2.4.10.5.2. Das den Auserwählten gelobte Land 

In diesem Beitrag über Mose habe ich näher ausgeführt, dass der Glaube an die eigene Auserwähltheit der Juden in enger Beziehung stand zu der ihnen beim Auszug aus Ägypten von Mose vermittelten göttlichen Verheißung über ein ihnen „gelobtes“ Land. „Gelobt“ bedeutet also nicht, wie man es im heutigen Wortgebrauch missverstehen könnte, so etwas wie „gerühmt, gepriesen, lobenswert oder frei von Tadel“, sondern ganz eindeutig als zum zukünftigen Besitz „versprochen“, ähnlich wie sich Verlobte einander die künftige Eheschließung versprochen (bzw. gelobt) haben. Ursprünglich meinte die Rede vom „Gelobten Land“, dass das von den Kanaanäern bewohnte Land Kanaan den von Mose angeführten Israeliten als Beute versprochen war, nämlich für den Fall, dass sie bereit waren, selber dieses Land und seine Bewohner anzugreifen, und dass sie in der Lage waren, die kanaanäischen Vorbewohner zu besiegen und anschließend zu vertreiben oder besser zu vernichten. Mit Letzterem waren manche der Israeliten gar nicht einverstanden, was ihnen eine scharfe Kritik ihres Gottes eintrug. Dieser Gott (oder war es doch nur Mose?) hatte anscheinend nicht bedacht (oder hatte er – Mose – es sogar vorweg in Rechnung gestellt?), dass die Israeliten und die Kanaanäer ursprünglich, also vor der Konversion der israelitischen Mose-Schar zum Eingottglauben des Mose, ziemlich gleichglaubende und fast gleichsprachige Brudervölker waren, einander sprachlich und religiös näherstehend als die friesisch oder Plattdeutsch sprechenden protestantischen Niedersachsen und die oberdeutsch sprechenden katholischen Bayern.

Das „Gelobte Land“ der Thora ist somit ein Land, das dem einen Volk, den Kanaanäern, seit langem gehörte, das aber dann von einem Gott bzw. von dessen Propheten und Heerführer einem anderen, ihnen aber eng verwandten Volk, den Israeliten, als Beute versprochen („gelobt“) wurde. Der so motivierte Vernichtungskrieg ist in heutiger Sicht als ein Stellvertreter-Krieg zu bezeichnen, wie er seit alters her von konkurrierenden Großmächten angezettelt wurde. Stellvertreter-Kriege sind primär bedingt durch den Weltmachtanspruch zweier (oder mehrerer) Großmächte, im biblischen Falle der Ägypter im Süden und der mit diesen um die Gebiete zwischen östlichem Mittelmeer und arabischer Wüste konkurrierenden Nordstaaten, unter denen die Sumerer, Hethiter, Hurriter, Akkader, Mitanni und Babylonier einander ablösten. Diese Großmächte tendierten dazu, westsemitische Völker wie die Kanaanäer und Israeliten, auch die aus dem Norden eingewanderten Philister, als Vasallen oder „Satelliten“ in ihr je eigenes Bündnissystem einzubeziehen. Sie nutzten diese Bundesgenossen als Vorposten und Grenztruppen defensiv zur Grenzsicherung und setzten sie im Falle der von Mose geführten Israeliten auch offensiv zur Erweiterung des eigenen Machtbereichs ein, so dass auf diese Weise Konflikte zwischen den Großmächten regional ausgetragen werden konnten, ohne die zentralen Bereiche der großen Konkurrenten in Mitleidenschaft zu ziehen und ohne deren eigene Ressourcen zu verbrauchen. Eine solche Vorgehensweise hat sich im Laufe der Geschichte so bewährt, dass sie noch heute praktiziert wird.

