2.5.2.2. Zur Philosophie des Epikur selbst: "hedoné" als ethisch akzeptables Ziel

Von der Zeit an, in der Epikur seine wichtigsten Schriften verfasste, bis heute, sind etwa 2300 Jahre vergangen. Das ist eine lange Zeit, in der in der Weltgeschichte, aber auch in der Philosophie viel geschehen ist. Da liegt die Frage nahe, was Epikur heute noch so interessant und wichtig erscheinen lässt. Ein erster Grund ist der, dass Epikur über fast zwei Jahrtausende schon von seinen Zeitgenossen und weiterhin bis heute von den christlichen Theologen diffamiert und verfemt wurde. Wilhelm Weischedel (Die Philosophische Hintertreppe. dtv München 1966, S. 60) gibt die zeitgenössische Kritik sehr anschaulich wieder: „Was zunächst Epikur angeht, gehört er zu den meist geschmähten Philosophen der Antike. Übermäßige Lust am Essen und Trinken wird ihm nachgesagt; infolge der Überfülle des Magens müsse er sich mehrmals am Tage erbrechen. Überhaupt erschöpfe er seine Geisteskraft in nächtlichen Gelagen. Zudem wird ihm eine allzu große Neigung zum Liebesgenuss vorgeworfen. Sein reger Briefwechsel mit Hetären, der noch in einigen Fragmenten erhalten ist und in dem er den Damen reizende Nettigkeiten sagte, wird beanstandet. Dass er mit einem dieser Frauenzimmer zusammenlebt, gilt als besonders gravierend... Schließlich unterschiebt ihm ein böswilliger Gegner sogar ein Dutzend unzüchtiger Briefe. Über all diesen Untaten soll er ein ernstes Studium verabsäumt haben. Kurz: man lässt keinen guten Faden an Epikur. Epiktet, der strenge römische Stoiker, nennt ihn schlicht und einfach einen „Wüstling“. Andere Spätere reden von ihm und von seiner Schule gar als von „epikureischen Schweinen“.“ Der Eifer, mit dem solche Schmähungen damals und dann weiterhin vorgebracht wurden, lässt darauf schließen, dass Epikur von seinen Kritikern als bedeutsamer Gegner angesehen wurde. Den christlichen Theologen und Philosophen diente er als Antipode zu den scholastisch vereinnahmten griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, die noch vor Epikur gelebt und gelehrt hatten. Zwar konnten diese beiden Philosophen noch gar nichts von Jesus wissen, sie wurden aber zur philosophischen Rechtfertigung des christlichen Glaubens gern herangezogen, wohingegen Epikur als Warnung vor einem sündhaften Leben dienen konnte.

Epikur galt seinen christlichen Kritikern als gottlos, weil er nicht an den mosaischen Monotheos glaubte, sondern den Glauben an viele Götter tolerierte. Wegen seiner hedonistischen Grundeinstellung - die als rücksichtslose Genuss-Sucht auch auf Kosten Anderer hingestellt wurde - galt er darüber hinaus als hemmungslos, schamlos, haltlos, gewissenlos; ich könnte noch mehr von solchen -losigkeiten aufzählen, die allesamt nichts anderes als Beschimpfungen sind. Er galt also insgesamt als unsittlich und unmoralisch, ja quasi als philosophischer Lüstling, dem es nur um die Befriedigung eigener Bedürfnisse ging, und das grenzte in der Sicht der frommen Kritiker offenbar schon an die Todsünden der Unzucht und der Selbstbefriedigung. Christliche Kritiker haben die "materialistisch-hedonistische" Philosophie des Epikur schon über lange Zeit so systematisch schlecht gemacht, dass inzwischen "materialistisch" schon als gewinnsüchtig, jedenfalls als ungeistig gilt, und "hedonistisch" als bloß eigensüchtig verstanden wird.

