2.4.10.10.3. Hitlers Glaube

Zu dem ansonsten sehr informativen Buch von Michael Rißmann über Hitlers Gott (Pendo, Zürich, 2001) möchte ich vorweg eine kritische Anmerkung machen: In einer bemerkenswerten wissenschaftlichen Abstinenz und fast schon Keuschheit des Historikers, der sich streng auf die Methoden seines eigenen Fachs beschränkt, enthält dich Rißmann jeder Versuchung, das von ihm so kenntnisreich zusammengetragene und ausführlich referierte Wissen über „Hitlers Gott“ auch noch in seinen außerhistorischen Zusammenhängen zu verstehen und dem Leser verständlich zu machen. Er vermeidet ängstlich die bei Fachhistorikern verpönte außerhistorische Interpretation des historisch Eruierten. Diese ist aber durchaus möglich und sogar dringend notwendig. Dazu müsste man aber etwas von Biologie (z. B. über „Rasse“) und von Entwicklungspsychologie (z. B. über Hitlers Kindheitsentwicklung) verstehen, und vor allem von alt- und neutestamentlicher Religionswissenschaft.

Was letztere betrifft, kann man nur fassungslos fragen: Wie ahnungslos kann ein Historiker sogar nach Kenntnis fast aller zugänglichen Quellen über Hitlers Glauben sein, wenn er nach allen Einzelanalysen übersieht, dass der Antisemitismus christliches (urchristliches, katholisches und lutherisches) Erbe ist?! Rißmann merkt den Sinn des Ganzen vor lauter historischen Fakten nicht. Er weiß sicher sehr viel, denkt es aber nicht zu Ende. Das sollte deshalb in meinem Beitrag nachgeholt werden. Denn über historische Fakten hinausgehende Meinungen, Ansichten und Theorien sollten auch nach ihrem außerhistorischen Wahrheitsgehalt bewertet werden. Selbst wenn das in manchen Fällen als unmöglich erscheint oder als nicht angemessen, etwa wenn es um „Gott“ geht, z. B. ob es ihn gibt oder vielmehr nicht gibt, so sollte immerhin die Frage nach der Menschendienlichkeit eines solchen Konzepts gestellt werden können. Ich habe daher versucht, die Faktensammlungen des Autors zu ordnen und in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, in dem sehr wohl auch außerhistorische Einschätzungen und Theorien bedeutsam sein könnten.

Im folgenden referiere ich, z.T. zusammenfassend und mit erläuternden Ergänzungen, einige Gedanken aus Michael Rissmanns Buch (S. 44 – 54). Hitler wollte offenbar als Mann gesehen werden, „der einen großen Glauben hatte, und der Glaube hieß: ‚Deutschland!’“ Es war die Verheißung der Erneuerung „des Reichs“, von Hitler als ein Ziel beschworen, dem es nachzustreben galt, für das es sich zu kämpfen lohnte, und das schließlich eines Tages in einem apokalyptischen Endkampf errungen würde. Aus dem so verstandenen Untergang der Weimarer Republik musste – nach dem Heilsplan Hitlers – das Reich der Herrlichkeit folgen. Das „neue kommende Reich“, die „Wiederauferstehung“ und „Erlösung“ Deutschlands sollten das Endziel der Hitlerschen Heilsgeschichte sein (S. 47). Mit den von Rißmann in diesen Satz eingesetzten drei Begriffen muss wohl jedem Christen das Vaterunser in den Sinn kommen, dieses von Jesus selbst eingeführte Gebet (Matthäus 6, 9-13 und Lukas 11, 2-4), und im Vaterunser insbesondere die über viele Jahrhunderte gebetete Zeile „Es komme Dein Reich“ (Matthäus 6, 10 und gleichlautend Lukas 11, 2).

