2.5.2.5. Götter sind vollkommen, selig, bedürfnislos und daher harmlos

Auch in seinen Bemühungen um die Aufklärung der Ursachen von Naturkatastrophen ging es Epikur weniger um das Rechthaben bei Aussagen über Sachverhalte, sondern um die oftmals auf solche Naturerscheinungen bezogenen irrationalen Ängste vieler Menschen, etwa daß diese Katastrophen von Göttern herrühren, die damit ihre eigene Übermacht demonstrieren und damit ungläubige oder andersgläubige Menschen einzuschüchtern, zu bestrafen oder schließlich zu vernichten trachten. Ich selber erinnere mich noch an die Worte meiner Mutter, die bei einem Gewitter, wenn Blitz und Donner kurz aufeinander folgten, uns Kinder in ihrem rheinhessischen Dialekt ermahnte: „ s` lieb Gottsche schennt!“ (= der liebe Gott schimpft!). Epikurs Umgang mit dem Götterglauben seiner Mitmenschen war daher zentriert auf die vermeintliche Rolle der Götter als Urheber von Naturkatastrophen. Zur Minderung und Aufhebung solcher irrationaler Ängste, man könnte modern sagen: zur Psychotherapie solcher Phobien, setzte Epikur eine Doppelstrategie ein: Als erstes versuchte er die Menschen darüber aufzuklären, dass Naturkatastrophen kein Ausfluss des Zornes der Götter seien. Das war eine riskante Behauptung, denn die Priesterschaften und auch die an der Erhaltung der Staatsräson interessierten Herrscher hatten solche Meinungen propagiert und zur Einschüchterung und Manipulation der Gläubigen instrumentalisiert. In dieser Situation fand Epikur einen genialen Ausweg: Weil er seine Mitmenschen kannte und die Grenzen ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, sich wissenschaftlich aufklären zu lassen, zu respektieren bereit war, verzichtete er auf eine atheistische Totalkritik des Götterglaubens, und zwar mit einem sehr einleuchtenden Argument, nämlich: "Wenn doch praktisch alle Menschen an Götter glauben, wird es ja wohl Götter geben". Ähnlich könnte man heutzutage sagen: Wenn bei uns fast alle Menschen Weihnachten und auch Ostern feiern, dann muss es doch auch Weihnachtsmänner und Osterhasen geben. Das leuchtet doch schon kleinen Kindern ein! Ich verstehe das Argument des Epikur als Zeichen seiner großen Menschenfreundlichkeit und Toleranz. Epikur wollte zwar (gut psychotherapeutisch) die Menschen von ihrer Angst vor den Göttern befreien, aber er versuchte nicht, ihnen zu diesem Zweck ihre altvertrauten Götter wegzunehmen. Er war also so souverän, trotz seines materialistischen Atomismus, auf den ich noch zu sprechen komme, dennoch den Glauben an Götter zuzulassen, der daran glaubenden Menschen wegen, und er plädierte auch dafür, den in der jeweiligen Gemeinde üblichen religiösen Verpflichtungen nachzukommen (Olof Gigon: Epikur - Von der Überwindung der Furcht. dtv-Bibliothek, SS. 30 und 54), eine Haltung, die Jahrhunderte später auch von Michel de Montaigne eingenommen wurde. Epikur hob aber die weiterhin zu ehrenden Götter so hoch in den Himmel, stellte sie als so vollkommen und daher selbstgenügsam hin, dass ihnen kein Interesse an einer Bestrafung oder gar Vernichtung von Menschen zugeschrieben werden konnte. Nach Epikurs Ansicht führt die Vollkommenheit der seligen Götter dazu, dass sie den Kosmos sich selbst überlassen. In ihrer Abgeschiedenheit kümmern sie sich auch gar nicht um die Menschen, weder positiv noch negativ, und daher brauchen Menschen sich vor ihnen nicht zu fürchten. Man könnte sagen: Epikur dachte die Götter so zurecht, dass sie den an sie glaubenden Menschen nicht mehr schaden konnten. Das war tatsächlich ein hohes Maß an menschlicher Souveränität dieses Philosophen!

Die Epikureische Rede von der Vollkommenheit und Bedürfnislosigkeit der Götter war natürlich eine maßlose Übertreibung, denn manche Götter hatten, bisher jedenfalls, sogar sehr starke Bedürfnisse, denen sie auch ohne Skrupel nachgaben, der Göttervater und oberste Herrscher Zeus allen anderen voran. Aber Epikur übertrieb nicht etwa in byzantinistischer Lobhudelei - zur Verherrlichung der Mächtigen im Himmel -, sondern zur Entängstigung der Menschen. Er übertrieb pädagogisch-psychohygienisch, in der richtigen Richtung also: er machte die Götter vollkommener, glücklicher und bedürfnisloser, als sie es nach geltender Meinung waren. Statt mit Hilfe von Göttern (genauer: mit der Furcht vor Göttern) den Menschen Angst zu machen, versuchte er, die Menschen von der von Priestern geschürten überflüssigen, weil irrationalen Angst zu befreien. Nur dazu hob er die Götter so hoch in den Himmel, obwohl er selber anscheinend gar nicht mehr an sie glauben mochte. Er selber hatte vielleicht gar nicht mehr so viel Anlass, über Götter und ihre Macht nachzugrübeln, aber er hatte mit seiner Argumentation doch in anderen Menschen erste Zweifel wenigstens an der Negativ-Macht der Götter zu wecken versucht.

Auch in diesem Bereich konnte Epikur sophistische, ja fast schon rabulistische Argumente vorbringen. Die Gleichgültigkeit der Götter gegenüber den Menschen begründete Epikur in seiner, wie Gigon mit Recht hervorhebt (S. 51), vielleicht berühmtesten Gedankenreihe: "Entweder wollen die Götter die Ungerechtigkeit in der Welt abschaffen und können es nicht - dann sind sie schwach; oder sie könnten es, aber wollen es nicht - dann sind sie schlecht; oder sie können es nicht und wollen es auch nicht - dann sind sie schwach und schlecht; oder sie könnten es und wollen es auch - aber warum tun sie es dann nicht? (Warum dann immer noch das Leid in der Welt?)" Besser kann man diese Problematik nicht formulieren. Epikurs Argumentation war eine erste und schon damals unwiderlegbare Kritik jeder "Theodizee", nämlich eines jeden Versuchs, insbesondere den Monotheos von der Verantwortung für die Übel der von ihm geschaffenen Welt freizusprechen, ihn im Prinzip zu rechtfertigen und an seiner Stelle die Menschen für alles Negative selber verantwortlich zu machen.