Heutzutage befleißigen sich die christlichen Kritiker des Epikur einer etwas moderateren Sprache, die aber immer noch abfällige Wendungen gebraucht und den Philosophen nicht so ernst nimmt, wie er es verdient. Als Beispiel nehme ich den katholischen Philosophen Johannes Hirschberger (zunächst in der Katholischen Universität Eichstätt in Oberbayern tätig, später in der Universität Frankfurt/M.) und greife einige wenige seiner Schmähungen heraus, die er in seiner zweibändigen "Geschichte der Philosophie", (Bd. I, SS. 275 - 288) gegen Epikur und die Epikureer richtet. Als Maßstab dient Hirschberger natürlich ein scholastisch rezipierter Aristoteles, und an diesem gemessen ist für Hirschberger die epikureische Theorie "ein oberflächliches Gerede" (S. 278), dem Aristoteles "nur äußerlich nachgesagt" (S. 278), "ohne konsequentes Zu-Ende-Denken prinzipieller Positionen" S. 286), in seiner Stellungnahme zum Wahrheitsproblem "viel zu sorglos". Im übrigen sei die Sorglosigkeit symptomatisch für sein ganzes Denken (S. 278). Da fehlt nur noch der Vorwurf, dass Epikur als Philosoph schludrig gearbeitet habe. Ähnlich charakterisiert Hirschberger auch die Ethik des Epikur, nach welcher der Mensch sein Leben gestalten könne "wie es ihm beliebt" und "über sein Tun und Lassen frei nach Gefallen ... verfügen" könne (S. 282). Die Epikureer seien aber keine gefährlichen Menschen (sic!). Sie wüssten zu leben, sie "reden schön und schreiben schön", und ihre Philosophie "hat etwas von der Art der gefälligen leichten Muse". Auf diese Weise ersetzt Hirschberger die früher praktizierte Drohung mit dem Höllenfeuer nunmehr durch den Vorwurf der Belanglosigkeit mit dem Ziel einer Ausgrenzung des Philosophen Epikur aus dem Bereich ernstzunehmender Philosophie. Ich will aber nicht mit gleicher Münze zurückzahlen und etwa die christlichen Kritiker mit ähnlich negativen Kennzeichnungen versehen. Die Wörter, die mir dazu einfielen, habe ich sogleich wieder aus dem Text entfernt! Ich will auch undiskutiert lassen, in welcher Geisteshaltung der christliche Vorwurf gegen Epikur begründet ist, obwohl das sehr aufschlussreich sein könnte.

Stattdessen möchte ich versuchen, in einer Art nachträglicher Ehrenrettung die Auffassungen des Epikur so darzustellen, wie er sie selber gemeint haben konnte, und ich fange an mit dem griechischen Wort "hedoné", von dem der Begriff Hedonismus abgeleitet wurde. Hedoné ist schwer zu übersetzen, und Epikur verwendet daneben auch noch andere Wörter aus dem gleichen Sinnfeld, die insgesamt von verschiedenen Interpreten unterschiedlich übersetzt wurden, so etwa mit "Lust", "Glück", "Freude", "Zufriedenheit", "Seelenruhe", „Unerschütterlichkeit“, "Wohlergehen", "Gelassenheit", "Wohlgefühl", usw. Aus den inhaltlichen Zusammenhängen wird aber deutlich, dass Epikur (ähnlich wie auch andere griechische Philosophen) zwar Wörter der alltäglichen Umgangssprache verwendete, diese aber mit einem abstrakteren, allgemeineren Sinn versah. Auf diese Weise konnte er einerseits damit rechnen, auch von ungebildeten Menschen in einem Mindestmaß verstanden zu werden, und das erleichterte die pädagogische Vermittlung seiner Philosophie in kurzen Merksätzen, und damit das Sicheinprägen und Verfügbarhalten seiner Einsichten bei seinen Anhängern. Andererseits meinte er mit solchen alltagssprachlichen Wörtern das ihnen Gemeinsame, also etwas Abstrakteres, das man in heutiger Sprache mit "positiven Gefühlen" (im Unterschied zu "negativen Gefühlen") wiedergeben könnte.

