2.5.3.3. Was für ein Mann, dieser Michel de Montaigne!

Schon die Herkunft des Michel de Montaigne ist bemerkenswert: Es heißt, dass er über die Ahnen seiner Mutter Abkömmling eines jüdischen Lumpenhändlers namens Abraham oder Meir Pacagon aus Calatayud in der spanischen Provinz Aragon war. Dessen Nachkommen gehörten als reich gewordene Kaufleute zur besseren Gesellschaft von Zaragoza am mittleren Ebro und waren mehr oder weniger freiwillig zum Katholizismus konvertiert, hätten also als "Marranen" zu gelten. Sie übernahmen den spanischen Namen Lopez de Villanueva (der Ortsname Villanueva ist in Spanien so häufig wie das gleichbedeutende Neustadt in Deutschland; in die engere Wahl als Herkunftsort käme wohl Villanueva y Geltru westlich von Barcelona), und dieser Name wurde später französisiert zu Louppes de Villeneuve. So hieß Michel de Montaignes Mutter, deren Vater, nun schon im französischen Toulouse, ein reicher Kaufmann war. Von mehreren Gelehrten war ja behauptet worden, Montaignes Mutter sei eine spanische Marranin, er selber somit in der Terminologie der Nazis ein "Halbjude" (F.-R. Hausmann in: H. Friedrich, Montaigne, Bern/München, 1967, 2. Auflage, S. 389). Jean Lacouture, dessen Montaigne-Biographie ich wichtige Informationen zur Frage der Herkunft M.s entnommen habe, bemerkt zu dieser Frage, dass Michels jüdische Herkunft mütterlicherseits als erwiesen scheine, um gleich wieder einzuschränken, dass es in der Familie Lopez schon öfters Ehen mit Christen gegeben habe. Da wäre doch zu fragen: Ehen mit echten ("reinblütigen") spanischen Christen, oder mit christlich getauften Juden (Marranen) oder mit christlich getauften Muslimen (Morisken) oder schon mit katholischen oder gar protestantischen französischen Christen? So genaue Unterscheidungen waren damals wohl nicht mehr gefragt, jedenfalls nicht in der besseren Gesellschaft der Neureichen, und auch nicht mehr in der Zeit der französischen Reformation, in der so manche religiösen und völkischen Zuordnungen ins Wanken geraten waren. Dafür ist bezeichnend, dass nach Lacouture (S. 30) Michels Mutter, Antoinette de Louppes, eher der Reformation zugeneigt war und zwei Geschwister von Michel bei ihr Unterstützung für ihre Konversion zum Calvinismus gefunden hatten.

Montaignes Vorfahren väterlicherseits, mit dem in SW-Frankreich verbreiteten Familiennamen Eyquem (von Joachim?), waren ursprünglich wohl Bauern, später in der Hafenstadt Bordeaux ansässige Händler, die mit dem Handel (auch mit Fischen, deren Geruch ihnen noch Generationen später anhaftete!) so viel Geld verdient hatten, dass sie als vermögende Großkaufleute und tapfere Gefolgsleute des Königs schließlich im 15. Jahrhundert in den Adelsstand ("Seigneur de Montaigne") erhoben wurden und durch Güterkauf Schlossherren auf Montravel an der unteren Dordogne in der Provinz Guyenne wurden (Lacouture S. 24). Sie waren damit auch Vasallen ihrer Lehnsherren, des einflussreichen Erzbischofs von Bordeaux, Jean de Foix, und des mächtigen Marquis de Trans, Germain Gaston de Foix-Candale, Schloßherr zu Fleix, dem Schloss Montravel benachbart. Beide gehörten dem berühmten Adelsgeschlecht de Foix an, das im Lande wie beim Hof in Paris den Ruf "des bedeutendsten Hauses von Guyenne" hatte.

Der Vater von Michel de Montaigne, Pierre Eyquem, Herr von Montaigne auf Schloss Montravel, war vielleicht auch durch solche Protektion politisch einflussreich und erst zum Ratsherr, dann zum Bürgermeister von Bordeaux berufen worden (Lacouture S.16). Im Dienste des französischen Königs Franz I. hatte er auf einem Feldzug in Oberitalien die italienische Renaissance näher kennen gelernt, die in ihm einen starken und bleibenden Einfluss hinterlassen hatte. In der wirren Zeit der Spätrenaissance, Reformation und beginnenden Reformationsabwehr, in der alle auffälligen Veränderungen von Denk- und Sprechweisen, von Glaubensformen und überkommener Sitte verdächtig und höchst riskant waren, plante und realisierte Pierre Eyquem ein bemerkenswertes Experiment. Von der italienischen Renaissance ermutigt, motiviert von Überlegungen humanistischer Freunde aus Italien, die wiederum wohl Gedanken von Quintilian über die Erziehung aufgegriffen hatten, leitete Pierre den wahrhaft konsequenten Entschluss ab, dass sein am 28. 2. 1533 neugeborener Sohn Michel nicht wie üblich in der Obhut seiner Mutter und ihrer Helferinnen im Schloss Montravel aufwachsen sollte. Er meinte wohl, sein Söhnchen sollte gar nicht erst von diesen Frauen verwöhnt und verzärtelt werden, er sollte gar nicht erst den schlichten Dialekt der Leute von der unteren Dordogne sprechen lernen, sollte nicht erst die Ammenmärchen und den katholischen Volksglauben dieser Zeit aufnehmen, sondern müsste so früh wie möglich nach der Geburt gleich auf die richtige humanistische Spur gesetzt werden, damit seine Entwicklung und seine Geistesbildung von Anfang an entsprechend den Wünschen des Vaters verlaufen konnte.

