2.5.2.4. Entängstigung als Ziel des Philosophierens

Ich komme nun zu einem weiteren Hauptpunkt von Epikurs Philosophie, der mich besonders angesprochen hat, weil er mit dem zu tun hat, womit ich mich über Jahrzehnte beruflich befasst habe, nämlich mit der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Ich weiß natürlich, dass es diese Studienfächer und Berufe, obwohl ihre Bezeichnungen aus der griechischen Sprache abgeleitet sind, in der griechischen Antike im heutigen Sinne noch nicht gab. Aber dennoch lassen sie sich mit Theorien des Epikur in Beziehung setzen: Epikur hatte mit seiner Philosophie vor allem das Ziel, die Menschen von irrationalen Ängsten zu befreien, und solche Entängstigung kann als früher Vorläufer von heutigen psychohygienischen Maßnahmen der Klinischen Psychologie verstanden werden. Auf ähnliche Weise wie Epikur hat der Freud-Schüler Oskar Pfister mit seinem Buch "Das Christentum und die Angst" (Ullstein, Frankfurt/M., 1985) solche Bestrebungen konsequent weitergeführt, nämlich die Menschen von angstmachenden Glaubensinhalten und –praktiken des Christentums zu befreien.

Die Angst vor Naturgewalten, vor Erdbeben, vor Überschwemmungsfluten und vor sengender Dürre, vor Blitz und Donner, Wolkenbruch und Hagelschlag, Waldbrand und Schädlingsplagen, vor Seuchen und vor allem vor Krieg und Plünderung, dies alles sehr sinnfällig zusammengefasst im Bild der apokalyptischen Reiter, gehört zu den Urerfahrungen der Menschen. Epikur muss solche Ängste gut gekannt, ja vielleicht selbst erfahren und überwunden haben. Und dass real lebensbedrohliche Katastrophen zu fürchten waren, hat auch Epikur nicht bezweifelt. Es ist ganz selbstverständlich, zu versuchen, sich so gut es geht vor ihnen zu bewahren und zu schützen, und man kann Menschen dazu anleiten, solche Möglichkeiten eines "Coping", wie man es heute auf Denglisch sagt, effektiver einzusetzen. Epikur hatte aber ein anderes Ziel, ihm ging es um die Befreiung des Menschen von irrationalen Ängsten. Er hat zu diesem Zweck auch sophistische Argumentationstechniken eingesetzt, so etwa in der Auseinandersetzung mit der irrationalen Angst vor dem Totsein, im Unterschied zu der sehr wohl berechtigten Furcht vor einem elenden Siechtum und qualvollen Sterben. In seinem Brief an Menoikeus befasst er sich in den Abschnitten 124 bis 127 ausführlich mit diesem Thema, und er argumentiert in kühler Rationalität, beginnend mit dem Vorschlag: "Gewöhne dich daran zu glauben, dass der Tod keine Bedeutung für uns hat". Den darauf folgenden Gedankengang gebe ich abgekürzt z.T. mit eigenen Worten wieder: Der schließlich eingetretene Tod ist mit dem Verlust der Wahrnehmung auch von allem Schlechten, vor allem des Schmerzes, verbunden. Epikur zieht daraus die klare Konsequenz: "Das anscheinend schauerlichste aller Übel, der Tod, hat also keine Bedeutung für uns; denn so lange wir leben, ist der Tod noch nicht da, wenn aber der Tod da ist, sind wir nicht mehr da", d.h. wir leben nicht mehr und können daher nichts Negatives mehr empfinden, weil ohnehin alle Empfindungsfähigkeit ausgelöscht ist. Das ist ein gutes Beispiel für die Art des Epikur, etwas kurz und prägnant auf den Punkt zu bringen. Auch in anderen Kontexten geht es ihm darum, gründlich und scharf zu argumentieren, bis zur Klärung des Sachverhalts, zur Not auch einmal sophistisch, um den Zögernden zu überzeugen, und um ihm die Angst zu nehmen. Die Sophistik ist für Epikur kein Mittel, um im Sinne der Schopenhauerschen Eristik recht zu behalten, denn bei ihm hat das Helfen einen klaren Vorrang vor dem Rechthabenwollen. Zwar kann Epikur sehr präzise im Denken sein, vor allem ist er aber weise im Urteilen und Handeln und er ist fürsorglich im Helfen.