Wenn Epikur die Hoffnung der Menschen auf Glück und Zufriedenheit, ihr Genießen von Freude und auch Lust nicht nur freundlich akzeptierte, sondern diese positiven Gefühle in den Rang eines erstrebenswerten hohen Zieles setzte und dieses als hedoné bezeichnete, so schloss das auch das bloß Angenehme und sogar das Ausbleiben oder Nachlassen des Unangenehmen, insbesondere das Schwinden der Angst und des Schmerzes mit ein. Es ging Epikur bei der hedoné um alle möglichen positiven Gefühle, die es zu bewahren und zu steigern galt. Hedoné war kein psychisches Einzelphänomen, sondern ein philosophisches Thema, ein ethisches Programm.

Epikur hatte sich die Freiheit genommen, sich selbst von überflüssigen Ängsten und Nöten zu entlasten und auch seinen Mitmenschen stattdessen Glück, Lust, Zufriedenheit und Freude zu gönnen, möglichst allen Menschen, jedenfalls den meisten, so weit wie irgend möglich. Sein Streben nach Positivierung der Gefühle, und zwar schon im Diesseits, war insofern alles andere als egoistisch. Es war faktisch oftmals eher altruistisch: nämlich triebfreundlich, menschenfreundlich, kinder- und frauenfreundlich, ja tierfreundlich. So hatte Epikurs "Hedonismus" nichts mit eigensüchtiger Bedürfnisbefriedigung zu tun, sondern sollte als Geschenk für verängstigte, eingeschüchterte Mitmenschen verstanden werden, als eine entlastende Erlaubnis, auch nach eigenem irdischem Glück streben zu dürfen, statt nur irgendwelchen den Menschen auferlegten Pflichten nachkommen zu müssen. Und sein Materialismus war keineswegs gewinnsüchtig, wie ihm seine Kritiker abwertend vorhielten, sondern sollte besser als realistisch, wirklichkeitsnah, irdisch und lebenspraktisch gekennzeichnet werden.

Die Philosophin Gisela Striker ("Epikur", in: O. Höffe (Hrsg.): Klassiker der Philosophie. Beck, München 1994, S. 112/113) äußert sich dennoch kritisch zu Epikurs Hedonismus, den sie als reduktionistisch interpretiert, also als ein Zurückführen aller Positivität (des größten Glücks) auf die körperliche Unversehrtheit und auf die Aussicht, auch in Zukunft mehr Freuden als Leiden zu erfahren. Was man also zum glücklichen Leben wirklich brauche, seien bloß Nahrung, Kleidung, ein paar Freunde und die Philosophie, und das alles sei ohne viel Aufwand zu haben. Es sei also jedermann möglich, glücklich zu werden. Ich sehe diese Strikersche Interpretation der Philosophie Epikurs, nämlich als Anleitung zum kleinen Glück, als ihrerseits viel zu reduktionistisch an, weil sie dabei einiges übersieht. Sie lässt beispielsweise außer Acht, dass dem Epikur eine gewisse Einfachheit der Darstellung nur dazu dienen sollte, auch philosophisch ungebildete Menschen von überflüssigen Zwängen und Täuschungen zu befreien, damit auch sie "im bescheidenen Rahmen ein zufriedenstellendes Leben führen" können. Wer allerdings höhere Ansprüche hat, und die fangen nicht erst mit dem Interesse an der Philosophie an, und diese auch mit eigenen Mitteln realisieren kann, wird sich nicht auf ein solches Minimalangebot des Glücklichseins beschränken wollen, und Epikur selber hat dies auch nicht getan. Aber dass Epikur bestrebt war, die Schwächeren vor Selbst- und Fremdüberforderung zu bewahren, das ist ihm hoch anzurechnen!

