und vor allem Säugetieren) und der gegenseitigen Solidarität der sozial lebenden Tiere einen hohen Stellenwert beigemessen. Auch Raubtiere können sehr lieb zu ihren Jungtieren und hilfreich für ihre weiteren Verwandten sein, und auch bei Menschen sind diese Verhaltensbereitschaften stark entwickelt und können auch fremde Menschen, ja sogar die gesamte Menschheit und darüber hinaus die gesamte lebende Natur mit einbeziehen. Herbert Spencers Formel vom „survival of the fittest“ betraf auch keineswegs nur die Raubtiere, sondern ganz entsprechend die vor ihnen flüchtenden Beutetiere, denen es genau so um ihr Überleben geht. In beiden Fällen, ja insgesamt im Reich des Lebendigen, meint diese Formel zentral das Übrigbleiben und sich dann erfolgreicher Sichvermehren der an ihre Umwelt besser angepassten Individuen im Vergleich mit den weniger angepassten Individuen der eigenen Population, und erst in zweiter Linie im Unterschied zu Nahrungs- und Umweltkonkurrenten anderer Arten.

Ich will noch ergänzen, dass Darwin, der bis zum Bachelor-Grad Theologie studiert hatte, kein Feind des Glaubens und auch kein Antisemit, sondern nichts anderes als ein hervorragender Wissenschaftler war. Er würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er wissen könnte, dass mit seinem Namen eine Begründung für Rassenhass und Völkermord verbunden wurde, nämlich im Begriff des leider immer noch so genannten „Sozialdarwinismus“, der inhaltlich ganz andere, nämlich religiöse Wurzeln hat.