2.4.10.9.4. War Hitler schizophren?

Solche Erweckungserlebnisse wie die Selbstpolarisierung gegenüber „dem Juden“ in Wien und der Entschluss, „Politiker zu werden“ im Lazarett am Ende des ersten Weltkriegs, können das Ausmaß eines Erlöserwahns annehmen, wie er bei manchen schizophrenen Patienten diagnostiziert werden kann, zwar seltener als der Verfolgungswahn, aber doch immer wieder mal vorkommend. Die Erleuchtung des erblindeten Hitler im Lazarett wäre insofern der schubartigen Verschlimmerung (Exazerbation) einer schon länger bestehenden symptomarmen Schizophrenie vergleichbar. Allerdings blieb Hitlers Realitätsbezug, wenigstens außerhalb seiner Messiasrolle und im mehr praktischen Handeln, zunächst weitgehend erhalten. Dennoch erscheint es mir als ein Mangel, wenn Michael Rißmann in seinem Buch „Hitlers Glaube“ diese psychiatrischen Aspekte der Hitlerschen Erweckungserfahrung kaum einmal in Betracht zieht. Denn wenigstens ein mehrmaliges Aufkommen von psychosenahen Regressionen ist bei Hitler doch sehr wahrscheinlich. Es könnte auch die Frage erörtert werden, ob Hitler nur ein soziopathischer Hochstapler war wie der „Freiherr Rudolf von Sebottendorf“ (alias Adam Alfred Rudolf Glauer) und der „Jörg Lanz von Liebenfels“ (alias Joseph Adolf Lanz) (Rißmann, S. 121 – 127), beide waren Zeitgenossen von Hitler aus seiner Wiener Zeit, oder ob er im Sinne einer paranoiden Schizophrenie größenwahnsinnig war. Er hatte von beidem etwas: den Größenwahn eines „Gröfaz“, des größten Feldherrn aller Zeiten, und auch die Hochstapelei, nämlich im systematischen Einsatz von Verblüffungstechniken, mit denen er oftmals überraschende Erfolge erzielen konnte, ohne zuvor zielführend an einer Problemlösung gearbeitet oder gar erbittert gekämpft zu haben.

Ohne den Hintergrund von Hitlers eigener Überzeugtheit und oftmals starker Überzeugungskraft hätte das oft seltsam Chaplineske seines äußeren Auftretens, seine rollende bis röhrende Artikulation, seine theatralische Gestik und sein zum Dauergruß steif-starr ausgestreckter Arm etc. ihn leicht als lächerlich erscheinen lassen. Aber man glaubte ihm, nahm ihm seinen „unerschütterlichen Glauben an seine Mission“ ab, seinen „Idealismus“, seine „Aufopferung für das deutsche Volk“. Der Psychiater W. Treher (Hitler – Steiner – Schreiber, S. 136) bemerkt dazu richtig, dass Schizophrene mit Begnadungswahn besser „ankommen“ als solche mit Verfolgungswahn: „Wer sich grundlos verfolgt fühlt, wird nämlich bald als krank durchschaut, während derjenige, der sich begnadet wähnt, eher für besonders gesund gehalten zu werden pflegt“, und, wie ich ergänzen möchte, schließlich als wirklich begnadet angesehen werden kann!

Gerade durch seine derartige „Verrücktheit“ ist Hitler eine unschätzbare Quelle von Informationen über ihn selbst, und zwar ungeachtet dessen, dass man ihm ansonsten eine generelle Wahrheitsliebe nun wirklich nicht zuschreiben kann. Aber es gab aus ganz anderen Gründen, die in seiner psychischen Gestörtheit zu sehen sind, in Hitlers Verhalten so etwas wie eine gesteigerte „Durchlässigkeit“ für innerseelische Motive und Inhalte, die von seelisch Gesunden besser unter Kontrolle gehalten werden können. Es gab vieles in seiner Gefühls- und Gedankenwelt, das er gar nicht unterdrücken oder verheimlichen geschweige denn gezielt verfälschen konnte.

Vor allem im engsten Kreise seiner „Kumpane“, so nennt J. C. Fest die oft aus der SS rekrutierten Chauffeure, Leibwächter und persönlichen Bediensteten, und seiner Paladine der höheren Ränge mit erwiesener „Treue zum Führer“, wenn er sich in seinen abendlichen Tischgesprächen und anschließend bis in die Nacht ausufernden Monologen so richtig gehen lassen konnte, dann „floss aus ihm heraus“, was er nicht bewusst zurückhalten konnte. Das konnte aber auch geschehen, wenn er sich in langen Volksreden vor großen Menschenmassen so richtig in Rage geredet hatte, oder wenn er im Disput mit wichtigen Gesprächspartnern Widerstand spürte und sich dann ereiferte. Vor allem in dem, worin Hitler sich bei verschiedensten Gelegenheiten wiederholte, verriet er sich; er geriet dann immer wieder auf seine alten Gleise und kam nicht nur auf alte Geschichten etwa aus der „Kampfzeit“ zurück, sondern äußerte auch privateste Inhalte seines eigenen Glaubens und dies teilweise unverändert bis zu seinem letzten Testament kurz vor seiner Selbsttötung.