Zu diesem Zweck bestellte er einen ihm empfohlenen Hauslehrer, einen lateinkundigen deutschen Humanisten namens Horstanus, der später ein in Frankreich berühmter Arzt wurde, und betraute ihn mit der Früherziehung des kleinen Michel. Mit Michel in der Abgeschiedenheit eines kleinen Dorfes untergebracht, das zu den Ländereien des Schlosses gehörte, hatte Horstanus ein Team anzuleiten, neben einer Amme noch andere Bedienstete, die wie er selbst allesamt dazu vergattert wurden, schon von der Zeit an, als Michel noch in den Windeln lag, nur in lateinischer Sprache mit ihm zu sprechen, ohne auch nur ein Wort Französisch, und das durchgehalten bis in sein 7. Lebensjahr. Eine in der Tat etwas spinnerte Idee, ein Experiment mit ungewissem Ausgang, zu dem wohl keine heutige Mutter ihre Zustimmung geben würde: wo blieb dabei der positive Einfluss der mütterlichen Liebe, der familiären Nestwärme, ganz abgesehen davon, dass eine normal fühlende Mutter es heute einfach nicht ertragen und zulassen würde, ihr Kind unter solchen Bedingungen in fremde Hände zu geben! Was hätte wohl dabei herauskommen können, am ehesten doch ein exzellent Latein sprechender Charakterkrüppel! Aber es kam anders: Michel hatte wohl eine wirklich liebevolle Amme, die ihm mütterlich-herzlich zugetan war, und der Lateinlehrer Horstanus war wohl nicht nur ein Modell für die flüssige Verwendung von Latein als Umgangssprache, sondern darüber hinaus ein gebildeter und rechtschaffener Mann und wohl bald so etwas wie ein lieber und sorgsamer Vize-Vater, der dem Kind eine förderliche Lebensorientierung vermitteln konnte. Das mag es ja mal geben: dass Vize-Eltern für ein Kind sogar förderlicher sein können als die leiblichen Eltern, von denen es gezeugt und geboren wurde. Schon in der Zeit, in der er noch von seiner Amme gestillt wurde, hörte er also seine Umgebung miteinander lateinisch sprechen, und zwar nicht in einem verderbten Kirchen- oder Küchenlatein, sondern soweit möglich in der Sprache des Cicero und Tacitus, des Lukrez und Horaz, und damit im Geiste der römischen Antike. So lernte er selber wie ein Römerkind zu Zeiten des Caesar auf lateinisch plappern, in dieser Sprache kindliche Wünsche äußern und sich streiten. Was blieb ihm anders: Französisch hatte er bis ins 7.Lebensjahr nicht zu hören bekommen. Und das Wichtigste: ihm wurden offenbar über lange Zeit alle Formeln und Sprüche der christlichen Latinität vorenthalten, die ihm deshalb auch später nicht leicht über die Zunge gingen; er wuchs als ein "Heide" auf, der sich dieses Heidentum nicht wie viele andere und spätere im Aufbegehren gegen elterliche Christlichkeit ertrotzt hat, sondern es quasi mit der Ammenmilch und als römisch erzogenes Kleinkind ganz naturwüchsig erworben hat, als das für ihn in seiner Welt Selbstverständlichste.

Ich möchte hier eine kurze Überlegung einschalten: Könnte es nicht sein, dass man im Regelfall mindestens zwei, eher sogar drei Generationen braucht, um von einem zunächst noch selbstverständlichen christlichen Glauben so weit loszukommen, dass keine wesentlichen Elemente des Christentums mehr zu erkennen sind? Man benötigt wohl drei Generationen, um die jüdisch-christlich-islamische Kombination von Drohungen und Verheißungen nicht mehr ernst zu nehmen, um die tiefe Ambivalenz von irrealer Angst und irrealer Hoffnung aufzugeben, und um damit aufzuhören, den Monotheos durch Umdeutungen oder bloß umkehrende Gegensatzbildungen zu ersetzen und damit doch zu bewahren. Denn Loslösungsversuche in der ersten und manchmal auch noch in der zweiten Generation enden leicht in billigen Kompromissen oder in - von einem selber nicht erkannten - Abwandlungen dessen, das man eigentlich loswerden wollte: da wird etwa die katholische Kirche kritisiert, aber am Gotteswort (am Wort ihres Gottes) in der Bibel festgehalten; da wird die Bibel als jüdisch kritisiert, besonders das Alte Testament, aber ein "arisierter" Jesus gegen "die Juden" ausgespielt und verteidigt. Aber er war ein Jude wie seine Jünger und wie die ihn kritisierenden "Schriftgelehrten und Pharisäer"! So ist auch Friedrich Nietzsche, wie wir noch sehen werden, bei aller Kritik am Christentum ("Gott ist tot!") ein Pastorensohn geblieben: er hat altgriechische geistige Positionen in sein Denken aufgenommen, aber den Auserwähltheitsglauben beibehalten, nur diesmal bezogen auf den Übermenschen und dessen Gefährten. Und Karl Marx hatte eine durch und durch christlich inspirierte Hegelsche Philosophie "vom Kopf auf die Füße gestellt", dabei aber wiederum den Glauben an ein auserwähltes Volk, hier die Proletarier aller Länder, und eschatologische Erwartungen einer neuen und besseren Welt beibehalten. Schließlich ersetzten die Nazis die von ihnen verteufelten Juden durch die "Arier", aber auch sie verzichteten nicht auf Auserwähltheit eben dieser "Hochrasse", und ihr Gelobtes Land verlegten sie in den "Deutschen Osten", tatsächlich also nach Polen und Russland. Ich kannte bei mir selber die Versuchung, den ägyptisch-jüdisch-christlichen Monotheos für mich zu retten, indem ich versuchte, ihn auf die Aspekte zu begrenzen, die ich dennoch als positiv einschätzte, etwa auf seine vermeintliche All-Güte (unter Eliminierung seiner Allmacht), auf den jesuanischen revolutionären Impetus (unter Vernachlässigung der konservativ-reaktionären Seiten desselben Jesus). So etwas konnte nicht gut gehen: wer das zu ersetzende gleichzeitig zu korrigieren, zu retten und zu behalten versucht, bleibt daran gebunden. Nur ein Neuanfang bietet die Chance, von den alten Orientierungen loszukommen. Meine Kinder werden es vielleicht einmal leichter haben: schon jetzt fangen sie wie auch andere Gleichaltrige an, mit ihrer Aufmerksamkeit abzudriften, wenn jemand in einer Diskussion sich ernsthaft mit dem Christentum auseinandersetzt - es interessiert sie kaum noch, so "heidnisch" sind sie schon aufgewachsen.

