Die hier vorgetragenen Überlegungen haben uns zu dem Ergebnis geführt, dass der Hitlersche Arierwahn biologisch nicht begründbar ist. Es liegt vielmehr nahe, ihn als eine säkularisierte Form des monotheistischen Auserwähltheitsglaubens und damit verbunden der Verheißung eines Gelobten Landes zu interpretieren. Nun ist der Auserwähltheitsglaube in seiner jüdischen Weiterentwicklung keineswegs von vornherein zu kritisieren. Denn wenn Menschen sich henotheistisch als von ihrem Gott (der ja nicht unser Gott sein muss) auserwählt fühlen, dann ist dagegen eigentlich nichts einzuwenden. Schwieriger wird es mit der Akzeptanz, wenn sie glauben, dass der einzige Gott, den es überhaupt gibt, nämlich der Gott, der in seiner Allmacht die Welt und den Menschen erschaffen hat, sie und nur sie auserwählt habe, die anderen Völker dagegen nicht, oder er habe diese sogar verworfen. Das erscheint aus heutiger Sicht schon als recht seltsam, aber nicht notwendigerweise als bedenklich, solange die an ihre Auserwähltheit glaubenden Menschen bereit sind oder sich dazu durchringen, die nicht in dieser Weise auserwählten Menschen dennoch in Ruhe und Frieden leben zu lassen, vor allem wenn sie ihre eigene Auserwähltheit als eine Selbstverpflichtung auffassen, ein im spezifisch lokalen Sinn ihrer eigenen Religion gottgefälliges Leben zu führen, ohne Universalisierungsansprüche zu stellen.
Erst wenn der „Unglaube“ (der andere Glaube!) der Nichtauserwählten zum todeswürdigen Verbrechen erklärt wird, wenn dann die Auserwählten anfangen, die von ihrem Gott verworfenen Andersgläubigen schon auf Erden selber zu unterdrücken, zu vertreiben und sogar massenhaft zu ermorden, erst dann wird der Auserwähltheitsglaube des einen Auserwählten zu einer ernsthaften Gefahr für die andersgläubigen Auserwählten, und schließlich für die ganze übrige, anscheinend von Gott oder der Vorsehung verworfene Menschheit. Dann erst, aber dann wirklich ernsthaft, müssen sich die nicht auserwählten Menschen mit allen gemeinsamen Kräften gegen diese Gefahr wehren. Im Falle Hitler haben das im Zweiten Weltkrieg die Alliierten für die ganze Welt getan, allerdings kam das für Millionen Juden viel zu spät. Der Sieg der Alliierten über das Naziregime hat die ganze zivilisierte Welt vor einer schlimmen Zukunft bewahrt und war letztendlich auch für uns Deutsche hilfreich. Denn seit die Deutschen keine auserwählten Arier im Dienste eines Gröfaz („größter Feldherr aller Zeiten“) mehr zu sein brauchten, und seit sie das himmelschreiende Unrecht der Judenverfolgung und des Massenmords an ihnen als schwere Schuld der Täter erkannt und in eigener Scham bekannt haben, konnten sie wieder in die Völkergemeinschaft aufgenommen werden.
Ich hoffe, dass diese Klarstellung dazu beiträgt, deutlich zu machen, dass meine These sich nicht gegen irgendwelche lokalen Formen eines Auserwähltheitsglaubens, sondern nur gegen den globalen Anspruch auf Weltherrschaft der Auserwählten richtet, also gegen die inhumane Globalisierung solchen Glaubens. Nach dieser Klarstellung mag es auch als vertretbar erscheinen, wenn ich in aller Deutlichkeit das folgende Ergebnis meiner Überlegungen präzisiere:
Insbesondere der Antisemitismus, aber auch der damit verbundene Rassismus hat sich ursprünglich aus christlichen Vorläufern entwickelt. Die „arische Rasse“ (die es im biologischen Sinne nie gegeben hat) ist die säkularisierte Variante eines Auserwähltheitsglaubens. Adolf Hitler hat von dieser Privatreligion ausgehend, die mit Wissenschaft nichts, aber auch gar nichts zu tun hat, ein ganzes Volk zu missionieren und politisch zu mobilisieren versucht. Mit dem von ihm propagierten und veranlassten Massenmord an den Juden hat er den Alleinherrschaftsanspruch der auserwählten „Arier“ auf eine besonders kriminelle und auch perverse Art durchzusetzen versucht. Massenmord ist aber durch keine Ideologie und auch durch keinen Glauben, auch nicht von so oder anders „Auserwählten“ an ihren Gott oder an die „Vorsehung“, zu rechtfertigen. Und keinem Gott, auch nicht dem allerhöchsten oder gar all-einzigen, darf es erlaubt sein, seinem Volk ein Land zu geloben, das schon anderen Menschen gehört, die es seit Generationen bewohnen. Ich will ganz ausdrücklich ergänzen, dass dies auch für die inzwischen von Polen bewohnten bisherigen deutschen Ostprovinzen und für das inzwischen von Israelis besiedelte Israel in seinen heutigen Grenzen gelten muss. Die eine Vertreibung (der Deutschen, der Palästinenser) wird durch eine zukünftige Vertreibung (der Polen, der Israelis) keineswegs wieder „gut“ gemacht. Viel eher könnte man sagen: jede neue Vertreibung war schon Folge von vorigen Vertreibungen, und jede nächste gerät in die Gefahr, von einer weiteren „gerächt“ zu werden. Das Vertreiben muss mal ein Ende finden! Jetzt! In welcher Phase gegenseitiger Vertreibungen auch immer!
