Zur Unterstützung meiner eigenen Argumentation, die ja in einigen Hinsichten als provozierend empfunden werden könnte, berufe ich mich abschließend auf einen Gewährsmann, der gewiss unverdächtig ist, am Nationalsozialismus und vor allem am Völkermord an den Juden irgendetwas beschönigen oder auch nur relativieren zu wollen, nämlich auf den Philosophen und Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem. Er ist als ein Pole jüdischer Herkunft in Lemberg, der alten Hauptstadt des inzwischen ukrainischen Galizien, geboren und aufgewachsen, also in einem ehemals blühenden Zentrum der jiddischsprachigen jüdischen Diaspora am Rande von Österreich-Ungarn. So ist nicht zu verwundern, dass er nicht nur die polnische Muttersprache, sondern auch Deutsch und Russisch in Wort und Schrift beherrscht, dazu auch Französisch und später Englisch. Im zweiten Weltkrieg war er als junger Mann am polnischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer beteiligt, und später musste er sich gegen die stalinistische Zensur behaupten. Wegen seiner gleichzeitig kritischen Distanz zum polnischen Katholizismus befand er sich immer wieder zwischen Baum und Borke. Er bewahrte dabei sein Engagement für Aufklärung und Rationalität und bewies weiterhin seine intellektuelle Redlichkeit und Autonomie der Urteilsbildung.
In seinem Essay „Provokation. Besprechung eines ungelesenen Buches“ (in: Provokationen, Suhrkamp-TB, Frankfurt/M., 1990, S. 173 - 237) macht er einen fiktiven Horst Aspernicus zum Sprachrohr für Meinungen, deren Inhalt ihm selber anscheinend als so provozierend erschien, dass er das Risiko scheute, sie als seine eigene Auffassung offen zu vertreten. In dieser fiktiven Buchbesprechung befasst er sich ausführlich mit dem Massenmord des Nazi-Regimes an den europäischen Juden und seinen Hintergründen. Er lässt nach einigen Vorüberlegungen den Aspernicus feststellen, dass „das Verbrechen selbst ... vom analytischen Denken nicht bis auf den Grund erforscht (wurde)“ (S. 194), und er setzt fort: „ ... es geht mir um (den) menschlichen Sinn (H. Sch.: vielleicht eher „Hintergrund“) des verübten Verbrechens, den wir ergründen müssen. Ihn zu ergründen ist unsere Pflicht“ (S. 195). Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen führt er den Antisemitismus Hitlers und des Nazi-Regimes zwar auf alte, im Kern christliche Wurzeln zurück, aber deren Mutterboden von noch weiter zurückliegenden jüdischen Traditionen, nämlich den Anspruch des „auserwählten Volkes“ auf das „Gelobte Land“, erwähnt er nicht ausdrücklich. Es ist schon auffällig, wenn Stanislav Lem, dieser allgemeinhistorisch und vor allem religionsgeschichtlich so hoch gebildete Autor, seine Suche nach historischen Vorläufern des nazistischen Massenmords an den Juden schon im christlichen Mittelalter enden lässt, und somit dem unter Führung des Mose an den Kanaanäern vollzogenen Genozid, von den auserwählten Israeliten bei der Eroberung Kanaans auf Geheiß ihres Gottes Jahwe ausgeübt, nicht näher nachgeht.
Die Art, wie Lem mit der Rolle der Juden in der Geschichte umgeht, mag zusammenhängen mit Problemen, die er ganz persönlich mit seiner jüdischen Herkunft hat. Lem hat in vielen hundert Seiten mehr oder weniger biographischer Aussagen die jüdische Herkunft seiner Eltern (beider Eltern?) praktisch nicht erwähnt. Ich habe ihn daher lange Zeit für einen vom katholischen Glauben abgefallenen polnischen Atheisten gehalten, vor allem nach seiner Erzählung „Tagebuch“ (in: Nacht und Schimmel, Suhrkamp-TB, Frankfurt/M., 1976, S. 83 – 105), in der er leicht parodistisch, aber zugleich treffsicher, den Ton päpstlicher Enzykliken wiedergibt, und zwar so meisterhaft, dass man meinen könnte, die Übersetzung eines scholastischen Textes vor sich zu haben. Ähnlich wie bei der Nichtbeachtung seiner jüdischen Herkunft könnte man auch bei der Nichterwähnung der massenmörderischen Landnahme in Kanaan von einem vielleicht verständlichen Skotom sprechen. Aber selbst wenn Lem in meiner Sicht seine Suche nach den Hintergründen der Schoah zumindest in dieser Schrift vorzeitig beendet, ist er aber doch in der richtigen Richtung weit vorangekommen.