In solcher Weise war Hitler nicht nur unbeherrscht („affekt-inkontinent“), sondern auch „ideen-inkontinent“: er ließ privat-ideologisches quasi unter sich, oder wie der Volksmund sagt, er war nicht ganz dicht, jedenfalls in dieser Hinsicht. Psychiater sprechen von der Durchlässigkeit schizophrener Patienten für Antriebe des Unbewussten und Phantasien der Traumwelt, die sie selbst dann, wenn sie sich verfolgt fühlen, erst recht aber wenn sie sich begnadet wähnen, unzensiert äußern und ausbreiten. Es scheint ihnen eine Filterfunktion zu fehlen oder zumindest beschädigt zu sein, die derartige Äußerungen abmildert oder sogar unterdrückt, wenn sie inopportun sind und nicht in die politische oder soziale Landschaft passen.

„Schizophren“ im Sinne der Kreitlers (Die Weltanschauung der Schizophrenen) oder zumindest schizoid war Hitler auch insofern, als er einander eigentlich widersprechende Extremalisierungen menschlichen Rollenverhaltens dennoch in einer Person, nämlich in sich selbst, und gleichermaßen extrem zu verkörpern versuchte. Er sah sich selber als „germanischen“ Volkskanzler wie Hermann der Cherusker, Karl der Große, Friedrich der Große, auch Bismarck, gleichermaßen auch als Revolutionär und Volkstribun wie Cola die Rienzi, auch als Kriegsherr wie Napoleon und als Stratege wie Moltke und Schlieffen, und er selber erwarb sich den etwas zweifelhaften Ruf als GRÖFAZ (Größter Feldherr Aller Zeiten). Aber in gleicher Weise sah er sich auch in der Nachfolge des Jesus in dessen Rolle als Messias (Christus) und schließlich als Reformator wie Martin Luther, ungeachtet dessen, dass diese Idealgestalten in ihrem Selbstverständnis und äußerem Auftreten teilweise sehr voneinander unterschieden waren. Auch für deutsche Christen fielen die Bilder des Messias und des Kriegsherrn und politischen Herrschers auseinander, und seit vielen Jahrhunderten wurde zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft unterschieden.

Im alten Orient dagegen wurde die in den alten Stammeskulturen übliche Unterscheidung zwischen Stammesführer und Priester (Schamane) im Verlauf der Bildung von Großreichen gelegentlich relativiert oder aufgehoben: insbesondere Mose war zugleich „Führer“ (militärischer Oberbefehlshaber, politischer Machthaber und Gesetzgeber zugleich) und auch oberster Priester und Prophet (mit alleinigem Zugang zum Gott Jahwe auf dem Berge Horeb bzw. Sinai und im Zelt mit der Bundeslade). Erst später differenzierten sich in Israel wieder die Rollen des „Richters“ (der ein Stammesführer bzw. Volksführer war) und des Propheten aus, auch im Widerstreit miteinander. Es hing wohl auch vom eigenen Anspruch und vom politischen Erfolg ab, ob sich die differenten Rollen in einer Person vereinigen ließen: Jesus von Nazareth hatte bis zu seiner Kreuzigung vielleicht wirklich die Chance, Messias und auch König der Juden im Reich Gottes zu werden. Schließlich wurde er, wie manche Herrscher vor ihm und wenige nach ihm, sogar vergöttert, zum Sohn eines Gottes erhoben, ähnlich wie andere zum Beauftragten, Gesandten oder Stellvertreter Gottes erhoben worden waren. Noch im „Byzantinismus“ des oströmischen Byzanz war der Kaiser zugleich der oberste Priester des christlich-orthodoxen Glaubens im Range besonderer Heiligkeit. Hitlers eigene Ansprüche gingen in diese Richtung, er wollte in Allem der einzige Führer sein.

Solche Konfundierungen extremer Rollen haben ein überaus beispielgebendes Modell in Gott, dem Monotheos, der all dies allendlich Extreme in seiner all-einzigen Person verkörpert: Er ist der allmächtige Schöpfer allen Seins, insbesondere des Ihm ebenbildlichen Menschen, der als homo sapiens zwar über Geist verfügt, aber der Allwissenheit Gottes nicht gleichkommen kann. Gott ist auch Herr der Heerscharen, König der Könige, erster Gesetzgeber und am Ende der Zeiten zugleich auch oberster Richter, all dies in einer Person. Es gibt nur zwei relevante Ausnahmen: die Strafvollstreckung in der Hölle hat er an den Teufel delegiert, und die sich selber aufopfernde Liebe an seinen eingeborenen Sohn Jesus. Dass Gott aber mit Jesus Christus und daneben auch noch mit dem Heiligen Geist in der Heiligen Dreifaltigkeit identisch ist, beide auch mit ihm, dies alles ist dazu angetan, den darin erkennbaren monomegalen „All-Höchst-Allein-Person-Seins-Anspruch“ eher ad absurdum zu führen, als etwa kritischere Menschen davon überzeugen zu können. Auch Hitler ist von der Versuchung, alles Höchste gleichermaßen selber sein zu wollen, nicht frei geblieben. Sie hat sogar ganz wesentlich zu seinem Untergang und zu dem seines Nazi-Systems beigetragen.

Hitler fühlte sich von der „Vorsehung“ berufen. Den direkten Draht zum Außersinnlichen haben auch Schizophrene, wenn sie „Stimmen“ hören, die von anwesenden Gesunden auch bei angestrengtem Lauschen nicht wahrgenommen werden können, oder wenn sie „Visionen“ haben, wo für andere Menschen nichts dergleichen zu sehen ist. Wieder auf Hitler bezogen ist es die vorsichtigste, dann allerdings unabweisbare Annahme, dass er, ausgehend von einem Glauben an die Auserwähltheit und künftigen Weltherrschaft der „Arier“, zu denen er sich offenbar selber rechnete, schließlich in mehreren Schüben selber ein Sendungsbewusstsein bis zum Einnehmen einer Erlöser-Rolle entwickelte.