2.5.3.5. Montaigne kennt die Welt, die Natur und den Menschen

Von den oben genannten und von weiteren Autoren ließ sich M. insbesondere über das informieren, was man als das Wissen über die Stellung des Menschen in der Welt bezeichnen könnte. In seinem facettenreichen Lebenswerk, den Essais, befasst sich M. mit den verschiedensten Wissensbereichen von den Naturwissenschaften über die Anthropologie und Psychologie bis zur Völkerkunde, Religionswissenschaft und Philosophie. Bevor ich zu meinem eigentlichen Thema, zu M.s Beiträgen zur Religionswissenschaft und Philosophie komme, will ich hier zunächst einmal auf die erstgenannten Bereiche eingehen. Sie machen in den Essais einen Großteil dessen aus, was ich als den "Teig" bezeichnet hatte: zwar nahrhaft, aber nicht besonders würzig. Aber das soll nichts gegen seine Qualität aussagen, denn M. war als naturwissenschaftlicher Autodidakt dennoch auf der Höhe seiner Zeit. Zwar hatte er sein Wissen über die Welt und den Menschen in großem Umfang den antiken Autoren entnommen, aber das war zu seiner Zeit kein Nachteil. Die Alten hatten vieles schon richtiger gesehen, als die zeitgenössischen scholastischen Gelehrten, die sich an die überaus schlichte Weltauffassung der Bibel, etwa an die Erschaffung der Welt in sieben Tagen, zu halten hatten. Neben einzelnen kosmologischen Spekulationen der Naturphilosophen, so über die Pluralität der Welten (S. 262) nahm M. auch modernere astronomische Erkenntnisse über das Universum und über die geologische Entwicklung der Erde auf, soweit sie ihm zugänglich waren. Im Einzelnen bemerkenswert ist M.s Hinweis auf Verschiebungen von Landmassen, nämlich der Insel Sizilien auf dem sie umgebenden Mittelmeer von Afrika nach Italien hin, ein früher Vorläufer der Kontinentalverschiebungs-Theorie von Alfred Wegener, die inzwischen als bestätigt gelten kann.

Sehr umfassend waren seine Kenntnisse über das Reich des Lebendigen, über die Pflanzen und vor allem über die Tiere. Besonders gut weiß M. über tierisches Verhalten und Erleben Bescheid, das er in Ansätzen so beschreiben kann, wie es in unserer Zeit die Tierpsychologen (Ethologen) zu tun pflegen. Auf dieser Grundlage ist es folgerichtig, wenn M. auch den Menschen als Glied der Natur sieht. Für M. ist der Mensch selber ein Naturwesen, den Tieren ähnlich in seinen Antrieben und in deren Einfluss auf das ganze Erleben, und er belegt dies mit einem kenntnisreichen Beitrag über das, was man heute "motivational perception" nennt (S. 281f). Auch die Sinneswahrnehmung und Motorik wird in dieser Weise vergleichend betrachtet. Was die Verhaltensweisen betrifft, die der Befriedigung der Lebensbedürfnisse dienen, hätten die Tiere dem Menschen sogar vieles voraus (S. 225). Und vor allem: wir Menschen stünden weder höher noch tiefer als die übrigen Geschöpfe (S. 227). Mit solcher Sichtweise ist M. jedoch kein biologischer Reduktionist, der etwa alles, auch das Geistige im Menschen, auf Tierisches zurückführt. M. weiß sehr wohl den Menschen in Hinsicht auf seine höchsten geistigen Vermögen (S. 270f) zu würdigen, auf sein Denken und seine Urteilsfähigkeit, aber er beschreibt auch seine geistigen Verirrungen bis in die Psychopathologie. Ausführlich illustriert M. an vielen Beispielen die spezifischen Formen der familiären Beziehungen, der Gesellung, der politischen Auseinandersetzung und der religiösen Orientierung, mit vielen Beiträgen über Sitten und Gebräuche fremder Völker und der eigenen Nachbarn. M.s Anthropologie schließt auch erkenntnistheoretische Überlegungen ein (S. 269 f.), mit Exkursen über die Sinne als Erkenntnismittel (S. 293) und über Sinnestäuschungen (S. 295), dies alles vor allem in dem umfangreichen Kapitel 12 (Apologie für Raymond Sebond) im II. Band, in dem er auf etwa 80 Seiten eine Naturphilosophie entwirft, die sich an vielen Stellen und eigentlich grundsätzlich von der scholastischen Vorlage des Autors entfernt, den er in seiner "Apologie" zu verteidigen vorgibt!