Von diesem Gebet, das vom hebräischen Gebet „Schemone Esre“ (= achtzehn Bitten) abgeleitet ist, und von weiteren spätjüdisch-gnostischen Traditionen ist weiterhin abgeleitet eine von dem italienischen Theologen und Ordensgründer Joachim di Fiore (1130 – 1202) entwickelte apokalyptisch-eschatologische Geschichtsdeutung. In ihr sah er den Verlauf der Menschheitsgeschichte als Aufeinanderfolge dreier Reiche oder Zeitalter: Nach der Zeit des Vatergottes (des Alten Testaments und seines Gesetzes) und der mit Christus angebrochenen Zeit des Sohnes (des Evangeliums) erwartete Joachim di Fiore als „Drittes Reich“ mit einer noch irdisch positiven Endphase die Zeit des Heiligen Geistes, ein Reich der Liebe und der Freiheit in einer 1000jährigen Phase des Friedens, in der dann die Erlösung der Menschheit abgeschlossen wird. Solche Vorstellungen einer 1000jährigen Endzeit werden auch als Chiliasmus oder Millenarismus bezeichnet.

Der italienische Staatsmann und Humanist Cola di Rienzo (1313 – 1354), dem jungen Hitler durch die von ihm mit Begeisterung aufgenommene Wagner-Oper „Rienzi“ bekannt geworden, deutete die joachimitisch religiöse Geschichtsauffassung ins Politische um und versuchte, mit einer revolutionären Erneuerung Roms und Italiens das Zeitalter des Heiligen Geistes einzuleiten. Eine solche diesseitige Verwirklichung des Friedensreiches, die auf die religiöse Herleitung verzichtet, bezeichnet man als politischen Chiliasmus. Damit bereitete Rienzi den politischen Messianismus der Neuzeit vor, vermittelt über die gleichermaßen trinitarische wie joachimitische Dialektik von G. W. F. Hegel und (in säkularisierter Version) von Karl Marx. Der Autor A. Moeller van den Bruck (1876 – 1925), ein Verfechter der „konservativen Revolution“ gegen Liberalismus und Parlamentarismus, verstand in seinem Buch „Das Dritte Reich“ (1923) unter dem im Titel genannten Begriff ein zukünftiges Reich, in dem nationale und sozialistische Tendenzen in einer „Neuen Ordnung“ miteinander vereint waren. Solche Ideen wirkten weiter in die politische Geschichte der Gegenwart, z. B. auch in der südamerikanischen Befreiungstheologie. Die Idee des „Dritten Reichs“ wurde insbesondere vom Nationalsozialismus übernommen, und keineswegs nur als propagandistisch griffige Parole, sondern in ihrem chiliastischen Sinn, der auch in der Verdeutlichung zum „Tausendjährigen Reich“ zum Ausdruck kam, das dann allerdings auf schäbige 12 Jahre (von 1933 – 1945) zusammenschnurrte. Hitler versuchte tatsächlich, wie Marx vor ihm, schon im Diesseits ein irdisches Paradies zu errichten, freilich nicht das Paradies der siegreichen Arbeiterklasse, sondern das der „arischen Rasse“, und bei Hitler weiterhin religiös überhöht durch ursprünglich christliche Glaubenstraditionen, insbesondere einer von der „Vorsehung“ bewirkten oder unterstützten Heilsgeschichte (vgl. Rißmann, S. 54). Darüber hinaus ging es ihm auch um die Errettung des ganzen Abendlandes, ja schließlich der ganzen Menschheit (Rißmann, S. 57 und 61).

Hitler hatte den allwissend-allmächtigen Gott der Juden, Christen und Muslime pseudo-darwinistisch uminterpretiert: Sein Gott, „die Vorsehung“, hatte selber den Kampf der Rassen initiiert, hatte zumindest die gegenseitige Vernichtung von Rassen als legitime Kampfhandlung akzeptiert (Rißmann, S. 200). Gott überwachte nicht nur als Schiedsrichter die Auseinandersetzungen, sondern er verhilft sogar dem „reinrassigen“ deutschen Volk zum Sieg. Rißmann (S. 48) zitiert dazu Hitlers pathetische Bekundung aus „Mein Kampf“ (S. 70): „Die ewige Natur rächt unerbittlich die Übertretung ihrer Gebote. So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn“ (S. 70).