Zurück zu Montaigne. Er hatte offenbar einen guten Start: Auf der Basis der durch Lateinlehrer und Amme maßgeblich bestimmten ersten Lebensjahre, schon als Kind des Lateinischen kundig in Wort und Schrift, im Geist des Humanismus erzogen, war ein intelligenter und tüchtiger junger Mann herangewachsen, der in einer total christlich (katholisch oder protestantisch) bestimmten Umwelt - kein Christ ist! Das Experiment war also zunächst gelungen. Auf der von seinem Vater präparierten Grundlage entwickelte sich Michel Eyquem, wie er zunächst noch hieß, in allen möglichen Hinsichten ganz positiv: gut gebildet an Leib und Seele, sprachenkundig (er zitiert gern lateinische Sentenzen, schreibt später in brillantem Stil auf französisch), tapfer im Kampf, beliebt bei Frauen, später treusorgend als Ehemann und Vater einer Tochter, durch Reisen in umliegende Länder in der Welt erfahren, erfolgreich als Bürgermeister einer damals schon bedeutenden Stadt (Bordeaux). Bei all dem hatte er nicht seine ersten Lebensjahre in ländlicher Umgebung vergessen. Dass M. auf dem Lande aufwuchs, und nicht auf dem Herrensitz der Montaignes, hatte auch sein Gutes: M. hatte zeitlebens, und ganz besonders als Bürgermeister von Bordeaux, Verständnis für die Nöte und Anliegen der kleinen Leute, bei denen er aufgewachsen war und die er lieben gelernt hatte - nicht nur die Müllertöchter und Bäckermädchen, denen er sich in amourösen Abenteuern widmete, sondern auch die, die zur Sicherung ihrer von Armut bedrohten Existenz berechtigte Forderungen vorzubringen hatten und in M. einen klugen Fürsprecher fanden. Zeitlebens blieb er mit dieser Herkunft verbunden und wurde von seinem Biographen Lacouture gern "der Gascogner" genannt.

Pierre Eyquem hatte mit seinem Sohn Michel viel vor: Nach der in humanistischem Geiste angelegten Frühförderung seines Sohnes vermittelte er ihm die standesgemäße Ausbildung eines Edelmannes auf einer der sogenannten Adelsakademien, dem College de Guyenne (1539 - 1546, nach H. Friedrich, S.14). Hier ist festzuhalten, dass Pierre Eyquem, selber noch katholisch, aber tolerant gegenüber den Reformierten und Freund der Humanisten, mutig genug war, den schottischen Gelehrten George Buchanan auf seinem Schloss aufzunehmen, nachdem dieser seine Stellung am College de Guyenne wegen reformatorischer Tendenzen verloren hatte (Lacouture S. 27). Für das Studium seines Sohnes in Paris stand Pierre Eyquem vor der Wahl zwischen der eher konservativen, kirchlich bevormundeten und allein lateinisch unterrichtenden Sorbonne und dem fortschrittlicheren College der "Lecteurs Royaux" und entschied sich für das letztere (Lacouture S. 41). Es war 1530 auf Initiative von Franz I. errichtet worden und verwendete auch Hebräisch und Griechisch als Unterrichtssprachen, was neben der Bibel auch die "Quellen der Häresie" erschließen half. In ihm wirkten ruhmvolle Gelehrte, so Pierre de la Ramee, genannt Ramus, der als erster sich die Freiheit nahm, seine Vorlesungen in "gemeinem" Französisch zu halten und der es wagte, seine Sympathien für die Reformation offen zu bekunden - diese Haltung sollte ihm später das Leben kosten. Ein anderer herausragender Gelehrter war Adrien Tourneboeuf, genannt Turnebus, der als bedeutender Kommentator der lateinischen und griechischen Klassiker, vor allem des Sokrates und des Plutarch, dem Michel de M. die Türen zur Welt der Antike und damit auch zum Humanismus öffnete. Wahrscheinlich war er darüber hinaus auch ein menschliches und literarisches Vorbild für M.: Turnebus galt als der beste Lehrer Europas und erlaubte sich in seinen Vorlesungen, wie später auch M. in den Essais, viele Abschweifungen und freimütige Äußerungen (Lacouture, S. 41 f.).