Zurück zur Verheißung der Auserwähltheit und vor allen des Gelobten Landes. Wie könnte ein solches Versprechen allgemeine Zustimmung finden? Dann könnte ja auch unser Land einem anderen Volk versprochen werden, damit sie es dann erobern! Dann würden wir uns aber mit allen Mitteln dagegen wehren! Wir würden ausrufen: Glaubt ja nicht, dass jemand, und sei es euer Gott, unser Land euch als Beute geloben könnte! Das würden wir nicht zulassen! Da würden wir unsere Götter zu Hilfe rufen, um unsere Freiheit und Autarkie, unseren Bildungsstand, unsere Aufgeklärtheit und gegenseitige Toleranz entschieden zu verteidigen. Besser wäre es natürlich, wenn ihr mit uns verhandeln würdet, ob einige von euch, keineswegs alle, und schon gar nicht als Eroberer, sondern ganz ohne Kampf, bei uns noch Platz finden könnten, wenn auch nur in begrenzter Zahl. Denn unser Land ist ja nicht menschenleer, sondern von uns selber dicht besiedelt und bewohnt. Aber wenn wir noch etwas zusammenrücken und ohnehin auf die Produktion einer Überzahl eigener Nachkommen verzichten, könnten noch einige Fremde bei uns unterkommen, möglichst die tüchtigeren, gebildeteren und friedlicheren unter ihnen. Willkommen in unserem lobenswerten Land! (Das ist natürlich nur ein analogisierender Versuch, sich in die Situation der Kanaanäer bei der „Landnahme“ durch die Israeliten einzufühlen!). Es ist andererseits gar nichts dagegen einzuwenden, wenn Menschen sich bemühen, ihr eigenes Land, in dem sie seit Generationen leben, zu einem lobenswerten Land zu machen, in dem jeder Ausländer gern zu Gast ist und manche sogar am liebsten für immer hier bleiben würden. Wenn dieses unser Land in aller Welt Lob erfährt und von zunehmend mehr Menschen aus anderen Nationen geschätzt wird, dann könnte das sogar dafür sprechen, dass es ein ziemlich liebenswertes Land ist, so liebenswert wie manches Land, in dem wir selber gern unseren Urlaub verbracht haben.

Ein frühes Beispiel für die Selbstabschirmung der Auserwählten von den als ungläubig verworfenen Anderen bietet der altisraelitische priesterliche Gesetzgeber Esra (vgl. 2.3.6.2.). Dieser Eiferer forderte die Israeliten auf, ihre an Baal und andere kanaanäische Götter glaubenden Frauen zu verstoßen, selbst wenn sie schon gemeinsame Kinder geboren hatten. Bei diesem ersten historisch bekannten Verbot von Mischehen ging es noch gar nicht um Mischrassigkeit, sondern um Religionsverschiedenheiten: die jüdischen jahwegläubigen Männer sollten ihre Frauen und Kinder verstoßen, wenn diese noch dem altkanaanäischen Baals- oder El-Glauben anhingen, der ja in geringer Variation auch der Glaube aller anderen semitisch sprechenden Völker war, auch ursprünglich der Israeliten, bevor diese von dem Ägypter Mose (siehe Jan Assmann) zu dem ursprünglich ägyptischen Eingottglauben bekehrt worden waren.

Davon abgesehen kann aber Esras Verurteilung und Bekämpfung der „Mischehen“, zumindest was die Verschriftlichung angeht, als einer der Startpunkte einer Entwicklung gelten, die über mehrere Stationen, über die Mauren- und Judenverfolgung in Spanien („limpieza de sangre “), und über Gobineaus Unterscheidung zwischen bloß keltischen und rein germanischen Franzosen schließlich zum Konzept einer biologistisch missverstandenen „Reinrassigkeit“ und u. a. zum nazistischen Arier-Mythos führte. Als Zwischenergebnis kann demnach festgehalten werden: Der „Sozialdarwinismus“ erweist sich als eine pseudowissenschaftliche Säkularisierung von ehemals religiösen Rechtfertigungen des eigenen Anspruchs auf Auserwähltheit und daraus abgeleitet auf Allein-Herrschaft und schließlich Allmacht.