Ernster zu nehmen ist der Vorhalt der Philosophin (S. 113), dass es offenbar moralisch richtige Handlungsweisen gebe, die mit dem persönlichen Glücksstreben entweder unvereinbar seien oder doch seine Einschränkung verlangten, wie etwa das Opfer des eigenen Lebens für andere. Ich denke aber, dass das mit Epikurs Ansatz durchaus vereinbar wäre, weil man sehr wohl ein gutes Gefühl dabei haben kann, wenn man sich, auch auf eigene Kosten anderer Art, für hilfsbedürftige und vor allem für geliebte Menschen einsetzt. Und wer zu seiner eigenen Zufriedenheit bemüht ist, mit seinen Mitmenschen nicht in Konflikt zu geraten, sollte schon aus diesem Grunde darauf bedacht sein, ein gegebenes Versprechen selbst dann einzuhalten, wenn ihm daraus unvorhergesehene Nachteile erwachsen sollten. Dabei geht es nicht um eine abstrakte Gerechtigkeit, sondern um eine gegenseitige Verlässlichkeit, die das Leben erleichtert, ganz im Sinne Epikurs. Dementsprechend können die traditionellen Tugenden der Weisheit, Tapferkeit und Selbstbeherrschung durchaus notwendige und sogar hinreichende Voraussetzungen eines glücklichen Lebens sein, denn Weisheit braucht man, um sich von unbegründeten Ängsten und leeren Wünschen zu befreien, und in Notfällen helfen Tapferkeit und Selbstbeherrschung, damit man sich in seinem Verhalten weiterhin an philosophischer Einsicht orientieren kann (G. Striker, S. 113). Unter der Voraussetzung, dass ein Mensch eine natürliche Grundorientierung hat, also nicht erst bei der Ermordung anderer Menschen ein richtig gutes Gefühl entwickelt, könnte also die Verhaltensregel gelten, die einmal ein Psychotherapeut seinem zwangsneurotisch entscheidungsunsicheren Patienten gegeben hatte: "Tue im Zweifelsfalle das, bei dem du das bessere Gefühl hast". Damit könnte Epikur einverstanden sein.

Gisela Striker kann sich auf Epikur selbst beziehen, wenn sie versucht, das hier angesprochene Problem einer allgemeineren Lösung zuzuführen (S. 109): Der sein Glück, also die hedoné, anstrebende Mensch zieht dabei "auch die Folgen möglicher Handlungen in Betracht und (tut) jeweils das, was auf die Dauer zu einem Höchstmaß an Annehmlichkeit (HS: ich würde es lieber "Wohlgefühl" nennen) führt. So kann es durchaus vorkommen, dass man auf ein sich anbietendes Vergnügen verzichtet, um dessen unangenehme Folgen zu vermeiden, oder dass man umgekehrt (z.B. bei einer Zahnbehandlung) vorübergehend Schmerzen in Kauf nimmt, wenn man damit rechnen kann, auf diese Weise auf die Dauer ohne wiederkehrende Zahnschmerzen zu leben. Dazu passt, was Olof Gigon in seinem Buch über Epikur (Epikur. Von der Überwindung der Furcht. dtv-Bibliothek, S. 29) zu diesem Thema vorbringt., nämlich eine dem Sophisten Protagoras zugeschriebene Theorie, die das Verhältnis des Menschen zur Arznei als Leitbild annimmt: Danach gibt es für jeden Krankheitszustand Heilmittel, die eine besonders förderliche Wirkung ausüben. Diese Heilmittel sind freilich verschieden nicht nur für verschiedene Menschen, sondern auch in verschiedenen Zuständen ein und desselben Menschen; es bleibt aber dabei, dass man das Mittel einnehmen muss, wenn man die Gesundheit gewinnen oder bewahren will (HS: wenn man dies mit einem solchen Heilmittel tatsächlich erreicht).

Epikur nimmt mit einer ähnlichen Grundeinstellung das vorweg, was in unserer Zeit insbesondere als Theorie der medizinischen und psychologischen Indikationsstellung methodisch präzisiert worden ist: dabei geht es um eine Gesamtorientierung zielführenden Verhaltens unter Berücksichtigung von Kosten und ggf. schädlichen Nebenwirkungen. Um nun einen solchen hedonistischen Kalkül (so formuliert es G. Striker selbst, S. 110) anwenden zu können, braucht man offenbar in einem Mindestmaß eine korrekte Vorstellung von den in die Gesamtrechnung eingehenden Positivitäten und Negativitäten. Und das heißt, dass der wahre Hedonist nicht triebhaft-kurzschlüssig, sondern mit Bedacht, überlegt und verantwortlich handelt! Soweit dieser eine wichtige Aspekt von Epikurs philosophisch-ethischer Theorie.