Mit dem Studium der Rechtswissenschaften in Paris verfolgte M. ein vom Vater klar vorgegebenes Ziel: seine Vorbereitung auf die Herausforderungen eines Lebens im Dienste des Staates und der Gesellschaft, auf eine glänzende Karriere als Politiker (Lacouture, S. 40). Vielleicht erwartete Pierre Eyquem von seinem Sohn, dass dieser zusammen mit Anderen die Herausbildung des Nationalgedankens vorantreiben sollte, unterstützt durch eine Öffnung des königlichen Hofes und durch das Engagement auch von mittleren und niederen Landadligen (ebd. S. 50). Um selber diese Ziele erreichen zu können, war es für Michel - ganz im Sinne seines Vaters - wichtig, in den Hof Heinrichs II. eingeführt zu werden. Selber in der vierten Generation Schlossherr auf Montravel, konnte Michel auf das Ansehen und den Einfluss eines Freundes, mächtigen Nachbarn und zugleich Lehnsherrn seines Vaters bauen, des Marquis de Trans. Der Marquis war ein hochgeachteter Offizier und ein vom König geschätzter Politiker, den er in den königlichen Rat aufnahm und mit diplomatischen Missionen betraute (Lacouture S.32, S.50 f.). Dieser einflussreiche Mann blieb zeitlebens dem Michel de M. gewogen, so dass Michel ihn während seiner politischen Karriere zu einem seiner wichtigsten Beschützer und Verbündeten zählen konnte. M. selber brachte für das Erreichen seiner Ziele gute Startbedingungen mit: Da war in Michel ein Adliger herangewachsen, der fließend Latein sprechen (und dazu noch lesen und schreiben) konnte wie ein alter Römer, an den Briefen des Cicero geschult. Das war schon etwas Besonderes in einer Zeit und Gesellschaft, in der es häufig noch die Priester waren, die für des Schreibens und Lesens weniger kundige Fürsten Verträge aufsetzen und beurkunden mussten (bei Schenkungen mit kleinen Formulierungshilfen zu Gunsten der Alleinseligmachenden Katholischen Kirche!). Michel kam wie gerufen, wenn es um die Ausdeutung und politische Umsetzung alter Urkunden ging, um die erbliche Nachfolge, um das Anrecht als Thronerbe, um erheiratete, als Lehen gegebene, eroberte, "geschenkte", geteilte und wiedervereinigte Besitztümer an Land und Leuten, auch um die politischen Konsequenzen des alten katholischen und des neuen protestantischen Glaubens. Für Rollen solcher Art hatte ihn sein Vater ausersehen, aber was Michel mit diesem Lebensentwurf selber machte, war seine eigene Sache, und er nahm dies wirklich selbst in die Hand.

Von wohl entscheidender Bedeutung für die geistige Weiterentwicklung des jungen M. war es, dass er 1558 den nur drei Jahre älteren Etienne de La Boetie (1530 - 1563) als einen Bruder im Geiste und Freund fürs Leben kennen lernte. La Boetie stammte aus einer Familie gemäßigter Katholiken und verfasste schon in jungen Jahren (1546 oder 1548, also 16- oder eher 18-jährig) eine Streitschrift mit dem kämpferischen Titel "Le discours de la servitude volontaire" (deutsch: "Über freiwillige Knechtschaft"). Er nimmt darin Anregungen antiker Autoren wie Demosthenes, Seneca und Tacitus auf. Montaigne hält auch für möglich, dass ein Hinweis des Plutarch das Thema für diese Abhandlung geliefert hätte: die Bewohner Asiens seien Sklaven eines Alleinherrschers, weil sie eine einzige Silbe, nämlich "nein", nicht aussprechen konnten (S. 86). Es wird aber angenommen (Lacouture S. 90), dass diese "denkwürdige Abhandlung" als eigentlichen Anlass den Martertod des von La Boetie verehrten Gelehrten Anne du Bourg hatte. Dieser große Verteidiger der Meinungsfreiheit hatte die Unterdrückung der Protestanten öffentlich angeprangert und damit gewagt, den dafür mitverantwortlichen König zu rügen, und hatte dies mit dem Tode bezahlt. La Boetie zielt in seinem Pamphlet aber nicht so sehr auf die Tyrannen, und weiß sogar das französische Königshaus geschickt zu schonen, sondern prangert (wie ganz ähnlich später Montaigne) die Widerstandslosigkeit, ja die willige Unterwerfung der Regierten an, die sogar "wollüstige Bereitschaft, mit der sie sich jeder Despotie hingeben...Das Volk stürzt sich in die Knechtschaft, es setzt sich selber das Messer an die Kehle, es gibt seine Freiheit auf, greift nach dem Joche" ... Die einfachen Menschen erdulden die Räubereien, die Geilheit, die Grausamkeit eines Einzigen, und dies, obwohl der Tyrann auch nur ein Mensch ist, der wie alle Menschen "nur zwei Augen, nur zwei Hände, nur einen Leib" hat, nur "ein einziges Männchen" ist. Er bezieht seine Macht also nur von den Unterdrückten selbst, die er wiederum gegen eben diese einsetzt. Sie bräuchten ihm diesen Dienst nur zu verweigern: "Entschließet euch, nicht mehr zu dienen, so seid ihr frei". La Boetie ist damit ein früher Vorkämpfer für den zivilen Ungehorsam und für den passiven Widerstand, wie ihn sehr viel später in Indien Mahatma Gandhi gegen die englische Oberherrschaft eingesetzt hat (Lacouture S. 84 - 90). Es soll schon hier darauf hingewiesen werden, wie M. in seinen eigenen Essais nachträglich mit dieser hochbrisanten Streitschrift und ihrem mutigen Autor umging, und zwar gezwungenermaßen etwas weniger offen als dieser. In dem Kapitel 28 im I. Buch ("Über die Freundschaft") kommt M. gleich (S. 99) auf Etienne de La Boetie und seinen Traktat zu sprechen, und nach wenigen Sätzen über die Freundschaft mit ihm geht er ausführlich auf Freundschaften im allgemeinen ein. Erst am Ende des Kapitels kommt er, in tiefer Trauer über den Tod seines Freundes, noch einmal auf dessen berühmte Abhandlung zurück: "Aber hören wir ein wenig meinem Freund selber zu, diesem jungen Mann von damals sechzehn Jahren!" und natürlich erwartet der Leser, dass dann zumindest einige Zitate aus der Abhandlung folgen. Stattdessen: eine Leerzeile ausgefüllt mit Strichen,