Den Ertrag seiner Überlegungen möchte ich in einigen Zitaten wiedergeben. Auch Lem, der nicht nur durch sein Medizinstudium, sondern weit darüber hinaus über die moderne Biologie sehr gut unformiert ist, geht davon aus, dass die Herleitung des Nationalsozialismus aus Darwins Evolutionstheorie völlig verfehlt ist. „Hitler verstand (den Darwinismus) auf seine Weise, d. h. platt und falsch als Gebot ..., durch das die Natur (die er mit Vorliebe als die Vorsehung bezeichnete) es rechtfertigt und die Stärkeren geradezu damit beauftragt, die Schwächeren zu töten. Wie schon manch primitiver Geist vor ihm (H. Sch.: auch nach ihm!) fasste er die Formel vom „Kampf ums Dasein“ im buchstäblichen Sinne auf, wenngleich diese mit der physischen Vernichtung der Opfer durch Raubtiere nichts gemein hat: ... die totale Liquidierung der Schwächeren würde den Hungertod der Raubtiere nach sich ziehen. Der Nationalsozialismus las also aus Darwin nur das heraus, wonach er als etwas Übermenschlichem lechzte, nämlich die Gleichbedeutung (H. Sch.: die Rechtfertigung!) des Mordes an den Schwächeren mit dem Wesen der Weltgeschichte“ (S. 220).
Lems Analyse geht in eine ganz andere Richtung: „Gemeinhin nimmt man
an - und heute sind sich alle den Nationalsozialismus untersuchenden Wissenschaftler
darin einig - , dass die Juden die idée fixe des Dritten Reiches waren
... dass es sich hier um einen in Aggression umschlagenden Verfolgungswahn
handelte, um eine echte soziale Paranoia, da man die Wurzel alles Bösen
auf der Welt in den Juden erblickte... als das Essentielle des Judentums
(galt) – entgegen den kanonischen Thesen des Nationalsozialismus – nicht
die Rasse, sondern das Böse, als dessen partikuläre Inkarnation in besonders
hoher Konzentration die Juden galten“ (S. 211/212). Lem führt seine Überlegung
noch weiter und fragt, auf den geplanten und realisierten Massenmord an
den europäischen Juden bezogen: „Was bedeutete diese Mission in letzter
Instanz?“ und beantwortet diese Frage mit einer Aussage, deren provozierender
Effekt seinem Essay den Titel „Provokation“ verschafft hatte: „ ... die
Deutschen töteten (Gottes) „auserwähltes Volk“, um dessen Platz einzunehmen
und nach der blutigen Enthronisierung in effigie (bildlich) zu selbsternannten
Auserwählten der Geschichte zu werden“ (S. 214). Und an anderer Stelle
erläutert er: „Die Deutschen sollte edle (H. Sch.: in ihrem Adel auserwählte)
Arier sein, die ersten unter den Europäern, heldenhafte Sieger“ (S. 184).
Dass die Herleitung des nationalsozialistischen Antisemitismus aus altchristlichem
Judenhass keine Außenseitermeinung von Lem ist, möchte ich schließlich
mit einer ganz aktuellen Stellungnahme von Jehuda Bauer belegen (DIE ZEIT,
23. 3. 2005), des langjährigen Leiters und weiterhin wissenschaftlichen
Beraters des Internationalen Zentrums für Holocaust-Forschung am Yad Waschem,
der Schoah-Gedenkstätte in Jerusalem. Er schreibt ganz unumwunden: „Der
Antisemitismus der Nazis beruhte auf christlich antijüdischen, albtraumartigen
Vorstellungen“. Bauer deutet an, dass der Hass gegen die Juden darin begründet
sei, dass die Nazis die Juden als zu vernichtende Konkurrenten um die
Weltherrschaft ansahen, und ich ergänze, wohl wegen ihrer Rolle als auserwähltes
Volk Gottes, die Hitler dann für die auserwählte Rasse der Arier in Anspruch
nahm. Dieser Anspruch war nicht mehr nur ideologisch, sondern hatte schon
religiöse Qualitäten, jedenfalls war er, wie Bauer betont, unpragmatisch:
„Die Nazis ermordeten nämlich Juden, obwohl diese als Zwangsarbeiter kriegswichtiges
Material hätten produzieren können“.