So wichtig die von M. vermittelten Kenntnisse über die Welt und den Menschen für seine Zeitgenossen waren, so hat doch das, was er im Einzelnen darüber berichtet, für uns heutige Menschen keinen besonders hohen Informationsgehalt mehr. Wir können uns darüber heute besser aus einer Zeitschrift wie "Spektrum der Wissenschaft" informieren, und wissen dann über diese Dinge viel besser Bescheid, als es M. damals möglich war. Mir ist an seinen Kenntnissen etwas anderes wichtig: es ist immer gut, wenn auch ein Religionsphilosoph den Menschen kennt und auch die Welt, in der er lebt, die Materie, den Planeten Erde, die Pflanzen und Tiere, wenn er sich über die Weltgeschichte informiert hat, vor allem aber wenn er sich in der Psychologie auskennt und wenn er in all diesen Bereichen die problembezogenen wissenschaftlichen Methoden in ihrer sachlichen Angemessenheit und fachlichen Qualität einschätzen kann, kurz, wenn er wissenschaftlich rundum gebildet ist. Das war bei M. ganz sicher der Fall, und bei vielen seiner Vorgänger und Nachfolger offensichtlich nicht. Der Autodidakt und Privatgelehrte M. ist zweifellos auf der Höhe des Wissens seiner Zeit. Was M. über Naturwissenschaft und Anthropologie wusste, war für seine Zeit ganz immens. Was M. in seinem Buch ausbreitet und seinen Lesern vermittelt, ist sogar nach heutigen Ansprüchen bemerkenswert modern und es ist "sound" im guten Sinne dieses angloamerikanischen Wortes: "gesund, gut; klug, vernünftig, stichhaltig; solide, stabil; gekonnt und ordentlich". Diese Kenntnisse sollen hier gar nicht referiert, sondern nur bewertet werden: M. erweist sich darin als über die Natur- und Menschenkunde der Antike und auch z. T. der Gegenwart voll informierter Gelehrter, und hatte damit einen deutlichen Bildungsvorsprung gegenüber den meisten anderen Autoren seiner Zeit. Er profitierte dabei gerade von seinen Kenntnissen der vorchristlichen Naturbeschreibungen und -erklärungen der Griechen und der von ihnen geistig befruchteten Römer, die ohne die Fesseln des jüdisch-christlichen Schöpfungsglaubens schon viel moderner und in vielen Hinsichten korrekter informiert waren als der durchschnittlich christlich gebildete Mensch zur Zeit des Montaigne.

Da M. selber über vieles besser Bescheid wusste als seine Zeitgenossen, können wir sein naturkundliches und anthropologisches Wissen als Kriterium nehmen für seine Informiertheit und Urteilsfähigkeit insgesamt. M. war alles andere als borniert, vielmehr war er sehr aufgeschlossen für die Fortschritte aller Wissenschaften. Vor allem aber hat er sich eine bemerkenswert sichere Urteilsfähigkeit erworben und bewahrt und das ist ihm selber so wichtig, dass er es mehrfach anspricht: "Die Urteilskraft sitzt bei mir auf dem Präsidentenstuhl..." (S. 242). Sie hat es ihm ermöglicht, aus dem Vielen, was er gehört oder gelesen hatte, dasjenige "herauszusieben", was nicht bloß individuelle Meinung oder realitätsfremder Glaube ist, sondern tatsächlich etwas mit der Welt (wie wir sie auch heute erfahren) realitätsgerecht zu tun hat, und was sie angemessen zu erfassen, zu beschreiben und zu gestalten erlaubt. Und ich könnte noch den Schluss anhängen: ... und daher wusste er wohl auch in religiösen und philosophischen Fragen in einem Mindestmaß Bescheid und in der Tat, auch in diesen Bereichen sind seine Ansichten zeitenübergreifend "modern".