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eine bedeutungsschwere und vielsagende Leerstelle, in der man das von der (Selbst-)Zensur Unterdrückte lange suchen und intensiv vermissen kann. Selbst im Verschweigen ist M. beredt; man kann ein so ausdrückliches Nichtzitieren des gerade Angekündigten kaum überlesen! Und dann folgt M.s Kommentar: "Da ich entdecken musste, dass seine Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft inzwischen in böser Absicht von denen veröffentlicht worden ist, die unsere gesellschaftliche Ordnung durcheinander bringen und verändern wollen... und dass diese Leute das Werk mit Schriften aus ihrer Giftküche vermengten, habe ich auf meinen Plan verzichtet, es hier zu bringen. Damit das Andenken des Verfassers aber bei denen keinen Schaden erleide, die sein Sinnen und Trachten nicht aus der Nähe kennen lernen konnten, weise ich sie darauf hin, dass das Thema von ihm in seiner Jugend (!) lediglich (!) als eine Art (!) Übung (!) abgehandelt wurde, da es allbekannt (!) und in den Büchern an tausend Stellen (!) bereits (!) durchgedroschen (!) war" (H. Sch.: die Ausrufezeichen habe ich nachträglich hinzugefügt). Welch achtfache Verharmlosung einer echten Streitschrift! Aber er hat sie so übertrieben, dass sie schon deshalb als bloße Pflichtübung erkennbar ist.

In diesem Kapitel rühmt M. also den Autor, weist ausdrücklich auf seine Schrift hin, fühlt sich dann aber doch genötigt, sie nicht an dieser Stelle wiederzugeben und tut dies seinen Lesern sehr deutlich kund, macht sie sogar neugierig, die Schrift selber ausfindig zu machen und zu lesen. Zur Absicherung beeilt er sich, die Schrift mit mehrfachen Verharmlosungen als wirklich nicht gefährlich hinzustellen. Er wollte damit verhindern, mit den regimekritischen Protestanten identifiziert zu werden, die das Werk des La Boetie inzwischen unter dem unter dem noch revolutionärer klingenden, nach Montaignes Einschätzung "sehr zutreffenden" (S. 99) Titel "Contr'un" ("Gegen Alleinherrschaft") für ihre Auseinandersetzung mit dem katholischen Königshaus eingesetzt hatten. Übrigens ist Contr'un die kürzeste Formulierung für mein eigenes Anliegen, und jedenfalls besser als Antimon'! Ich sollte noch ergänzen, dass M. seinem sterbenskranken Freund Etienne freundschaftlichen Beistand bis zu dessen Tod (1563) geleistet hatte, und dass La Boetie wiederum seinem Freund Michel eine Bibliothek von über 1000 Bänden mit u. a. klassisch griechisch-römischer Literatur vermacht und überlassen hatte, deren prägender Einfluss auf M.s eigenes literarisches Werk kaum überschätzt werden kann. Dies gilt vor allem für das Werk des Plutarch, dessen von La Boetie angefertigte Übersetzung von M. ausgiebig in seinen Essais genutzt wurde. H. Friedrich weist darauf hin (S. 73), dass die Spuren seiner Plutarch-Lektüre von den ältesten bis zu den letzten Essais nachweisbar seien. Villey habe rund 500 Entlehnungen gezählt, eine sehr große Zahl verglichen mit den knapp drei Dutzend Zitaten aus dem jüdisch-christlichen Bereich. Die von La Boetie geerbten und andere Bücher waren in der Bibliothek im Turm des Schlosses Montravel über 25 Jahre lang für M. zum Studieren und Nachschlagen verfügbar, vor allem seit er, etwa neun Jahre nach dem Tod seines Freundes Etienne, selber mit der Arbeit an den Essais begann. So weit zur Entwicklung seiner geistigen Orientierung. Zu klären bleibt, welche Position M. in der politischen Praxis entwickelte.

Wie andere Franzosen musste auch M. mit der politischen Situation in Frankreich, wie er sie vorfand, irgendwie zurecht kommen, selbst wenn er später Möglichkeiten hatte und auch nutzte, sie selber mitzugestalten. Damit die damalige politische Lage von uns besser verstanden werden kann, ist es wohl nützlich, sie wenigstens in ihren Grundzügen und in ihrem geschichtlichen Verlauf grob zu umreißen. Vorweg dabei zu bedenken ist die seit Beginn der Reformation erfolgte Teilung Frankreichs nach der katholischen vs. calvinistisch-protestantischen Konfession der Bevölkerung und z. T. unabhängig davon der Herrscher. Für M. war dabei relevant, dass das Schloss Montravel, in dem er geboren wurde und die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, und die nahegelegene Stadt Bordeaux, der er als Bürgermeister vorstand, in konfessioneller Hinsicht quasi zu einem Brackwasserbereich gehörten, in dem sich das Süßwasser der Flüsse und das Salzwasser der Flut und der Brandung des Meeres mischte: Bis in die Gemeinden und sogar Familien war diese Gegend konfessionell gemischt, und sie war außerdem im Schnittpunkt von religiösen Einflussnahmen aus dem katholischen Zentrum und NO Frankreichs mit Fernwirkungen sogar aus dem katholischen Spanien, und andererseits von Einflüssen aus dem protestantischen Südwesten, unterstützt von den Glaubensbrüdern in der Schweiz, in Deutschland und im anglikanischen England. Diese verschiedenen Einflüsse kamen in Montaignes Heimat miteinander in Kontakt und Diskussion, konnten einander sogar in Grenzen neutralisieren.