Ich will abschließend versuchen, meine Gesamtsicht dieser so komplexen Problematik zu formulieren. Zunächst ist von einer Abfolge religiöser Traditionen auszugehen, deren Startpunkt mit Jan Assmann (Moses der Ägypter. Hanser, München, 1998) im Monotheismus des ägyptischen Pharao Echnaton vermutet werden kann. Vom atongläubigen Ägypter Mose wurden in Nordägypten ansässige Israeliten, die ursprünglich ältere gemeinsemitisch polytheistische oder auch henotheistische Glaubensformen pflegten, zum nunmehr gleichermaßen monotheistischen Jahwe-Glauben bekehrt. Aus diesem bildete sich unter dem Einfluss der Predigt des Jesus von Nazareth und seiner Jünger und Evangelisten das Christentum. Auch der später von Mohammed begründete Islam ist mit dem Judentum und Christentum eng verwandt. Auf vorwiegend christliche Grundlagen, aber auch auf alttestamentliche und insofern jüdische Quellen gehen wiederum Hegels Dialektik und damit auch der Marxismus ebenso wie der Antisemitismus und Vorsehungsglaube des Adolf Hitler zurück, insbesondere mit ihren Heilsversprechen für die auserwählte Klasse bzw. Rasse und mit den daraus resultierenden Versuchen, jeden Konkurrenten um die eigene Auserwähltheit brutal zu vernichten. Damit sind alte Themen wieder aufgenommen und säkularisierend umgewandelt worden, ohne dass sich am Anspruch auf absolute Herrschaft des Einen und von ihm legitimiert der jeweils Auserwählten etwas geändert hätte.
Bei aller Verwandtschaft untereinander müssen die verschiedenen geschichtlichen Konkretionen des ägyptischen Ein-Gott-Glaubens dennoch je für sich genommen werden, wenn es darum geht, ihr Zusammenwirken (miteinander, aufeinander und gegeneinander) im besonderen geschichtlichen Moment einzuschätzen. Insbesondere das Geschehen, das in den beiden Weltkriegen eskalierte, kann nur mit einem pluralistischen Ansatz angemessen analysiert werden. Schließlich haben wir am Fall „Hitler“ feststellen müssen, dass hier in einer Person die verschiedenen Spezifizierungen monotheistischer Verheißungen und Aggressions-Potentiale zu einer extrem explosiblen Mischung, ja zu einer gewaltigen Explosion von militärischer Gewalt und Gegengewalt mit schweren Verlusten an Menschenleben und Kulturgütern geführt haben, und über Jahre der Welt verborgen, in einer gezielten Massenvernichtung von bisher ungekanntem Ausmaß gipfelten: im Völkermord an wahrscheinlich 6 Millionen europäischen Juden. Es war ein Massenmord, der von den Urenkeln an den noch älteren Urenkeln des gleichen geistigen Urahnen begangen wurde!
In diesem Gesamtszenario spielen das oft bemühte Preußentum der Deutschen und der gleichermaßen oft zur Erklärung herangezogene Monopolkapitalismus der westeuropäisch-atlantischen Wirtschaftsmächte eine eher marginale und bislang maßlos überschätzte Rolle. Sie dienten als Sündenböcke und Buhmänner, die von den eigentlich bewegenden religiös-ideologischen Themen und Konfliktursachen ablenken sollten. Das gilt auch für den immer noch so genannten Sozial-„Darwinismus“, der mit Biologie und insbesondere Darwin nichts, dagegen mit dem Jahrhunderte alten Kampf und Krieg zwischen religiös-ideologischen Konkurrenten um die Weltherrschaft sehr viel zu tun hatte. Solche Ansprüche mit ihren daraus abgeleiteten mörderischen Konsequenzen können nur fanatisch gläubige Menschen entwickeln, keineswegs irgendwelche „Tiere“ oder gar pflanzliche Lebewesen. Aber im Unterschied zu den in ihren Antrieben vornehmlich genetisch festgelegten Tieren können Menschen sich von ihren soziokulturell entwickelten und tradierten Motiven lossagen und sich schließlich davon befreien. Sie müssen die Zusammenhänge nur richtig untersucht und verstanden haben, um sie mühsam, aber nach jedem Teilerfolg immer entschiedener ändern zu können. Und zwar um der Menschen willen, aller Menschen, so unterschiedlich ihre religiösen und weltanschaulichen Orientierungen im Einzelnen sein mögen.
Vivent les différences et la pluralité!