2.5.2.9. Epikur als Pluralist

Also: außer den Atomen und der Leere gibt es nichts, nach Epikur vor allem nichts, vor dem man sich fürchten müsste. Das klingt nach einem krassen, ja dogmatischen Materialismus, womit man Epikur, der ja schon als Hedonist von christlichen Kritikern zum Lüstling diffamiert worden war, ein weiteres Mal hätte ins Abseits stellen können. Zwischen den Atomen im leeren Raum hätten Gott und die Götter zwar unendlich viele Ausbreitungs-, Bewegungs- und Betätigungsmöglichkeiten, aber doch eigentlich keine eigene Existenzberechtigung. Epikur, der nicht nur klar denken konnte, sondern auch klug und urteilsfähig war, ließ sich jedoch nicht zu solch kurzem Schluss hinreißen, selbst wenn die Götter im rein atomistischen Kontext überflüssig geworden waren. Aber in seiner pluralistischen Grundeinstellung wusste Epikur nur zu gut, dass Philosophie nicht das einzig Wichtige ist, und dass ein die Menschen verbindender und im positiven Falle zur Orientierung in der Wirklichkeit dienlicher Glaube an Götter neben physikalischer und philosophischer Erkenntnis weiterhin seine eigene Existenzberechtigung behalten konnte, wohlgemerkt: die Existenzberechtigung des Götterglaubens, nicht der Götter oder gar des Gottes!

Ich könnte somit Epikur mit einer Kennzeichnung versehen, die ich gern auch für mich selbst in Anspruch nehme, nämlich ein praktizierender aufgeklärter Polytheist zu sein: praktizierend im toleranten Umgang mit Menschen, die nun einmal an Götter glauben, in unserer Zeit an Jahwe, an den Vater von Jesus, und an diesen selbst, an Allah, an einen vergöttlichten Buddha und an die vielen Götter des Hinduismus und der Naturreligionen. Aber er war auch aufgeklärt darüber, nämlich durch eigenes Nachdenken, dass Menschen keine Angst mehr vor Göttern haben müssten. Das kann damit verbunden sein - was einer bedauern mag -, dass dem aufgeklärten Polytheisten zeitlebens noch kein Gott oder eine leibhaftige Göttin oder ein heiliges Kind erschienen ist, was ja doch ein beeindruckendes Erlebnis hätte sein können. Aber solche Nüchternheit in religiösen Dingen kann schon in Kauf genommen werden, wenn jemand im Übrigen eine enge Beziehung zu seinen Mitmenschen und zur Natur hat, zu all dem, was dabei als schön, sogar als liebreizend, oder als erhaben und großartig, und im positiven und sogar negativen Sinne (als "tremendum et fascinosum") als bewundernswert erfahren werden kann.