Insgesamt war aber die politische Lage in Frankreich durch die erheblichen Spannungen zwischen konfessionell verschiedenartigen Bevölkerungsgruppen bestimmt, gesteigert bis zu den zumindest religiös gerechtfertigten, wenn nicht sogar religiös angestachelten Bürgerkriegen, verbunden und fast untrennbar vermischt mit den Erbfolgestreitigkeiten um die französische Krone, die in der Konkurrenz und schließlich im erbitterten Kampf der "drei Heinriche" um den Königsthron kulminierten. Man fühlt sich dabei an die alten Geschichten erinnert, an Kain und Abel, Jakob und Esau, Joseph und seine Brüder, David bzw. Salomo und ihre Konkurrenten: Überall dort, wo die patriarchalische Erbfolge festlegt, dass nur ein Sohn, meist der Älteste, praktisch aber der schließlich am Leben bleibende Sohn, die Nachfolge des Vaters antritt bzw. dass der nächste männliche Verwandte den Thron oder die Führerrolle erbt, überall dort muss es Erbschleicherei, Betrug und Heimtücke, Brudermord und Totschlag geben, als gelte ein "Erstes Gebot": "Ich bin der erste und einzige Nachfolger des Alleinherrschers und es soll keinen Nachfolger neben mir geben", so auch im Frankreich dieser Zeit.

Am Anfang schien noch alles klar zu sein: Heinrich II., König von Frankreich, heiratete 1533 (in dem Jahr, in dem M. geboren wurde) Katharina von Medici. Sie hatten vier Söhne. Der älteste, Franz II., regierte nach dem Tod seines Vaters (1559) nur ein Jahr, bis er selber 1560 früh verstarb. Ihm folgte sein zu dieser Zeit 10jähriger Bruder als Karl IX., der bis 1563 unter der Vormundschaft seiner Mutter stand, die als Regentin ihn vertrat. Sie war dabei bestrebt, ihre persönliche Stellung und die Herrschaft des Hauses Valois (also ihrer Söhne) zu behaupten und die Einheit Frankreichs zu sichern. Dazu war es nützlich, im Streit der Konfessionen ein gewisses Gleichgewicht herzustellen. 1565 hielt ihr Sohn Karl IX. in Bordeaux, von ihr und von dem Kanzler Michel de L'Hospital begleitet, die denkwürdige Rede, in der er die Ratsmitglieder nachdrücklich daran erinnerte, dass die Politik des Königshauses gegenüber den Reformierten von Toleranz bestimmt war und bleiben würde (Lacouture S. 117). Nach dem Tod Karls IX. 1574 gelangte der zweitjüngste Sohn als Heinrich III. auf den Thron, und damit begann der Streit der "drei Heinriche" um die Herrschaft in Frankreich.

Die "drei Heinriche" waren in ihrer Jugend noch eng miteinander befreundet, und sie waren ohnehin durch vielfältige verwandtschaftliche Beziehungen miteinander verbunden. Bezogen auf ihre gemeinsame Zeit am College de Navarra gegen Ende der 60er Jahre zitiert Lacouture (S. 274): "Diese drei Heinriche waren in ihrer Jugend so eng miteinander befreundet, dass sie nicht nur dieselben Neigungen, sondern auch dieselben Vergnügungen hatten; und sie waren einander so außerordentlich zugetan, dass es während ihres Aufenthalts am College nicht die kleinste Streitigkeit zwischen ihnen gab". Aber mit zunehmender Macht im je eigenen Bereich strebten sie später um so mehr auch nach der Macht in ganz Frankreich. Alle drei hatten oder erhoben Anspruch auf die französische Krone und kämpften dann erbittert gegeneinander um die Macht: in Paris Heinrich III. (der "Valois"), dem die Einheit des französischen Staates wichtiger war als die konfessionellen Unterschiede und der zunächst die konfessionell tolerante Politik seiner Mutter weiterzuführen suchte; in Nerac in der Provinz Guyenne war es der Herzog Heinrich von Bourbon, König von Navarra, Verbündeter und schließlich Führer der Protestanten in SW-Frankreich; und in Ostfrankreich war es Herzog Heinrich "der Narbige" von Guise, Anführer der katholischen Heiligen Liga, der Anspruch auf den Thron erhob. Als er es fast geschafft hatte (1588), ließ König Heinrich III. ihn und seinen Bruder, den Kardinal von Reims, Ludwig von Lothringen, umbringen. Heinrich III. wiederum wurde wenig später (1589) von einem Dominikanermönch ermordet. Sein Nachfolger wurde König Heinrich von Navarra, Herzog von Bourbon, als König von Frankreich dann Heinrich IV. genannt. In diesen Morden kulminierte und mit diesem Ergebnis endete der angesichts des in männlicher Linie aussterbenden Geschlechts der Valois noch verschärfte Streit der "drei Heinriche" um die Nachfolge und Königsherrschaft in Frankreich.

Welche Position nahm Montaigne in diesem dreipoligen Kraftfeld ein? Es waren sogar mehr als drei Parteien, denn neben den "drei Heinrichen" waren in unterschiedlichen Koalitionen noch die Spanier und die Engländer, der römische Papst und die Protestanten in der Schweiz und in Deutschland mit im Spiel. M. selbst war schon seit seiner Geburt gewohnt, sich in einem Niemandsland zwischen den Fronten aufzuhalten und sich dort sogar heimisch zu fühlen: der Herkunft nach halb Halbjude, halb Christ, selber erst humanistisch-unchristlich aufgewachsen, später christlichen, und zwar katholischen und protestantischen Einflüssen ausgesetzt, in seinem eigenen Denken halb ein Atheist, halb ein toleranter Verteidiger verschiedener Spielarten des Glaubens an die Götter in aller Welt. Auch geographisch gesehen befand er sich zeitlebens mit nur wenigen Unterbrechungen mitten in dem Bereich, den ich als "Brackwasser-Zone" zwischen den verschiedenen religiösen und politischen Einflussgebieten bezeichnet hatte. Er konnte sich daher weder den kriegerischen Auseinandersetzungen entziehen noch den Streitigkeiten um die rechtmäßige Thronfolge und um den rechten Glauben. Falls M., wie Lacouture mit dem bezeichnenden Titel seines Buches ("Montaigne a cheval") es als gesichert annimmt, ein Ritter, ein guter und tapferer Soldat war, dann ist zu fragen: für wen und in wessen Armee kämpfte er gegen wen? Für welchen Thronprätendenten setzte er sich in der Auseinandersetzung um die Thronfolge ein, welche Partei oder Konfession unterstützte er im erbitterten Kampf um den rechten Glauben? Bevor ich die Gelegenheit nutze, unter Bezug auf seine "Essais" den Autor M. selbst zu fragen, will ich kurz wiedergeben, was sein Biograph Lacouture an eher dürftigen Belegen zu diesen Fragen zusammengetragen hat.

Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass schon die Königinmutter Katharina von Medici, Ehefrau von König Heinrich II. von Frankreich, große Stücke von M. hielt, und dass M. selber diese Unterstützung mit beständiger Loyalität ihr gegenüber dankte. Donald Frame stellte sogar die These auf, "die Essais seien im Grunde genommen ein Plädoyer für ihre Politik des Gleichgewichts, die letzten Endes auf Versöhnung abzielte"(Lacouture S. 285). M. hatte auch eine hohe Achtung vor Politikern und Männern des Friedens wie dem Kanzler Michel de L'Hospital (Lacouture S. 126), den er schon vor dessen Kanzlerschaft kennen gelernt hatte. Es kam zu einer Freundschaft zwischen diesen Männern, "die zu den klügsten und tapfersten ihrer Zeit gehörten, die jedenfalls mehr als alle anderen in der Lage waren, den Schrecken entgegenzuwirken, die der Fanatismus, zu dessen hellsichtigsten Gegnern sie gehörten, über das Land bringen sollte"(Lacouture S. 52).

M. selbst trat bei der Ausübung öffentlicher Ämter wie bei seinen vielen politischen und diplomatischen Missionen stets gemäßigt auf und bemühte sich, einen Ausgleich zwischen den streitenden Parteien zu erzielen, und er galt als ein ehrlicher Makler, allerorten und zu jeder Zeit im Dienste des Gemeinwohls (S. 103 f.). In einigen seiner Essais erscheint er als Wortführer im Streben nach Toleranz, der zwischen den gegnerischen Lagern vermittelnd hin und herritt, was von Lacouture im französischen Originaltitel "Montaigne a cheval" seines Buches betont wird. Zu einer solchen Reise im Dienste des Königs wurde M. nach den Protokollen des Parlaments von Guyenne ausdrücklich von seinen Aufgaben bei Gericht entbunden. Auch in der Frage der Thronfolge wurden die nützlichen Dienste des M. von allen Seiten in Anspruch genommen. So agierte M. viele Jahre als Berater und als Vermittler zwischen den von Mord bedrohten und selber mörderischen "drei Heinrichen": Montaigne war dem König Heinrich III. von Frankreich, aus dem Geschlecht der Valois, Sohn von Katharina von Medici, treu ergeben, auch wenn er ihn wegen seiner Charakterschwäche und Günstlingswirtschaft eigentlich nicht mochte, wohl auch weil der König später "immer tiefer in eine verderbliche Frömmigkeit sank". Aber immerhin hatte der König aus einem schon modernen Staatsbewusstsein heraus die Grundlagen für eine Staatsverwaltung geschaffen, von der noch seine Nachfolger profitierten (Lacouture S. 270). In M.s Einschätzung standen allerdings die beiden anderen Heinriche, Heinrich von Navarra und Heinrich von Guise, weit über Heinrich von Valois. Den Herzog Heinrich von Bourbon, König von Navarra "umgibt strahlender Ruhm...Seine Worte, seine Taten, seine Kehrtwendungen, seine Siege, seine Liebschaften, seine Beharrlichkeit in allen Schicksalsprüfungen, seine Großzügigkeit in der Stunde des Triumphs, sein Ruf als Reformer,... - alles trägt dazu bei..."(Lacouture S.270). Seine Eltern, Anton von Navarra und Johanna von Albret, hatten sich zur Reformation bekannt und waren mit ihrer ganzen Familie zum Kalvinismus konvertiert, wobei Heinrichs Mutter wohl die treibende Kraft war (S. 92). Der junge Fürst, Heinrich von Navarra, heiratete mit 19 Jahren unter politischen Zwängen Margarete von Valois, die Schwester von König Franz I. (S. 270). Ähnlich positiv sieht M. auch Heinrich von Guise, mit dem Beinamen "der Narbige", den er auf Grund einer Kriegsverletzung erhielt. Sein religiöser Fanatismus und seine Rücksichtslosigkeit nehmen ihm nichts von seiner Größe. Er erwies sich als geschickter Taktiker, scheute sich nicht vor großen Entscheidungen und zeigte sich in einzelnen Fällen von einer Großmütigkeit, der auch M. einiges zu verdanken hatte (Lacouture S. 272). So war M. "zwischen Guelfen und Ghibellinen" hin und hergerissen, das heißt einerseits dem Druck der Ersten Katholischen Liga unter Heinrich von Guise, andererseits dem der Hugenotten aus der Garonne unter deren König Heinrich von Navarra ausgesetzt, wobei M. eher einer abwägenden Pragmatik, einem bündnisübergreifenden ,- allumfassenden und damit praktisch "katholischen" - französischen Nationalismus des König Heinrich von Paris verpflichtet war, selber eher ein Weltbürger zwischen den Fronten.

Wie schaffte es M., als ein in christlicher Umgebung als "Heide" aufgewachsener Mensch, der sich in seinen Essais deutlich genug als Freigeist zu erkennen gegeben hat, sein Leben lang in Freiheit zu bleiben und einer hochnotpeinlichen Inquisition zu entgehen? Wie gelang es ihm, eines natürlichen Todes zu sterben, statt durch einen lodernden Scheiterhaufen schon vor der Zeit gewaltsam zum Tode befördert worden zu sein? Einen gewissen Schutz bot ihm wohl schon, dass er als Schlossherr einflussreich und vermögend war, und auf die Unterstützung durch den Adel und die bürgerlichen Stände rechnen konnte, die ihn ja auf das Amt als Bürgermeister von Bordeaux berufen hatten, als er gerade in Italien auf Reisen war. Er hatte auch gute Beziehungen zum Königshaus in Paris, gleichermaßen auch zu dem von Navarra, und er hat sicher auch einiges dafür getan, sich solcher Unterstützungen zu versichern. Vor allem aber vermied M. es bis ans Ende seines Lebens, sich mit der katholischen Kirche seines Landes anzulegen und sie direkt anzugreifen: nach außen hin als ein praktizierender Katholik vertrat er auch in seinen Essais immer dann eine konservative Haltung, wenn es im Text - selten genug - einmal um die katholische Religion und Kirche ging. Er war klug genug, die katholische Kirche als mächtige Institution zu respektieren und empfahl dies sogar seinen Lesern. Er bekannte sich an solchen Stellen sogar ausdrücklich zum katholischen Glauben und wandte sich kritisch gegen die Reformation und deren Anhänger. Aber wie wir noch sehen werden, war dieses Bekenntnis nicht ganz ehrlich. Es ist bemerkenswert, welche Täuschungsmanöver nach außen M. einsetzen musste, um im Gespräch mit sich selbst und mit verlässlichen Freunden dann doch redlich, wahrhaftig und ehrlich nicht-christlich reden zu können, und um solche Gedanken auch noch schriftlich festhalten und veröffentlichen zu können. Manche dieser Täuschungsmanöver waren leicht zu durchschauen. So gab es in seinem Arbeitszimmer für jeden Besucher lesbar einige "christliche" Inschriften an den Deckenbalken, wenn auch, wie ganz verstreut in seinen Essais, eher Zitate aus dem alttestamentarischen Buch Kohelet (gr. Ekklesiastes = Prediger), die in ihrem Inhalt eher nicht-jüdisch und damit auch nicht christlich, sondern hellenistisch sind, und etwa angesichts der Kürze des menschlichen Lebens ("nur ein Windhauch") den irdischen Lebensgenuss empfehlen.

Ich will zum Schluss dieses Abschnittes versuchen, genügend deutlich zu machen, dass M. allen Anlass hatte, in seinen auf das Christentum bezogenen Äußerungen sehr vorsichtig zu sein. Die schlimmen Folgen der Inquisition für Leib und Leben mutiger Geistesgrößen können an zwei Fällen demonstriert werden, an zwei Opfern dieser kirchlichen GPU, von denen der eine schon in der Jugend von M., der andere nur wenige Jahre nach M.s Tod auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Der erste: Etienne Dolet (1509 - 1546), ein französischer Humanist, hatte 1538 in Lyon eine Buchdruckerei gegründet und mit diesem neuen Medium zeitgenössische Autoren wie den unverschämt-freimütigen F. Rabelais veröffentlicht. Darüber hinaus übersetzte, kommentierte und veröffentliche er antike Autoren (u.a. Cicero, Terenz). Etwa 35jährig wurde er am 3.8.1546 in Paris "wegen Verbreitung häretischer Schriften" zum Tode verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein humanistisches Engagement und eine geistige Öffnung gegenüber den neuen Ideen konnte in dieser Zeit das Leben kosten, und das musste schon dem jungen M. klar bewusst sein. Der zweite: ebenso wie Dolet erging es später dem italienischen Humanisten Giordano Bruno, geboren 1548, also 15 Jahre jünger als Montaigne. Bruno war zunächst (seit 1563) Dominikaner in Neapel, musste sich dann 1576 einer Anklage wegen Ketzerei durch Flucht ins Ausland entziehen, fiel aber 1592 (im Todesjahr von M.!) in Italien doch in die Hände der Inquisition und wurde nach siebenjähriger Gefangenschaft im Jahre 1600 verbrannt. Auch er war in den antiken Schriften belesen (u. a. Lukrez), auch er war kritisch gegenüber der scholastisch dominierten Philosophie und Naturauffassung seiner Zeit. Er sah das Universum als unendlich an und nahm an, dass die Materie die Basis für einen zyklischen Prozess von Weltentstehung und Weltvergehen sei. Im Widerspruch zur herrschenden Lehre der katholischen Kirche vertrat er die Auffassung, dass die Sonne (und nicht die Erde!) Zentrum unseres Planetensystems sei. Seine Kosmologie hatte Konsequenzen auch für die Anthropologie, insofern als er den Menschen als Mikrokosmos verstand. Seine Ideen wurden später auch von G. W. Leibniz, J.G. Herder, Goethe, F. H. Jacobi und F. W. Schelling aufgegriffen. Montaigne und Giordano Bruno hätten sich auf Reisen getroffen haben können: denn Bruno lehrte auch in Paris, und M. war auch in Rom und hatte dort den damaligen Papst aufgesucht. In seiner geistigen Orientierung war M. nicht weit von Dolet und Bruno entfernt, auch ihm hätte daher die Inquisition und der Scheiterhaufen blühen können, und er hatte allen Anlass, sich vor diesem Schicksal zu bewahren. Im Unterschied zu Dolet und Bruno gelang es M., sein theoretisches Heidentum unter einem demonstrierten praktischen Christentum zu verstecken und von der Inquisition ungeschoren zu bleiben, bis zu seinem natürlichen Tod im Jahre 1592. Wie er dies schaffte, soll uns im folgenden Abschnitt beschäftigen. Seine Essais wurden erst postum im Jahre 1676, also erst etwa hundert Jahre nach ihrer Veröffentlichung, auf den Index librorum prohibitorum gesetzt. Es bedurfte des kritischen Verstandes eines Blaise Pascal, die eigentlich unchristlichen Grundüberzeugungen von Montaigne in den Essais klarer zu erkennen.